Interview mit Benjamin Buss von Flowing Tears

Was lange währt, wir wohl endlich gut. Klar ist dieses Sprichwort recht ausgelutscht, aber selten traf es besser zu, als bei den Saarländern Flowing Tears, die sich nach ihrem letzten Studioalbum Razorbliss gleich mal über vier Jahre Zeit für Thy Kingdom Gone. Warum dies so ist, was die Stimme von Vorph mit den 50ern zu tun hat, warum der Redakteur auch mal Recht hat und weshalb bei Benni erst beim Kochen kassiert wird lest Ihr im folgenden Interview mit dem symphatischen Gitarristen.

M1: Mit Eurem sechsten Studioalbum habt Ihr Euch über vier Jahre Zeit gelassen. Die Pause hattet Ihr Euch verdient, aber was habt Ihr so getrieben ohne die tägliche Musik.?
B: Gelebt. Es gibt ja noch andere Dinge, als mit der Band unterwegs zu sein, und die kamen in den Jahre davor manchmal arg zu kurz. Es tat uns einfach mal gut, uns eine Weile aus dem Bandleben auszuklinken, einfach mal wieder andere Dinge zu tun. Für mich war es auch eine Zeit, in der ich wieder zum Musikfan wurde. Das klingt jetzt komisch, aber wenn man immer nur mit der eigenen Band beschäftigt ist, nimmt man irgendwann all die Musik, die es zu entdecken gibt nicht mehr wahr. Ich habe in dieser Zeit wieder sehr viel Musik gehört und das genossen. Kurz: wir haben uns vom Leben inspirieren lassen….

M1: Wie seid Ihr an dann schließlich ans Songwriting herangegangen? Es ist ja sehr offensichtlich, dass Ihr den Stil von Serpentine und Razorbliss diesmal nicht so direkt weiter verfolgen wolltet.
B: Wir haben nicht bewusst entschieden, dass wir den Stil nicht weiterverfolgen wollen, und ein vollkommender Bruch fand da meiner Meinung nach auch gar nicht statt. Musik kommt aus dem innersten, man kann nicht planen, wie sie klingt. Wenn ich mich hinsetze, um einen Song zu schreiben, dann kann ich nicht planen, jetzt einen gradlinigen, einen düsteren oder einen lustigen Song zu schreiben – es passiert einfach das, was aus mir heraus kommt, und das hat auch immer mit der Zeit zu tun, in der ein Song entsteht, mit dem Leben, das man in diesem Moment führt, den Gedanken, die einen beschäftigen. Und das waren in der Zeit, als Thy Kingdom Gone entstand Gefühle, die nach einem nachdenklichen, traurigen und sehr dunklem Album verlangten.

M1: Die vom Label gestreute Werbung rückt Thy Kingdom Gone in die Nähe von Jade. Stimmst Du dem zu, Jade ist für viele Fans ja DAS Flowing-Tears-Highlight; nervt es andererseits vielleicht aber, wenn ständig Vergleiche mit einem fast zehn Jahre alten Album gezogen werden?
B: Es ist ein Kompliment, wenn viele Fans JADE als ihr Lieblingsalbum bezeichnen, denn es war ein sehr gutes, sehr emotionales Album, das auch ich immer noch sehr mag. Thy Kingdom Gone hat für mich auch viel von dem, was für mich damals JADE ausgemacht hatte, und es gibt für mich viele musikalische und textliche Anknüpfungspunkte – trotzdem kann man die Alben nicht wirklich miteinander vergleichen, denn es liegen fast 10 Jahre dazwischen, wir haben uns als Menschen entwickelt, und außer mir, ist auch keiner mehr vom JADE Line-Up in der Band…

M1: Ich persönlich denke, dass die Grundstimmung zwar ähnlich ist, die meistens Songs sind aber erstens deutlich schneller bzw. härter und außerdem sind viele Songstrukturen um einiges verzwickter als die doch sehr eingängige Kost von Jade. Setzt Ihr auf noch mehr Langzeitwirkung?
B: Thy Kingdom Gone ist definitiv ein Album, das Zeit braucht, bei dem man Dinge entdecken kann, auch beim 50. Durchlauf. Ich persönlich liebe Alben, die sich immer weiter entwickeln, je öfter man sie hört, und wenn Thy Kingdom Gone das schafft, dann ist das für mich als Songwriter ein sehr großes Kompliment.

M1: Das Coverartwork ist von Seth Siro Anton, der auch für die jüngste Moonspell-Platte arbeitete. Ich finde es unglaublich, wie düster er vorgeht und wie leicht man seine Werke erkennt. Ohne in die Credits zu schauen, hätte ich dem Künstler auch diese Gestaltung zugeordnet. Wie seid Ihr auf ihn gekommen und wie zufrieden seid Ihr damit?
B: Ich verfolge seine Cover seit Jahren, und bin fasziniert von seinem Stil. Als wir das Konzept zu Thy Kingdom Gone ausarbeiteten fiel mir spontan Seth ein, der die Stimmung des Albums mit seinem Stil sicherlich sehr gut würde einfangen können. Er sagte auch spontan zu, als er dann mit Septic Flesh auf Tour war trafen wir uns und redeten ausführlich über das Konzept, die Texte und mögliche Ideen der gestalterischen Umsetzung, und schon damals war klar, dass wir bei der Vision des Konzepts auf einer Wellenlänge lagen. Als Seth dann aber das Fontcover präsentierte waren wir sprachlos – denn dass er das Konzept und die Stimmung SO dermaßen gut umsetzen würde hat uns echt umgehauen. Ich bin sehr froh, dass wir mit Seth zusammengearbeitet haben, denn um ehrlich zu sein: das ist das erste Flowing Tears Album, bei dem sich das Artwork und die Musik zu einem Gesamtwerk verbinden, und darauf bin ich sehr stolz.

M1: Noch mal Moonspell, aber auch Amorphis und andere: im Gothic-Metal-Bereich gehen aktuell recht viele Bands „zurück zu den Wurzeln“, wenn man das so salopp sagen kann. Außerdem fällt auf, dass der Sound insgesamt fetter, heftiger wird, vor allem der Bass ist nicht mehr der stiefmütterlichen Behandlung wie vor einigen Jahren ausgesetzt.
B: Das stimmt. Ich denke, das ist eine logische Entwicklung nachdem diese Bands in den letzten Jahren experimenteller unterwegs waren. Man experimentiert, entdeckt neue, spannende Dinge, kommt aber irgendwann dahin zurück, wo man herkam, wo man sich wohlfühlt – hat aber trotzdem all die Erfahrungen einer langen Reise im Gepäck. Gerade bei Moonspell scheint das so zu sein. Schon als wir 2002 zusammen auf Tour waren hatte man den Eindruck, dass ihnen ihre experimentellen Alben geholfen haben, ihre Identität zu finden. Auf uns bezogen ist das wohl ähnlich: wir haben auf Razorbliss sehr gradlinige Rocksongs geschrieben, auf Invanity sehr konsequent unsere Ruhige, trippige Seite ausgelebt, um jetzt auf Thy Kingdom Gone zu dem zurückzukehren, was wir eigentlich immer waren: nämlich eine melancholische Metalband.

M1: Wie kam es eigentlich, dass Stefan die Drums diesmal nicht einspielte?
Es wurde einige Wochen vor den Aufnahmen krank und musste für einige Wochen langsam machen. Da das Studio aber schon gebucht war, und es auch keine Ausweichtermine gaben, und wir nicht wollten, dass er sich im Studio quält und am Ende gesundheitlichen Schaden nimmt, entschieden wir zusammen, dass es am besten wäre, wenn jemand anderes für ihn einspringt – und dieser jemand war auch nicht irgendjemand, sondern mit Tom Diener ein guter Freund der Band, der auch schon auf mehreren Touren bei uns aushalf. Tom spielt bei Tomorrow\’s Eve und Eyes Of Eden, der Band von Waldemar Soryhcta. Er hat sich die Songs innerhalb kürzester Zeit draufgepackt, und einen unglaublichen Job im Studio hingelegt.

M1: Gehen wir mal ein wenig weg von der Musik; Flowing Tears sind schon immer dafür bekannt gewesen, auch lyrisch eine 1A-Arbeit abzuliefern. Auch diesmal sind die Texte absolut lesenswert, magst Du etwas über die Intentionen erzählen?
B: Thy Kingdom Gone handelt von Verlust. Dem Verlust von Illusionen, dem Verlust von Hoffnung und dem Verlust von Glauben an das Gute. Die Erkenntnis, dass der einzige Mensch, von dem man etwas Gutes erwarten kann der ist, den man sieht, wenn man in den Spiegel schaut. Das mag deprimierend klingen, aber das ist der Konsens des textlichen Konzepts. Vieles auf Thy Kingdom Gone ist autobiographisch, bleibt dabei aber trotzdem durch eine bewusst sehr bildliche Sprache immer so interpretierbar, dass man in den Texten sehr vieles finden kann.

M1: Religiöse Begriffe beherrschten Eure Songs schon immer, die Themen sind aber eher persönlich-emotionaler Natur. Warum wählt Ihr gerade diese beiden Schwerpunkte und wo seht Ihr die Zusammenhänge?
B: Religion ist etwas sehr persönliches. Ich verstehe unter Religion keine Institution, keine Lehre oder Regelwerke. Religion ist ein Abbild persönlicher Ideale, Hoffnungen, Ängste, und die entwickeln sich und resultieren aus dem, was einem widerfährt. Daher hängt für mich emotionales erleben, das Leben als solches und Religion untrennbar zusammen, daher auch die Verbindung in den Texten.

M1: Mal wieder etwas zur Musik; Miss Fortune ist auf jeden Fall das ungewöhnlichste Lied auf Thy Kingdom Gone, vielleicht sogar Eurer gesamten (jüngeren) Karriere. Irgendwie scheint mir eine Interpretation greifbar nah zu sein, besonders die Hintergrundgeräusche im abschließenden Pianoteil scheinen da ein Schlüssel zu sein. Kann es sein, dass es sich dabei um eine Spieluhr handelt und spielt der Song irgendwo bzw. irgendwann in der Vergangenheit?
B: Der Song hat dieses 50er Jahre Schwarz-weiß-Film Feeling, zumindest ruft er bei mir solche Bilder hervor. Miss Fortune ist ein sehr zynischer Song, sehr Singer/Songwriter mäßig, mit einem sehr bildlichen, fast ironischem Text. Die Hintergrundgeräusche stammen in der Tat von diversen Spieluhren. Als wir an der Ausarbeitung der Keyboards und Atmos für den Song saßen, kam die Idee auf, solche Sounds zu verwenden, und statt auf Sounds aus einem Sampler zurückzugreifen suchten wir alle Spieluhren, Küchenuhren und ähnliches zusammen, die wir so auftreiben konnten, und nahmen sie per Mikrofon auf. Ich bin da sehr detailverliebt, man hört einfach den Unterschied zwischen etwas echtem, lebendigen, und einem Sample… auch das Klavier bei Miss Fortune ist – so wie alle Klavierparts auf dem Album – mit einem Echten Klavier live eingespielt, statt wie sonst üblich mit einem Sample und mechanischen Midispuren zu arbeiten.

M1: Wann fiel die Entscheidung, dass Vorph den Titeltrack singt oder wurde er sogar genau für diese Stimme geschrieben? Sagen wir es so, ich hätte mich auch nicht gewundert, wenn der Song auf der letzten Samael-Platte gestanden hätte ;-)
B: Die Idee, dass Vorph\’s Stimme perfekt zu dem Song passen würde kam erst sehr spät, genau genommen, als ich mit Helen den Gesang für die Vorproduktion aufnahm. Lustigerweise hatten wir beide schon unabhängig voneinander schon vorher daran gedacht. Vielleicht hatte ich sogar tatsächlich beim Songwriting unbewusst Vorphs Stimme im Hinterkopf, bewusst wurde es uns allerdings erst kurz bevor wir ins Studio gingen. Wir schickten Vorph also die Vorproduktion des Songs, und er sagte sofort zu. Als wir das Ergebnis hörten, hat es uns echt umgehauen, denn es passt perfekt. Du bist allerdings auch nicht der erste, der sagt, dass der Song auch einen guten Samael Song abgegeben hätte…

M1: Hast Du eigentlich noch Kontakt zu Deinen langjährigen Waffenbrüdern bzw. –schwester? Zumindest Frederic und Steffi waren ja eine ziemlich lange Zeit dabei…
B: Ja, ich bin mit beiden noch befreundet, wir sind damals ja auch nicht im Streit auseinandergegangen. Gerade vor ein paar Tagen habe ich mich noch mit Steffi getroffen, ich habe ihr Thy Kingdom Gone überreicht, und wir haben stundenlang über Gott und die Welt geredet. Ich hoffe sie wird irgendwann wieder zur Musik zurückfinden, denn sie ist eine verdammt gute Sängerin.

M1: Verzeihe meine allzu zukunftsweisende Neugierde, aber habt Ihr, kurz nach dem Release, bereits Pläne für das nächste Album oder habt Ihr sogar schon neue Stücke fertig? Ich hoffe ja mal, dass es nicht wieder so lange dauert ;-)
B: Nein, wir haben noch nichts geschrieben, und damit werden wir uns genau so viel Zeit lassen, bis wir wieder das Gefühl haben, dass wir ein Album schreiben wollen, und etwas zu sagen zu haben. Diese Freiheit hat Thy Kingdom Gone erst möglich gemacht, und diese Freiheit werden wir uns auch in Zukunft nehmen. Was nicht heißen muss, dass es wieder so lange dauern wird – aber wenn, dann ist das auch ok. Aber um ehrlich zu sein, hat das Projekt Thy Kingdom Gone den Geist dieser band wiederbelebt, und ich kann mir im Moment nicht vorstellen, allzu lange zu warten, bis wir wieder kreativ werden…

M1: Wie sieht es mit Aktivitäten auf dem Live-Sektor aus?
B: Wir werden wohl in der zweiten Jahreshälfte auf die Bühne zurückkehren. Wir waren in der Vergangenheit sehr viel auf Tour, und wollen es in der Zukunft ein wenig anders halten, denn wenn man Wochenlang auf Tour ist, und jeden Abend spielt, dann verlieren die Shows schnell an Intensität. Wir wollen in Zukunft wenige Shows spielen, diese aber sehr bewusst auswählen, so dass die Shows sowohl für das Publikum als auch für uns etwas einzigartiges haben und etwas besonderes sind.

M1: Gut, ich bin mit meinen Fragen durch und weil es ja langweilig ist, immer ein Wortspiel zu machen, gibt es diesmal ein „Musik zum…“

Kochen: Ganz ehrlich? Ich höre oft Die Kassierer beim Kochen. Unschlagbar und verdammt unterhaltsam.
Putzen: Grave – Into The Grave – der Gesang setzt sich genau über die Frequenz meines Staubsaugers. Oder The 4th Crusade von Bolt Thrower. Oder Gorefest…
Autofahren: Derzeit Volbeat.
Relaxen: Dead Can Dance oder Isis
Lesen: Sigur Ros
Sport: Samael – perfekt zum Joggen.
Aufstehen: gar keine. Ich bin ein dermassener Morgenmuffel, dass ich keine Musik beim Aufstehen ertrage.
Feiern: Monster Magnet oder Abba.
Nachdenken: A Fine Day To Exit von Anathema.
Abendessen: kommt auf\’s Essen an. Mal Napalm Death, mal Pink Floyd.

M1: So, Benni, wie immer war es eine Freude, mit Dir zu plaudern. Jetzt bleibt bloß zu hoffen, dass Thy Kingdom Gone die verdiente Aufmerksamkeit bekommt, hierfür und für alle weiteren Aktivitäten von meiner Seite aus alles Gute, die letzten Worten gehören, man glaubt es kaum, Dir.
B: Danke Dir für deine interessanten Fragen… jetzt kann immerhin jeder der\’s wissen will nachlesen, dass ich beim Kochen Die Kassierer höre… ;-)

Publiziert am von Jan Müller

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