Review The Gentle Storm – The Diary

Wurde es nicht endlich Zeit? Zwei holländische Koryphäen kollaborieren endlich mal ganz und gar zusammen, die Rede ist von Alleskönner Arjen Lucassen und Goldkehlchen Anneke van Giersbergen. Zwar gab es in der Vergangenheit schon eine Zusammenarbeit im Rahmen von Lucassens Hauptband – wenn man das so überhaupt sagen kann – Ayreon, THE GENTLE STORM ist nun aber ein Projekt, welches nur auf die beiden Protagonisten zugeschnitten ist.

Das Mitwirken von etlichen Gastmusikern führt die Aussage zwar ein bisschen ad absurdum, aber es ist nun einmal so, dass das Debütalbum „The Diary“ von vorne bis hinten auf die beiden ausgerichtet ist. Lucassen kann seine Vorliebe für gefühlvoll-progressive Musik ausleben und Anneke singt sich von einem Glanzlicht zum nächsten. Natürlich kann eine solche Spezialität nicht ohne ein anspruchsvolles lyrisches Konzept auskommen: Man bedient sich der reichhaltigen niederländischen Geschichte und schildert eine fiktive Erzählung einer Liebe zwischen einem Matrosen und seiner Frau, die während seiner zweijährigen Seefahrt alleine zurückbleibt, die Kommunikation erfolgt dem 17. Jahrhundert entsprechend einzig über Briefe, welche die Grundlage für die Texte legen. Große Freude also bei Geographie- und Geschichtslehrern.
Und noch etwas hat sich das Duo einfallen lassen: „The Diary“ ist nicht einfach nur eine Platte mit elf schönen Liedern, die CD kommt als Doppel-Album. Zwar befinden sich auf beiden prinzipiell die gleichen Songs, jedoch in jeweils einer „gentle“- und einer „storm“-Version. Einmal bekommt man es folkig-akustisch geboten, aufgrunddessen bietet die „gentle“-Version eine ganze Reihe mitunter exotischer Instrumente auf. Nicht ohne Stolz verkündet man im Info, dass auf Keyboards gänzlich verzichtet wurde und tatsächlich erhält die Musik so ein ganz spezielles Flair. Es hat schon was, wenn man die Atemgeräusche der Musiker bei Blasinstrumenten hört. Die Ausrede, Keyboardsounds wären heute gut genug, um echte Instrumente zu ersetzen, gilt also nicht länger.
Trotzdem gefällt die „storm“-Version in der Endabrechung etwas besser. Hier agieren THE GENTLE STORM einfach mitreißender, die Emotionen stechen deutlicher hervor, vielleicht klingt die Musik auch einfach nur vertrauter. Dennoch, im direkten Vergleich aller Songs gibt es eigentlich kaum ein Lied, welches in der ruhigeren Variante besser funktioniert. Dies gilt nicht einmal für die prädestinierten Kompositionen, die auch im Metal-Gewand schon eher gemächlich vom Tempo und entspannt vom Feeling sind.
Apropos Kompositionen, „The Diary“ hat im Drumherum so viel zu bieten, dass die Musik fast zur Nebensache wird. Dies ist freilich überspitzt ausgedrückt, natürlich lebt „The Diary“ von ebendieser. Und wie man es von Meister Arjen gewohnt ist, haucht er den Liedern genau den Odem ein, der den perfekten Spagat zwischen Progressivität und Eingängigkeit schafft. Die Krone setzt die Gesangsfee auf, teilweise singt Anneke zwar ungewohnt hoch, aber die kristallklare Stimme, die sie in der Vergangenheit in allen ihren Bands erfolgreich zum Einsatz brachte, wird auch auf diesem Album zum echten Markenzeichen. Nun könnte man zwar einzelne Songs herausgreifen, aber dies nur, wenn man unbedingt Anspieltipps braucht. „Heart Of Amsterdam“ und „The Shores Of India“ stechen dabei ein wenig hervor, irgendwie ähneln sie sich gerade im Gesangsbereich auch ein wenig. Doch auch sonst unterlaufen THE GENTLE STORM kein Ausfälle, im Mittelbereich der Platte verliert man zwar hier und da etwas den Überblick, welches Lied gerade läuft, insgesamt steht aber schon jede Nummer für sich und wirkt so eigenständig und erwachsen, wie man es bei Musikern dieser Qualität auch erwartet.

Gerne mehr davon! THE GENTLE STORM legen ein gefühlvolles Progressive-Rock/Metal-Album vor, welches Freunde des Genres und Fans der Ursprungsbands kaum enttäuschen wird. Für die Zukunft kann man sich wünschen, dass die beiden die Metalschiene noch etwas deutlicher verfolgen, denn hier liegen die wahren Stärken. Glücklicherweise arbeitet Lucassen schnell („The Diary“ entstand innerhalb nur weniger Wochen), so kann man in naher Zukunft auf neues Material hoffen.

Wertung: 8 / 10

Publiziert am von Jan Müller

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