Konzertbericht: Anathema

14.04.2015 Bochum, Matrix

Anathema Resonance Tourplakat
ANATHEMA ist eine Band, die die Massen mobilisiert. Im Rahmen der „Resonance“-Tour umso mehr, da mit Duncan Patterson und vor allem Darren White zwei ehemalige Mitglieder mit dabei sind, die in der Bandhistorie eine sehr wichtige Rolle einnehmen. Und so verwunderte der volle Parkplatz und eine 30 Minuten nach Öffnung der Tore immer noch ansehnliche Schlange am Eingang der Matrix in Bochum nicht. Dennoch zeigt ein erster Blick in den Saal: Ganz voll wird es wohl nicht werden. Ob dies vielleicht mit den opulenten 30 Euro Eintritt zu tun hat? Die Frage ist nicht zu beantworten, allerdings sei schon an dieser Stelle der Hinweis gestattet, dass der Preis mitnichten übertrieben hoch ist, mehr dazu später. Hier wäre eher das Merchandise zu kritisieren, 25 € für ein T-Shirt, 40 € für ein Long-Sleeve und 55 € für einen Kapuzenpulli sind schon happig.

Das Publikum erweist sich als erwartungsgemäß gemischt, von jungen Gothic Metallern über erfahrene Prog-Rocker geht es bis in die älteren Semester, ein Gast könnte glatt als Double von Donald Sutherland durchgehen. Zudem sind Bandshirts keine „Pflicht“, so erblickt man so manches etwas aus der Mode gekommene Karo-Hemd oder einfach ein mottofreies T-Shirt. Eines eint die Menge allerdings, die Freude auf eine der außergewöhnlichsten, wandelbarsten Bands in der Szene. Und so ist die Begeisterung groß, als ANATHEMA pünktlich um 20 Uhr in ihr Set einsteigen.

Dieses ist den Ankündigungen entsprechend dreigeteilt, zunächst spielt man sich eine gute Stunde durch das neuere Material seit „Judgement“. Dabei ist die Bühne die meiste Zeit in ein glühend-warmes Rotlicht getaucht, welches die gefühlvolle Musik sehr gut unterstützt. Als Sängerin Lee Douglas zum zweiten Song (dem Titeltrack des aktuellen Albums) auf die Bühne kommt, muss man neben den ganzen kräftigen Burschen auch etwas Angst um das optisch zarte Persönchen haben. Aber weit gefehlt, mit ihrer betörenden Stimme setzt sie mit ihren Auftritten das erste Highlight des Abends. Traumhaft sicher erwischt sie die Töne, wobei man Fronter Vinnie diesbezüglich auch nicht kritisieren kann. Die Duette, teilweise andächtig bestaunt, waren jedenfalls großartig und so erntet Lee für ihre Darbietungen großen Applaus. Kein Wunder, schließlich überzeugen sowohl die beiden „Untouchable“-Teile wie auch „A Simple Mistake“ von „Weather Systems“ auf ganzer Linie. Leider wird von dieser großartigen Platte nur ein Lied gespielt, die Band hatte im Vorfeld via Facebook dazu aufgerufen, jeweils zwei Lieblingssongs zu nennen, was die Erwartung schürte, dass auch jedes Album doppelt vertreten sein würde. Leider ist dies nicht der Fall, aber ANATHEMA haben schließlich genug in der Hinterhand, um sich dies leisten zu können.

Immerhin sorgt „A Simple Mistake“ für das erste Kopfnicken im Publikum, wenngleich auch die langsamer gehaltenen Nummern live eine erstaunliche Energie verbreiten. Dies erinnert ein wenig an die Waffenbrüder von Antimatter, auf Platte häufig akustisch, live dann aber doch eine kleine Dampfwalze. Andererseits ist ANATHEMA-Musik seit jeher Gefühlsmusik, nicht nur von den Klängen her, sondern auch im Bereich der lyrischen Themen.

Erstaunlicherweise werden vor allem die Songs von „A Natural Desaster“ sehr abgefeiert, ohne Frage ist es eine sehr starke Platte (vor allem historisch als Nachfolger des schwer zugänglichen „A Fine Day To Exit“), aber die Priorität der Fans wäre eigentlich bei anderen Liedern zu erwarten. Die Darbietung der Band rechtfertigt dies allerdings, gerade bei dieser Scheibe hat vor allem Gitarrist und Keyboarder Danny mächtig Spaß in den Backen und kommt auch endlich mal bei den Ansagen etwas aus sich heraus, als er einige Anekdoten zum Songwritingprozess zum Besten gibt. Ansonsten zeigte sich die Band, so professionell sie auch ihre Musik zelebriert, etwas zurückhaltend.

Die Stimmung geht bei „Pressure“ – die massiven Klavierakkorde im Intro sind angemessen schwer und unterstreichen damit den Anspruch des Songs als solchen – und „One Last Goodbye“ wieder etwas zurück, die anschließende Pause tut nicht nur der Band ganz gut.

Nach zehn Minuten geht es weiter, der Stilbruch wirdauch optisch dargestellt, ab jetzt regiert das grüne Licht auf der Bühne. Zudem gibt es einen ersten Musikertausch, Duncan Patterson, zu dieser Episode der Band der vermutlich wichtigste Songwriter, übernimmt den Bass von Cavanagh-Bruder III, Jamie. Duncans Bedeutung für die Band wird auch sogleich Rechnung getragen, „Alternative 4“ kommt inklusive des kurzen Intros „Shroud Of False“ zu gleich vier Ehren, wobei „Fragile Dreams“ natürlich zeigt, auf welchen Song das Publikum u.a. gewartet hatte. Hier wird erstmals richtig Stimmung gemacht, gebangt, gesungen, gefeiert.

Bevor es dann zum größten Stilbruch des Sets kommt, offenbaren ANATHEMA die „Eternity“-Trilogie, sicher einer der ganz besonderen Momente des Abends, aber leider auch die schmerzliche Erkenntnis, dass man heute auf einer der Bandhymnen („Angelica“) verzichten muss. Trotzdem, die Magie ist in keinem anderen Augenblick so greifbar. Und sie geht auch sogleich wieder zurück, schon die Songs von „The Silent Enigma“, immerhin ausgestattet mit „A Dying Wish“, werden merklich verhaltener aufgenommen. Möglicherweise geht das Konzept dann doch nur bedingt auf. Oder man hätte statt „back in time“ von Historie nach Gegenwart gehen müssen. So wird der Stoff immer anstrengender, was im Hinblick auf mittlerweile gut zwei Stunden Konzert nicht verwunderlich ist. Die Band versucht nun doch, die Situation wieder etwas aufzulockern, Danny wagt sich an einige deutsche Ansagen heran, „jawoll“, „alles klar?“, „danke schon (sic!)“ oder auch „Lickt (sic!)“ sorgen tatsächlich für einige Humorbekundungen. Danach wird die zweite Umbaupause fällig und mit ihr kam Darren White, der zwar „nur“ fünf Jahre Sänger der Briten war, aber eine wichtige Persönlichkeit darstellt. Dass er es nicht verlernt hat, zeigt er auch sofort, letztlich kann man ihn trotz der unzugänglicheren Songs ohne Probleme als charismatischste Figur des gesamten Abends bezeichnen. Optisch passt er zwar nicht mehr wirklich in die Band, erinnert er doch, hätte er sich etwas zurechtmachen lassen, eher an einen Milieu-Verdächtigen von „Ein Fall für zwei“-Chefermittler Matula. Die Performance ist aber stark, gerade so, als wenn er jeden Tag nichts anderes machen würde. Die Songs hat er im Griff, ebenso das Publikum. Schuld daran sind nicht zuletzt die sehr gelungenen deutschen Ansagen, keine auswendig gelernten Phrasen, sondern echte Kommunikation.

Insgesamt sechs Nummern plus zwei Zugaben bekommt die Audienz unter der Regie von White zu hören. Kurz nach 23 Uhr ist nach über drei Stunden Konzert dann aber wirklich Schluss. Ein Abend, der bis auf ein paar Ausnahmen bei der Auswahl der Songs wenig zu wünschen übrig lässt. Auch der in der röhrenförmigen Halle der Matrix oft heikle Sound wird vom Mischer gut gelöst. Zwar ist hier nicht alles Gold, was glänzt, aber dieser Veranstaltungsort hatte auch schon deutlich schlechtere Klangqualitäten zu bieten. Die Band spielt auf hohem technischem Niveau, Fehler waren, wenn überhaupt, nur marginal vorhanden und so hat jeder, der an diesem Abend nicht in der Matrix aufgeschlagen ist, ein echtes Erlebnis verpasst. Der aufgerufene Preis ist die Sache schon alleine aufgrund der opulenten Spielzeit mehr als wert und so gehen Jung und Alt zufrieden, aber auch ziemlich erschöpft ihrer Wege. ANATHEMA sind und bleiben eine echte Ausnahmeband.

  1. Anathema
  2. Distant Satellites
  3. Untouchable, Part 1
  4. Untouchable, Part 2
  5. A Simple Mistake
  6. A Natural Disaster
  7. Closer
  8. Pressure
  9. One Last Goodbye
  1. Bad Speech (Roy Harper Song – Intro)
  2. Shroud Of False
  3. Fragile Dreams
  4. Empty
  5. Lost Control
  6. Eternity Part I
  7. Eternity Part II
  8. Eternity Part III
  9. Sunset Of Age
  10. A Dying Wish
  1. Crestfallen (Falling Deeper version)
  2. Kingdom
  3. Mine Is Yours To Drown In (Ours Is The New Tribe)
  4. Under A Veil (Of Black Lace)
  5. Lovelorn Rhapsody
  6. They (Will Always) Die (Falling Deeper version)
  7. Zuagbe:
  8. Sleepless
  9. 666

Publiziert am von Jan Müller

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