Review Blind Guardian – A Twist In The Myth

Viereinhalb Jahre. Die Wartezeit zwischen den Alben ist für BLIND GUARDIAN-Verhältnisse wieder im gewohnten Rahmen, diesmal aber sogar noch ein weniger länger als sonst. Seit April 2002 und „A Night At The Opera“ ist diesmal aber auch verhältnißmäßig viel passiert. Das Blind Guardian Festival in Coburg, Thomens Ausstieg und die Einarbeitung des neuen und bisher völlig unbekannten Frederik Ehmke, der Wechsel von der eher im Weg stehenden Plattenfirma Virgin hin zu Nuclear Blast und Hansis fast schon standardmäßige Mittelohrentzündung kurz vor den Aufnahmen. Ausserdem gab es mit der „Bards Song“-Single, der „Live“-CD und der „Imaginations…“-DVD zum eigenen Festival gleich eine ganze Reihe Veröffentlichungen, die die Wartezeit ein wenig erträglicher gemacht haben. Kontrovers diskutiert wurde die bis vor dem Album letzte Veröffentlichung, die Vorabsingle „Fly“, die vielen – vor allem den alten Fans – nichts geben konnte. Doch BLIND GUARDIAN auf Schwerter, Drachen, Tolkien und eingängigen Speed Metal zu beschränken, funktioniert halt schon lange nicht mehr. So bietet „A Twist In The Myth“ unter anderem Texte über einen Wicca-Kult, Stephen Kings Dunklen Turm, Shizophrenie, Paulus/Christus und weitere, unter anderem von diversen Autoren beeinflusste Lyrics. Und auch wenn das (wunderschöne) Coverartwork mit einem Drachen aufwartet – „back to the roots“ wollen die Krefelder nicht gehen und tun das auch hier nicht.

Da sich BLIND GUARDIAN nicht selbst kopieren wollen, konnte man das so und so voraussehen und erwarten, dass man auch mit „A Twist In The Myth“ wieder überrascht wird. Die Weiterentwicklung nach „A Night At The Opera“ ist nun auch gewissermaßen logisch: Der Bombastfaktor war total ausgereizt, da musste man etwas zurückschrauben und tat das auch. Die Gitarren, Riffs und eingängigen Melodien stehen mehr im Vordergrund, die Lieder sind wieder gesangsorientierter geschrieben und Hansi kann sich besser entfalten und lässt sich weit seltener von Chören unterstützen, und bei seiner Stimme ist das natürlich mehr als positiv zu werten. Den moderneren Sound und die progressive Ausrichtung, die man mit dem Vorgänger eingeschlagen hat, bleiben allerdings erhalten und werden weitergeführt. Die Single hat für Einige aber wohl ein etwas falsches Licht auf die Sache geworfen, „Fly“ ist nämlich bereits das komplizierteste und sperrigste Stück des Albums.

Wie um die Unberechenbarkeit der Band zu unterstreichen, wurde nicht nur das schwierigste Stück als Vorabsingle veröffentlicht, sondern auch das wohl härteste als Opener gewählt. „This Will Never End“ bietet von Beginn an und ohne jegliches Intro rockige und schneidende Riffs sowie schnelle Leads und Soli, technisch ausgefeiltes sowie erschlagendes Drumming und einen Hansi, der mit hohen schrillen Schreien und seinem tiefen, aggressiven Gesang dabei ist. Einige Breaks und überraschende Wendungen später kann man sich vorerst nur an den epischen Refrain klammern, kein besonders einfacher Einstieg in das Album. Dafür wird gleich hier klargemacht, dass man volle Aufmerksamkeit in zahlreichen Durchgängen zeigen muss. „Otherland“ beginnt ruhiger, atmosphärischer und ist auch ein wenig leichter zugänglich. Das liegt neben den häufigen melodischen Leads und Hansis harmonischem Gesang wohl vor allem an diesem Refrain, der einer der Sorte ist, den man nur einmal zu hören braucht und bereits hochgradig süchtig danach ist. Das ist BLIND GUARDIAN in Reinkultur, daran dürften sogar die alten Fans wenig zu meckern haben… Nun wird auch zum ersten mal der Einfluss von Neudrummer Frederik deutlich, „Turn The Page“ startet nämlich mit Dudelsackklängen, die man seit knapp 15 Jahren nicht mehr auf einem BG-Album gehört hat. Und das Stück ist dann sowas von partytauglich, dass man es den Herren kaum zutrauen möchte, die durchgehend beschwingt-fröhliche Melodie und Atmosphäre inklusive „Nanana“-Gesängen gegen Ende dürften das Teil bei einer eventuellen Liveumsetzung zum absoluten Tanzbeinschwinger und der neuen Hüpf- und Klatschnummer im Programm werden.

Das eh schon mächtige „Fly“ wirkt nun mit seiner Komplexität im Albumkontext gleich noch mächtiger. War wohl genau die richtige Entscheidung, dieses Stück als Single zu erwählen, so kennt man es schon und hat die großen Einhörprobleme bereits hinter sich. Mit „Carry The Blessed Home“ steht eine überraschende Nummer an, die man wohl am ehesten als „The Maiden And The Minstrel Knight“-Nachfolger sehen kann. Zwischen Halbballade und ruhigem Midtempostück, durch seine Art und den beinahe schon gospelähnlichen Klang des Titels im Refrain auf jeden Fall herausstechend. Weiter gehts ebenfalls ungewöhnlich mit „Another Stranger Me“. Die ersten Sekunden schocken beinahe, klingen die Gitarren erst doch stark nach typischem Hammerfall-Riffing. Das ändert sich aber schnell in einen sehr modernen und schon beinahe spacigen Sound mit einfach nur schweinecoolen Melodien aus den Gitarren. Das Lied ist so ein typischer „Anfangs ganz okay, aber nicht besonders“-Teil, dass sich mit jedem Durchlauf steigert und irgendwann einfach die Grenze zur Genialität einfach überschreitet und damit eines der besten Stücke der Bandgeschichte wird!

„Straight Through The Mirror“ hat es im Anschluss daran aber gar nicht schwer, bietet es doch Melodien und Harmonien, wie es die „Nightfall…“ nicht besser gekonnt hätte. Hansi singt hier fast durchgehend sehr hoch (was auf dem ganzen Album relativ häufig passiert) und ist wohl der eingängigste und direkteste Song des Albums. Ganz nebenbei gibt es hier natürlich auch wieder einen packenden, epischen Refrain. Ganz anders dagegen ist „Lionheart“, dass ruhig und getragen anmutet, dabei aber ziemlich vertrackt und nicht leicht zu durchschauen ist, auch der Refrain ist hier nicht von der Sorte, die gleich ins Ohr springen und sich dort festsetzen, hier muss man sich alles ein wenig erarbeiten. Wenn das aber mal geschafft ist, steht auch an achter Stelle ein ganz großer Track.
Ebenfalls schon von der Single bekannt, gibt es „Skalds And Shadows“ nun in der akustischen Version zu hören, die die Orchesterversion tatsächlich übertrumpfen kann, ausserdem kommt das Flötenspiel hier viel besser zur Geltung. In dieser Version kann es nun auch wirklich in die „Bards Song“ / „A Past And Future Secret“ / „Harvest Of Sorrow“-Liga vorstoßen, was ich auf der Single noch nicht dachte. Nach dieser flockigen Schunkelnummer steht das Stück an, mit dem ich die meisten Schwierigkeiten hatte. „The Edge“ bietet ohne Zweifel eine beeindruckende Präsentation von Frederiks Schlagzeugkünsten, hier leistet der junge Mann einiges. Die düstere Stimmung kommt auch gut rüber, doch hier gibt es so einige Probleme. Der Refrain wirkt arg seltsam, Hansi bellt (?) zwischendrin plötzlich vier mal, und um diese Stelle rum gibt es plötzlich zwei, drei Breaks, die völlig wie aus dem Zusammenhang gerissen wirken und Melodien noch plötzlicher abgeschnitten werden. Ein anstrengendes Ding, zum Schluss bekommt man mit „The New Order“ immerhin noch ein ziemlich ruhiges Stück mit ebenfalls ruhig-epischem Refrain geboten, das keine Akzente mehr setzt, aber sich in der zweiten Hälfte noch enorm steigert.

In den knapp 52 Minuten bietet „A Twist In The Myth“ soviel Abwechslung und verschiedene Elemente, dass es sogar für BLIND GUARDIAN herausstechend viel ist. Durch die (fast) durchgehend melodische und rockig-progressive Ausrichtung des Materials ist der rote Faden aber trotzdem vorhanden und das Album wirkt wie ein zusammengehöriges Ganzes. Die Verbindung zu „A Night At The Opera“ ist auch weiterhin gegeben, wenn man etwa „Fly“ und „Sadly Sings Destiny“ austauschen würde, würde das Gesamtgefüge der beiden Alben immer noch perfekt passen. Und auch wenn es nun wieder etwas eingängiger geworden ist – die Lieder brauchen ihre Zeit, um sich festzusetzen und groß zu werden. Groß sind sie nämlich ohne Zweifel, und vor allem „Otherland“, „Fly“ und „Another Stranger Me“ zähle ich bereits jetzt zum Besten, was BLIND GUARDIAN je geschrieben haben und dürften in Kürze Bandklassiker werden. Zu „Another Stranger Me“ wurde übrigens sogar ein richtiger Videoclip gedreht, was hier ja auch eine Neuheit ist. „Mr. Sandman“ und andere Tiefschläge zähl ich hier mal nicht mit. Einzig „The Edge“ wirft mir ein etwas negatives Licht auf den Schlusspunkt des Albums, fällt mir sowohl stilistisch, aber vor allem qualitätsmäßig und songschreiberisch gesehen (nicht vom technischen her…) zu sehr gegenüber dem Rest ab.
Der Wechsel zu Nuclear Blast scheint sich übrigens wirklich gut zu machen. Immerhin bekommt man nun zum ersten mal in der Bandgeschichte ein Digipack geboten, darauf findet man mit „Dead Sound Of Misery“ auch die oft angekündigte düstere Version von „Fly“, die zwar auch okay ist, aber mit der Urversion absolut nicht mithalten kann. Das angekündigte Stück des kommenden Orchesterprojekts konnte leider nicht mit dabei sein, deswegen gibt es auf der Bonus-CD „nur“ Interviews in englischer und deutscher Sprache. Für Sammler gibt es mit der „Buch“-Version auch eine teuere Ausgabe der CD, in der sich diverse Sachen wie ein Plektrum, eine Luftgitarre, Autogrammkarte, Siegelset und was noch immer dabei ist. 1000 mal gibt es das, und das wird sich schon verkaufen, und wer nicht will, der muss ja nicht.

BLIND GUARDIAN gehen mit den neu zurückgewonnenen und leichter zugänglichen Melodien und der Abkehr vom Überbombast vielleicht einen Schritt zurück, gleichzeitig aber mindestens zwei nach vorne. Dass die BG-Hörer, die von der „A Night At The Opera“ enttäuscht waren, hier wieder Zugang finden können, bezweifle ich nicht. Wer jedoch eine Rückkehr zum „Somewhere Far Beyond“-Stil erwartet hat, muss sich eben mit Savage Circus begnügen und sollten nun endlich akzeptieren, dass dieses Album bereits bald 15 Jahre auf dem Buckel hat, bereits existiert und immer wieder im CD-Player landen kann.

Geschrieben am 6. April 2013 von Metal1.info

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