Review Flowing Tears – Jade

Noch immer muss ich lächelnd mit dem Kopf schütteln, wenn ich daran zurückdenke, wie ich an diese CD geraten bin. In einem Print-Magazin hatte ich eine ansprechende Review gelesen, die wunderbaren Gothic-Rock mit Frauengesang versprach. Die 2549.-Variante dieser an sich längst ausgereizten Musikrichtung wollte ich mir eigentlich gar nicht antun und erwarb die CD auch nur deshalb, weil der hiesige Plattenladen dicht machte und den Restbestand zum Schleuderpreis veräußerte. Trotzdem kam dann alles ganz anders als erwartet.

Kaum hatte ich die CD im Player, war ich hin und weg. Natürlich stimmt die Stilbezeichnung Gothic-Rock mit Frauengesang, aber in dieser ergreifenden Variante habe ich es noch nie gehört. Der Weg, den die Saarländer mit ihrem Debüt „Swansongs“, welches kleine Epen von teilweise über zehn Minuten Länge (welche möglicherweise auch von EMPYRIUM während der Arbeiten an ihrem Akustikalbum „Weiland“ gehört wurde) enthält, wurde mit dem Vorgänger „Joy Parade“ bereits deutlich modifiziert, so dass „Jade“ die konsequente Weiterentwicklung darstellt.

Dies wird gleich beim mit etwas über drei Minuten Spielzeit recht knappen Opener „Godless“ deutlich. Man hält sich nicht mit unnötigen Keyboardpassagen oder Gitarrenriffs auf, sondern kommt direkt zum Punkt. Und das heißt in diesem Fall: eine eingängige Gitarrenmelodie im Refrain, Akustikgitarren in der ersten Strophe mit zerbrechlich wirkendem Gesang, eine mehr als eingängige Gesangslinie im Refrain und vor allem ein phantastischer Text. Dabei kann man gar nicht einmal so genau sagen, wovon der Text handelt, aber irgendwie gelingt es Gitarrist Benny, der neben dem größten Teil des Songwritings auch für das Verfassen der Texte zuständig ist, seine Gedanken in so schöne Worte und Sätze zu verpacken, dass sie tief berühren. Bescheidenheit ist hier jedoch Trumpf: ich habe Benny mal auf die Texte angesprochen und er meinte, dass er gar nicht verstehen könne, warum alle die Texte so spannend finden, er würde nur kleine Geschichten schreiben, da wäre ja nichts bei.

Auch wenn es sich bei einer Scheibe dieser Güteklasse eigentlich verbietet, würde ich schon sagen, dass man das folgende „Sistersun“ als ein Highlight des Albums bezeichnen kann. Sängerin Steffi zaubert mit einer unglaublich emotionalen Gesangslinie eine Gänsehaut nach der anderen auf die Rücken der Zuhörer. Dem Gesang sollte an dieser Stelle ohnehin ein kurzer Kommentar eingeräumt werden, denn beim Stichwort „Frauengesang im Gothic“ denkt man recht unwillkürlich an Opern-Trällerei a la Liv Kristine oder Tarja Turunen. Dies trifft in diesem Fall rein gar nicht zu, einige meiner Freunde wären zu jedem Schwur bereit gewesen, dass es sich um einen männlichen Sänger handelt. Das soll also heißen, dass FLOWING TEARS ganz auf tiefen Frauengesang setzen, ein wunderbarer Gegenpool zu den bereits angesprochenen Vocal-Feen. Textlich behandelt „Sistersun“ das Thema Älter werden und die Vorbereitung auf das Sterben, sicherlich kein klischeefreies Thema, aber, wie schon mehrfach angedeutet, einfach wunderbar umgesetzt.

Der dritte Song „Swallow“ ist erneut ein absoluter Ohrwurm, sicherlich kann man der Band vorwerfen, nicht allzu abwechselungsreich vorzugehen (so wiederholt sich die Gesangslinie im Refrain im Prinzip viermal), aber das ist hier überhaupt nicht nötig, denn auch nach dem 200. Mal Hören gefällt dieser Song einfach. „Lovesong For A Dead Child“ behandelt thematisch das Ende einer Beziehung. Obwohl der Song wie die übrigen durch und durch traurig klingt, keimt im Laufe des Liedes immer mehr Hoffnung auf, von einer Resignation oder ähnlichem kann keine Rede sein.

An sich könnte es jetzt Ewigkeiten so weiter gehen, weil es einfach jeder Song wert ist, genauer beleuchtet zu werden. An dieser Stelle möchte ich nur noch zwei weitere, absolute Highlights erwähnen: „The One I Drowned“ überzeugt durch eine interessante Struktur, jeweils nach dem Refrain folgt eine andere „besungene“ Bridge, die Instrumentalfraktion bleibt hier im Hintergrund und so bleibt im gesamten Song genug Platz für die wunderbare Stimme. „Radio Heroine“ ist mein persönlicher Favorit auf „Jade“. Auf irgendeine, nicht genau bestimmbare Art und Wiese weckt das Lied Sehnsüchte, die sich ebenfalls nur schwer beschreiben lassen. Allemal macht „Radio Heroine“ im wahrsten Sinne des Wortes süchtig, die Steigerung, die sich vom ruhigen Anfang bis zum aufbrausenden Finale aufbaut, ist einfach gigantisch.

Ein Fazit zu ziehen fällt mir in diesem Fall nicht besonders leicht. Zwar kann ich ohne wenn und aber sagen, dass „Jade“ für mich die beste (Gothic-) CD aller Zeiten ist (selbst die zwei eineinhalb minütigen Instrumentale („Turpentine“ und „Vanity“ (hier Sprechgesang)) wissen absolut zu überzeugen), aber gleichfalls ist mir auch klar, dass Worte dieses Meisterwerk kaum beschreiben und seiner Größe gerecht werden können. Für Gothic-Skeptiker sei vielleicht noch gesagt, dass das Keyboard als typisches Gothic-Instrument nur recht wenig Raum hat, auf Dudeleien wird verzichtet, stattdessen unterstützt das Keyboard dezent die Melodieführung der Gitarren. Ich kenne niemanden, dem diese CD bisher nicht gefallen hat und wenn ich nur einmal in meinem Leben die Höchstnote vergeben dürfte, in diesem Fall würde ich es immer wieder tun.

Wertung: 10 / 10

Publiziert am von Jan Müller

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert