Das legendäre ROADBURN FESTIVAL im holländischen Tilburg ist im stetigen Wandel: Erstmalig 1999 als überschaubares Szenefestival mit Stoner-Rock-Schwerpunkt veranstaltet, hat sich das Event zur ersten Wahl für Metal-Connaisseure aus aller Welt entwickelt, wenn es etwas progressiver (nicht pauschal im Yes-Sinne), avantgardistischer oder ganz einfach schräger sein darf. Covid war auch hier eine Zäsur, aber das ROADBURN erwachte – vielmehr erblühte – nach zwei Jahren Pause 2022 zu neuem Leben: Nicht nur, dass sich die Veranstalter unter der Führung von ROADBURN-Mastermind Walter Hoeijmakers seitdem auf die Fahnen geschrieben haben, ein inklusiver Safe-Space für absolut jeden Menschen, egal wie er sich definiert oder sexuell orientiert ist (in Anbetracht dessen, dass in den Niederlanden eine durchaus rechtsnationale Regierungskoalition an der Macht ist, eine schöne Form der Positionierung), sondern man will sich auch musikalisch noch breiter aufstellen, als dies ohnehin schon der Fall war. Und so gab es nach der Pandemie noch mehr nicht-metallische Festivalprogrammpunkte, angefangen von Hip-Hop-Künstlern (Clipping, Backxwash) über Elektronik (der ROADBURN-begleitende Tanzabend im Club Smederij, oftmals unter der Schirmherrschaft des Rotterdamer Hardcore-Drum-’n’-Bass-Breakcore-Labels PRSPCT) bis hin zu Künstler*innen, die sich einer Kategorisierung in irgendwelche Schubladen erfolgreich entziehen – frei nach dem ROADBURN-Motto „Redefining Heaviness“, was übrigens auch bedeutet, dass Post-, Doom-, Black- oder Death-Metal-Freunde auf ihre Kosten kommen.
Zwei weitere erwähnenswerte (Bonus-)Punkte: Tontechnisch ist man auf dem aktuellen Stand der Technik und verfügt über Personal, das mit dem Equipment auch umzugehen weiß. Unterm Strich dürfte es nicht viele Events auf diesem Planeten geben, auf denen man derart harte und unkonventionelle Musik auf diesem klanglichen Niveau erleben kann. Und man befindet sich im Zentrum einer kleinen Stadt, was bedeutet, dass man auf dem ROADBURN infrastrukturell weit besser aufgestellt ist als auf anderen großen Festivals wie Wacken – was sich spätestens bei der ausreichenden Anzahl sauberer Toiletten bemerkbar macht. Das tendenziell etwas ältere Publikum (Menschen unter 30 sieht man kaum), das auch (szeneübergreifendes verbindendes Mindset) einfach überhaupt keinen Bock auf Stress, Hektik oder irgendetwas Unangenehmes hat, trägt ebenfalls seinen Teil zur extrem entspannten Atmosphäre des Festivals bei (einen Zusammenhang mit der ROADBURN-Kooperation mit dem örtlichen Coffeeshop schließen wir aus).
Donnerstag, 17.04.25 – Tag 1

Nach einem kleinen Frühstück im Weirdo Canyon (die Fressmeile in der Innenstadt von Tilburg, nicht mal fünf Minuten von der Main Stage entfernt) starten wir am frühen Donnerstagnachmittag im Terminal, der mutmaßlich zweitgrößten Venue des Festivals in einem alten Backsteinindustriegebiet zehn Gehminuten von der Hauptbühne entfernt, mit der amerikanischen … hmm, Noise-Rock-Band (?) XIU XIU. Musikalisch ist die Mischung des Duos (plus Drummer) aus eben Noise-Rock, Post-Punk und Industrial durchaus fordernd bis anstrengend: Uns gefällt jedes zweite Lied herausragend gut, während die Songs dazwischen je nach Tagesform auch zum Schreiend-Davonlaufen sind. Wir kommen gerade so klar, haben aber auch schon ein bis zwei Bier intus, was sicher hilfreich ist. Tontechnisch ist man auch erst noch so halb eingegroovt, aber es ist auch ein bisschen fies für die örtliche Mischercrew, dass XIU XIU neben dem klassischen Instrumentarium bestehend aus Gitarren, Synths und Schlagzeug noch ein paar weitere Becken strategisch möglichst ungünstig über die Bühne verteilt haben, um auf sie einzudreschen – was einfach auf jedem Mikrofon im Umkreis von 20 Metern hörbar ist. Ich bereue auch erstmalig auf dem ROADBURN, keinen Ohrschutz zu tragen, überlebe aber ohne bleibende Schäden (ab Freitag habe ich den Ohrschutz dabei, aber benötige ihn ironischerweise nie). Trotzdem ein sehr cooler Auftritt, der die Messlatte in Sachen Weirdness für den Tag nicht so niedrig ansetzt.
Weiter geht’s mit ORANSSI PAZUZU, die ihr aktuelles Album „Muuntautuja“ in Gänze live darbieten werden – für mich persönlich ein Highlight, das Album ist pures Gold für viele (Black-)Metal-Avantgardisten. Was folgt, ist im Großen und Ganzen auch herausragend gut, aber mit Einschränkungen. Auch auf der Hauptbühne im 013 ist die Tontechnik-Crew noch nicht hundertprozentig auf Temperatur, denn die stark verzerrten und verhallten Vocals und Gitarren überlagern schon viel vom eigentlich coolen elektronischen Beiwerk. Da wäre noch Luft nach oben gewesen, das klang einige Monate zuvor in München deutlich besser. Trotzdem weiß die Band gerade in den ruhigeren, groovigen (Synth-)Bass und Drum-Passagen sehr zu überzeugen und mitzureißen, erinnert ab und an sogar an Massive Attack zu „Mezzanine“-Zeiten – von der passenden, erstklassigen Lightshow mal ganz abgesehen.
Etwaige soundtechnische Beanstandungen haben sich nach diesem Konzert auch für den Rest des Festivals erledigt. Ergänzend sei noch erwähnt, dass auf dem ROADBURN auch oft Bands spielen, die a) selten oder gar nicht auftreten, b) Material präsentieren, das selten oder gar nicht gespielt wurde oder c) – Worst Case – Material präsentieren, das nie für eine Live-Darbietung gedacht war. Nicht immer ganz einfach, sowohl für die Menschen auf als auch für die hinter der Bühne (bzw. den Reglern).

Für viele Oldschool-ROADBURNer dürfte der nachfolgende Auftritt, ebenfalls auf der rund 2000 Menschen fassenden Hauptbühne des 013, ein Hauptgrund für den Ticketkauf gewesen sein: Die legendäre US-amerikanische Sludge-Band KYLESA steht erstmalig seit zwölf Jahren wieder auf der Bühne – und spielt auf, als ob nichts gewesen wäre. Laura Pleasants und ihre Mannen zeigen sich spielfreudig, ausgesprochen gut gelaunt und energetisch. Die großen Hits wie „Don’t Look Back“ dürfen natürlich nicht fehlen und das Publikum feiert den durchaus auch Hardcore-lastigen Sound der Band ausgelassen. Es gibt sogar einen kleinen Moshpit vor der Bühne – keine Selbstverständlichkeit auf dem ansonsten eher gesetzten Festival.
Noch etwas geplättet von der Anfahrt am Mittwoch entscheiden wir uns im Anschluss gegen 19 Uhr für eine etwas großzügigere „Mittagspause“ und beschließen, zum Essen irgendwo einzukehren. Das mit dem Essen ist auf dem ROADBURN übrigens auch so eine Sache: Es gibt, oftmals durch das festivalbegleitende Offroad-Programm bei kooperierenden Restaurants in Venue-Nähe „ROADBURN-Menüs“ (z. B. bestehend aus Burger, Beilage und Bier für um die 20 Euro) und natürlich auch eine große Bandbreite an Foodtrucks auf dem Festivalgelände, die aber nicht unbedingt zu den günstigsten Alternativen gehören. Es lohnt sich, die Angebote aller in Laufnähe befindlichen Restaurants oder Imbissbuden (man ist ja in einem Stadtzentrum) zu studieren. Merklich unter 15 Euro für ein vollumfänglich sättigendes Mittagessen kann aber eine Herausforderung sein (wobei natürlich auch der Gang zu einem der zahlreichen Supermärkte eine Option sein kann, wenn eine Brotzeit auf der Parkbank reicht). Immerhin gibt es auch für vegane Festivalbesucher*innen wirklich viele Möglichkeiten, außer Pommes etwas Leckeres zu finden. Die Bierpreise sind in Ordnung: 5,60 Euro für einen halben Liter nach bayerischen Maßstäben gut trinkbares Bier sind für Festivalverhältnisse okay, zumal man in den umliegenden Bars je nach Sorte bis zu acht Euro zahlt.

Gegen 21 Uhr bewegen wir uns ein weiteres Mal Richtung Hauptbühne, diesmal auf den Balkon, der eine großartige Sicht bei minimalsten Soundeinbußen ermöglicht, gerade am Geländer in der ersten Reihe: Die Post-Hardcore-Band ENVY gibt sich die Ehre und präsentiert auf ihrem ersten von insgesamt zwei Festivalauftritten „A Dead Sinking Story“ aus dem Jahr 2003 in voller Länge – und das auf höchstem Niveau. In den ruhigeren Momenten Mogwai nicht unähnlich, weiß die Band das gebannte Publikum auch in härteren Passagen emotional mitzureißen. Ein wirklich toller Auftritt der hochprofessionellen und emotional glaubwürdigen Japaner.
Zum Abschluss des ersten ROADBURN-Tages gibt es im Anschluss (wieder auf der Hauptbühne) eine fulminante Ganzkörpermassage von THE BUG. Der Dub-Techno-Künstler lässt vor Konzertbeginn erstmal den kompletten, über 2000 Menschen fassenden Jupiter-Saal vollständig zunebeln. Schemenhaft erkennt man auf der Bühne vier Acht-Zehner-Ampeg-Bassrigs, zwischen denen Kevin Martin sein elektronisches Arsenal aufgebaut hat (ähnlich dem Aufbau eines DJs), um sein Doppelalbum „Machine“ zu präsentieren. Und auch hier zeigen sich die Vorzüge der qualitativ hochwertigen Saalanlage, die in den tiefen Frequenzen (und davon gibt es hier genug) wirklich liefert. Musikalisch bekommt man … ja, schon so etwas wie Techno mit latenten Dub-, Dancehall- und Hip-Hop-Einflüssen auf die Ohren, durchaus tanzbar, aber nicht überfordernd – was auch dazu führt, dass das für die anwesende Zuhörerschaft (Anzahl unbekannt, man sieht vor lauter Nebel einfach nichts) gut funktioniert und (mutmaßlich) jede*r seinen Spaß hat. Hier zeigt sich wunderbar, wie gut es das ROADBURN versteht, genrefremde Künstler organisch in das Festival-Line-up zu integrieren, ohne dass es „negativ“ auffällt. „Redefining Heaviness“ eben.

Nach einem letzten Bierchen geht es um 1 Uhr mit dem (mit circa 70 Euro für alle Festivaltage nicht ganz günstigen) Busshuttle zurück ins benachbarte Eindhoven ins Hotel. Leider ist es beinahe unmöglich geworden, während des ROADBURNs direkt in Tilbug unterzukommen – zumindest, wenn Geld eine Rolle spielt (Hotelzimmer im vierstelligen Bereich pro Nacht gibt es hier und da noch). Wer kein Problem mit kühleren Temperaturen und weniger Komfort hat, entscheidet sich für die Camping-Option auf dem „Stadscamping“-Platz unweit des Tilburger Stadtzentrums. Vermutlich die günstigste Option. Hotelzimmer und Air-BnBs scheinen innerhalb einer Festivalreisegruppe von Generation zu Generation weitergegeben zu werden – da kommt man nur über Verbindungen rein. Also nächtigt ein inzwischen nicht unwesentlicher Teil des Publikums in Eindhoven, was aber durch die gute Bahnverbindung (20 Minuten Fahrzeit, aber nochmal neun Euro für die einfache Fahrt) und die besagten Nachtbusse kein Drama ist. Außerdem sind die Unterkunftspreise halbwegs fair, ein bisschen Recherche vorausgesetzt.
Freitag, 18.04.25 – Tag 2
Den zweiten Festivaltag lassen wir auch etwas ruhiger angehen, schlafen aus, frühstücken gemütlich im Foodpark von Tilburg (untergebracht in einem alten Lokschuppen direkt am Bahnhof, wunderbar hergerichtet, mit so ziemlich jeder Art Foodtruck, die vorstellbar ist – Preise moderat). Es gibt Pancakes für die eine Hälfte der Reisegruppe und Gyros für den Rest (was die Bandbreite an kulinarischen Möglichkeiten ganz gut verdeutlicht). Dazu guter Kaffee und Orangensaft, inzwischen strahlender Sonnenschein bei ungefähr 16 Grad – it could be worse.
Gegen 15 Uhr geht es dann wieder Richtung Hauptbühne, denn die italienischen Doom-Rocker MESSA spielen ihr vor einigen Tagen erschienenes, ganz hervorragendes Album „The Spin“. Es folgt ein stimmungsvoller, sowohl spiel- als auch tontechnisch perfekter Auftritt einer sympathischen Band, die sich merklich freut, ihren neuesten Streich auf dem ROADBURN vor einem so großen Publikum präsentieren zu dürfen. Als die Band für einen längeren, jazzigen Zwischenpart eine Trompete auffährt, hätte man eine Nadel im Saal fallen hören können, so gebannt lauschten rund 1500 Menschen den Italienern um Sara Bianchin. Ein ganz wunderbares Konzert und ein guter Start in den musikalischen Tag.
Es folgt der zweite ENVY-Auftritt, wieder auf der Hauptbühne. Diesmal konzentrieren die Japaner sich auf ihr neueres Material und das aktuelle Album „Eunoia“ aus dem letzten Jahr. Eine gewisse Reife, die dem Material im Vergleich zur gestrigen Songauswahl innewohnt, sorgt dafür, dass der zweite Auftritt nochmal intensiver, ausgefeilter und einfach mächtiger daherkommt, als wir im Vorfeld vermutet hätten. Immerhin liegen über 20 Jahre zwischen „A Dead Sinking Story“ und „Eunoia“, was die Entwicklung der Band hervorragend nachvollziehbar macht. Auch ein schöner Nebeneffekt der beiden extrem guten Auftritte der sechs sympathischen, introvertierten Japaner.

Im Anschluss die erste Überraschung: Via Timesquare-App wir der erste „Secret-Gig“ verkündet. Das ist schnell erklärt: Es gibt mit dem Skatepark (ja, wirklich, sieht aus wie ein Tony-Hawk-Level und ist riesig, gleich um die Ecke von der Hall Of Fame) eine weitere Venue, auf der Bands gerne noch ein zweites Konzert, mehr oder weniger unangekündigt, spielen. Wer besagte App auf dem Smartphone inkl. aktivierter Push-Alerts installiert hat, wird – manchmal Stunden, manchmal sehr kurzfristig (dazu später mehr) – informiert und kann sich frühzeitig um den Zugang kümmern. Denn wenn eine der größeren Bands dort spielt und man nicht rechtzeitig vor dem Eingang eingereiht ist, kommt man aus brandschutztechnischen Gründen nicht mehr rein – ist also dann ein wenig stressiger, muss man wollen. Für die Bands stellen die Konzerte im Skatepark allerdings auch eine besonderen Herausforderung dar: Das Publikum steht bei vollem Tageslicht keine 50 Zentimeter vor den Musiker*innen und sieht ganz unbeschönigt … alles. Keine Lightshow, kein Nebel, nichts, hinter dem man sich verstecken könnte. Und so ist auch der Sound: irgendwie roh, aber keinesfalls schlecht. Für Punk- oder Hardcore-Bands ist der Skatepark-Gig eine Art Heimspiel, während Black-Metal-Bands es als ungewohnt empfinden dürften, hier zu spielen.
Heute spielen hier die Drone-Noise-Rocker BIG BRAVE. Die sympathischen Kanadier*innen waren häufiger in den letzten Jahren auf den verschiedenen Bühnen des Festivals zu sehen und ihr eigentlich sperriger Sound kam mit dem letzten, sehr schönen Album „A Chaos Of Flowers“ beinahe zugänglich-melodisch daher. Besagtes Album werden sie am Sonntag spielen, heute gibt es eine dreiviertelstündige Tour durch die Diskografie der Band, die sich extrem gut gelaunt und publikumsnah zeigt. Man spürt, dass sich das Quartett auf dieser speziellen Bühne (wie aber auch auf jeder anderen) sehr wohl fühlt.
Um THE BODY machen wir, wie auch am Tag davor beim Kollabo-Gig mit der Elektronik-Avantgarde-Künstlerin DIS FIG, einen großen Bogen. So geil das instrumental ist, so fertig macht uns der „Gesang“. Kunst liegt eben auch immer im Auge des Betrachters bzw. Ohr des Hörers. Wir sind uns immer noch unschlüssig, ob das ein Fehler war – zumal das natürlich auch nicht die einzige Band ist, die wir nicht sehen werden. Vielleicht war es ein Fehler, dieses Jahr ganz bewusst keine Recherche im Vorfeld zu betreiben, sondern die persönlichen Pflichttermine wahrzunehmen und sich beim Rest einfach mal treiben zu lassen, ohne Stress und Hetze. Einziger immer noch offener Programmpunkt: Wir haben es in den ganzen letzten Jahren immer wieder versäumt, uns mal eine Show im Jazzclub PARADOX anzuschauen (leider ist der Laden fünfzehn Gehminuten entfernt). Das muss irgendwann mal nachgeholt werden, passt aber immer so schlecht ins Konzept, weil man auch hier tendenziell früh da sein sollte, um noch ein Plätzchen zu bekommen. Aber wie auf jedem Festival gilt: Man kann unmöglich jedes Konzert anschauen und aufgrund des tendenziell anspruchsvolleren Charakters der Musik braucht man auch manchmal eine halbe Stunde, um das gerade Gesehene und Gehörte angemessen zu prozessieren.

Wir entscheiden uns für die Easy-Listening-Variante, also heiter weiter mit CAVE IN, die ihr „Jupiter“-Album (auch schon wieder 25 Jahre alt) komplett spielen. Hier weiß man, was man bekommt: Irgendwo zwischen Post-Hardcore, Alternative Metal und einfach gutem Rock in Foo-Fighters-Stadion-Qualität zeigen die Amerikaner wieder einmal, warum sie für eine gewisse Szene diesen Stellenwert haben – und auch zu den am meisten unterschätzten Bands aller Zeiten zählen dürften. Gewohnt gut und sympathisch umgesetzt, gehen die Songs ähnlich gut runter wie das inzwischen zehnte Bier (komisches Zeug, betrunken macht es halt auch nicht so richtig).
Der Abschluss des zweiten Festivaltages wird dann nochmal richtig heavy: Die Südstaaten-Sludge-Truppe THOU spielt ihr neues Album „Umbilical“. Seit die Amis 2019 sogenannten „Artist In Residence“ waren (dazu später mehr), gehören sie quasi zum ROADBURN-Inventar und tauchen immer wieder mal, auch unangekündigt, auf … was eine Art Running Gag wurde. Der mächtig groovende Sound macht Laune, skurril mutet das Visual-Konzept an: Eine kompakte Videorekorder-Röhren-TV-Kombination spielt eine Art Meditationsvideo ab, in dem eine monotone und wirklich entspannte Männerstimme den Weg zur spirituellen Selbstfindung beschreibt – was durch THOUs gewaltige Soundwände wunderbar kontrapunktiert wird. Macht immer wieder Spaß und die Band hat auch einfach einen guten Humor.
Samstag, 19.04.25 – Tag 3
Als Musikredakteur mit dem inzwischen beinahe zwanghaften Verhalten, in Sachen Künstler*innen und Bands aus dem breitgefächerten ROADBURN-Kosmos möglichst gut auf dem Laufenden zu sein, halte ich mich für rund 320 Tage im Jahr für einen gut informierten Menschen. Dann kommen die Line-up-Ankündigungen und ich stelle jedes Jahr aufs Neue fest, dass ich nur rund die Hälfte kenne – was in den vergangenen Jahren einen gewissen Rechercheaufwand bei der Vorbereitung nach sich gezogen hat, auf den wir dieses Jahr mehr oder weniger bewusst verzichtet haben. Unsere Reisegruppe mag keinen Black Metal, ist aber ansonsten durchaus open-minded. Letztendlich wird eine bunte Mischung an Stilen und eine gewisse Flexibilität bei der Durchführung des Plans gewünscht. Das bedeutet zwar einerseits eine gewisse Freiheit, andererseits aber auch das ständige Gefühl, etwas zu verpassen, was man gar nicht oder anders als vermutet auf dem Radar hatte. Umgekehrt stolpert man aber auch immer wieder über positive Überraschungen – es ist halt Fluch und Segen zugleich.
Unser ursprünglicher Plan sah vor, mit WITCH CLUB SATAN (feministischer Black Metal, aktuell ziemlich gehyped) im Engine Room zu starten. Leider waren wir etwas zu spät dran, um noch hineinzukommen – zumal neben diesem ersten Konzert des Tages niemand anderes parallel spielt. Egal, die Sonne scheint und wir genießen ein Bierchen im Biergarten des „Raw“, einem coolen Restaurant nicht mal fünf Minuten vom Festival-Gelände entfernt (und im selben „urban-decay“-Industriekomplex wie Club Smederj, Hall Of Fame, Engine Room und Terminal – passt also zum Eingrooven wunderbar). Dort versumpfen wir ein wenig, sparen uns DODHEIMSGARD und beschließen dann, dem Nachwuchs eine Chance zu geben: Wie schon im letzten Jahr spielt in der Hall of Fame eine lokale Metal-Band der „Metal Factory Eindhoven“ (ja, tatsächlich eine private Hochschule für Metal) ihren ersten Gig. Diesmal HAATDRAGER, laut ROADBURN-Festival-Heftchen eine Mischung aus Sludge und Hiphop. Klingt spannend …
… und ist herausragend gut! Fette Gitarrenbretter, dystopisch-atmosphärische Elektronik, gerappte und geshoutete Vocals von einer wirklich energetischen Frontfrau mit Hardcore-Attitüde. Das funktioniert wirklich ganz ausgezeichnet und ist eine frische, keinesfalls totgehörte Mischung. Kann man machen, super Konzert und wieder eine Band kennengelernt, über die man so vermutlich nicht so schnell gestolpert wäre.
Die Timessquare-App meldet, dass PHARAOH OVERLORD im Skatepark spielen. Da wir eh in unmittelbarer Nähe sind, beschließen wir, den uns unbekannten finnischen Künstlern eine Chance zu geben … und werden Zeugen einer äußerst seltsamen Synthwave-Elektronik-Show mit Urschrei-Therapie-artigem Gesang und klassischen Opern-Anleihen, auf eine Helge Schneider nicht unähnliche Art selbstironisch umgesetzt. Das Ganze wieder bei völligem Tageslicht, was die Show umso schräger macht.
Hochmotiviert und bestens gelaunt schlendern wir anschließend in den Terminal, wo die New Yorker Avantgarde-Hardcore-Band UNIFORM ihr letztes (leider sehr sperriges) Album „American Standard“ darbieten möchte (das ich nicht wirklich mag – trotzdem will ich der Sache live eine Chance geben und hoffe insgeheim auf einen Secret Gig im Skatepark, auf dem die Truppe älteres Material präsentiert). Nach 15 vielversprechenden Minuten kippt das Ganze leider wirklich wie erwartet in … Kunst. Also Noise mit repetitiven Vocal-Phrasen, wirklich sehr laut und sehr anstrengend … aber wir müssen uns ohnehin langsam auf den Weg zur Hauptbühne machen.

Denn da spielen SUMAC (die experimentelle Sludge-Band um Ex-Isis-Mastermind Aaron Turner) zusammen mit MOOR MOTHER (am ehesten in die Schublade „schräger Hip-Hop“ einzuordnen) ihr in diesen Tagen erscheinendes Kollabo-Album „The Film“. Und das ist heavy, noisy, disharmonisch, aber irgendwie ziemlich geil, da fordernd und intensiv im besten Sinne. SUMAC sind trotzdem nicht für jedermann, es ist jedoch sicherlich hilfreich, Grundmechanismen des Jazz zu mögen und vielleicht im Ansatz sogar zu verstehen. Schon komisch, wie das Gehirn am dritten Tag kontinuierlicher Rauschmittelzufuhr einfach aufgibt und es klaglos hinnimmt, nein, sogar Freude dabei empfindet, sich akustisch einmal mehr verkloppen zu lassen.
Kurze Pause fürs Abendessen, es gibt eine große Portion gebratene Nudeln aus dem Xu Noodle Shop (eine der günstigeren und wirklich sattmachenden Offroad-Alternativen in Laufnähe). Im Anschluss gehen wir spontan in den Skatepark, wo die Avantgarde-Black-Metal-Band PONTE DEL DIAVOLO ein Set aus alten EPs und Demosongs spielt. Das ist ziemlich cool, da die rauen, ungeschliffenen Songs überraschend gut in das Skatepark-Ambiente passen. Obwohl es für die Italiener ungewohnt scheint, ohne Lightshow bei Tageslicht zu performen, haben sie spürbar Spaß – auch wenn der stechende Blick der charismatischen Frontfrau Erba Del Diavola ein wenig spooky ist. Wie im ROADBURN-Facebook-Forum in den nachfolgenden Tagen nachzulesen ist, gehen nicht nur wir davon aus, verhext worden zu sein.

Von da aus gehen wir weiter Richtung Engine Room, wo wir DOODSESKADER sehen wollen. Das Duo, bestehend aus Ex-Amenra-Basser Tim De Gieter und Sigfried Burroughs, spielt eine merkwürdige, aber coole Mischung aus Elektronik, Industrial, Nu Metal und Post-Hardcore. Es ist live wirklich richtig und intensiv, wie man bereits im Vorprogramm von Alcest Ende 2024 feststellen konnte. Auch hier enttäuschen die beiden nicht, die Hütte brennt, im besten Sinne. Die tanzbaren Grooves, der verzerrte Bass, die technoid anmutende Elektronik in Verbindung mit den großflächigen Visuals lassen beinahe so etwas wie Club-Atmosphäre aufkommen. Immer wieder großartig.
Das war eine gute Einstimmung für das letzte Konzert des Tages und ein potenzielles Highlight des Festivals: CHAT PILE sind nach zwei Jahren zurück auf der Main Stage und ihre groovige Mischung aus u. a. Noise-Rock und Alternative-Grunge bringt den Laden wortwörtlich zum Erbeben. CHAT PILE sind eine Urgewalt, wie eine Art Nemesis von Rage Against The Machine – ähnliche Wucht und Intensität, ähnlich tightes Zusammenspiel. Der etwas schräge Humor des Frontmanns bietet für Freunde absurder Ansagen einen echten Mehrwert, wobei es auch mal kurz ernster wird, als der Nahostkonflikt oder das Thema Transrechte zur Sprache kommen. Großer Applaus für diesen wieder einmal fantastischen Auftritt. Den 2023-Mitschnitt des ersten Chat-Pile-Gigs in Europa kaufe ich am selben Tag im Merchzelt – inklusive besagter absurder Ansagen, juhu.
Sonntag, 20.04.25 – Tag 4
Wir werden alt, die letzten Tage (und zu viel Bier, zu viel Stehen, zu viele Rauchwaren) fordern ihren Tribut. Also gönnen wir uns ein ausgiebiges Frühstück im „Raw“, das sah gestern vielversprechend aus. Es gibt ominöse in Baguette eingebackene Eier, die uns aufgrund einer Fehleinschätzung bezüglich der in Anbetracht des Preises zu erwartenden Menge unmittelbar in ein Fresskoma bei Bier und strahlendem Sonnenschein führen. Wir rechtfertigen das Herumlungern damit, „nochmal die Atmosphäre am letzten Festivaltag genießen“ zu wollen, shoppen noch ein bisschen Merch und lassen VUUR einfach mal vuur sein.
Erst um 16 Uhr schleppen wir uns zu den uns unbekannten Japanern ENDON im Terminal, in Erwartung von etwas Tanzbarem, Motivierendem. Leider bekommen wir das exakte Gegenteil in Form von schrägen elektronischen Noise-Flächen und Schreigesang.
Also rüber zur Hauptbühne, da spielt FRENTE ABIERO eine laut Veranstalter legendäre Mischung aus Flamenco und eher klassischem Rock. Das ist cool, passt zum Wetter, wird aber in Sachen Gesang schon auch arg pathetisch und anstrengend, was die Visuals von Leichenbildern aus (Drogen-?)Kriegsgebieten nicht besser machen. Es wirkt insgesamt schon musikalisch wertvoll, aber auch wie eine Salma-Hayek-Sterbeszene in Zeitlupe, inszeniert von Robert Rodriguez Mitte der Neunziger – und das Ganze auf rund 45 Minuten gestreckt.
Wir begeben nus nochmal zum Terminal, um dem „Artist In Residence“ eine Chance geben (hier nun kurz erklärt: Ein/e Künstler*in/Band, der/die an jedem Festivaltag in verschiedenen Venues unterschiedliche Sets spielt – ein spannendes und vielfältiges Konzept): MIDWIFE ist Singer-/Songwriterin Madeline Johnston und sie macht genau das, was man aufgrund dieser Beschreibung erwarten möchte, sehr, sehr gut: Elektronisch verfremdete und unterkühlte Stimme, angezerrte E-Gitarre, sonst nichts. Das regt zum Träumen und Gedanken-Schweifen-Lassen an, ein toller Soundtrack zum Kopfkino. Aber doof, wenn man echt nicht mehr ganz frisch ist und Lust auf etwas Energetischeres hat. Wir bleiben rund 20 Minuten und machen uns wieder auf den Weg zur Hauptbühne – was nach einigen Tagen Festival-Lifestyle auch zunehmend skurriler erscheint, denn dafür muss man eine große zentrale Kreuzung mit vielen Ampeln und Radwegen und eine kleine Unterführung erfolgreich passieren (legt euch niemals mit einem niederländischen Radfahrer an, die machen euch platt … und Verbrenner-Rolller dürfen auch die Radwege benutzen!). In letztgenannter sitzt einfach jedes Jahr seit der Pandemie ein Akkordeonspieler, der zu eher miesen Keyboardbeats repetitive Standardmelodien spielt und sich über jeden Cent freut. Im Prinzip ist er der Soundtrack zu den stetigen Wechseln zwischen den Venues, einer verlangsamten Benny-Hill-Comedy-Szene auf Gras nicht ganz unähnlich. Er wurde dieses Jahr offiziell in die ROADBURN-Community aufgenommen, hat von den Veranstaltern ein offizielles T-Shirt bekommen und wird 2026 wahrscheinlich einen Secret Gig im Skatepark spielen.

Weiter zum nächsten Programmpunkt, SUMAC spielen ihren zweiten ROADBURN-Gig: diesmal das letzte Album „The Healer“, standesgemäß auf der Hauptbühne. Und um es kurz zu machen: Es ist eine Offenbarung. Technisch komplex, super gespielt und gemischt, ultrafett, noisy, aber dann doch zugänglich genug, um es wirklich gut zu finden. Ganz großes Kino, Jazz in Sachen Zusammenspiel/Improvisation eben nicht unähnlich – und komischerweise wohl genau das, was unsere Gehirne gebraucht haben. Ironie des Schicksals, dachte ich im Vorfeld doch, dass es genau hier und jetzt Diskussionen in der Reisegruppe über den weiteren Ablauf geben könnte. Der Sound ist eben auch anstrengend. Aber wie das Schicksal so spielt, wird dieses Konzert fraglos zum Highlight des Sonntags und auch ganz allgemein ein Höhepunkt des gesamten Festivals. Es ist einfach ein ganz bestimmter Zustand nötig, damit SUMAC funktionieren, und irgendwie haben wir den heute rein zufällig ganz genau erwischt.
Begeistert geht es zum Abendessen – nochmal asiatisch, weil es am Tag davor lecker war und schnell ging. Dann die Schocknachricht: Secret Gig von UNIFORM und THOU im Skatepark, viel zu kurzfristig angekündigt, oder ich habe den Alarm verpasst (was ansonsten aber nie passiert ist). Mist! Etwas genervt werden die gebratenen Nudeln heruntergeschlungen und wir sind kurz unschlüssig, wo und wie wir das ROADBURN FESTIVAL 2025 enden lassen wollen.
Die einzige Venue, in der wir bisher keine Band gesehen haben, ist die Next Stage, eine maßstäblich verkleinerte Hauptbühne im selben Gebäudekomplex. Eher klein, insgesamt schon cool, aber oftmals sehr voll. Man muss früh da sein, um einen passenden Platz zu bekommen (natürlich abhängig davon, wer spielt). Hier präsentieren die Belgier POTHAMUS ihren neuesten Streich „Abur“ und ihr groovig-treibender Post-Metal mit sphärisch-rituellen Anleihen lullt hervorragend ein und lässt Zeit und Raum vergessen.
Wir entscheiden uns spontan, zu bleiben und schauen uns noch das Duo MONG TONG aus Taiwan an, die ein teils elektronisches, teils akustisches Indie-Surfpunk-Dance-Electronica-Set performen – und das mit verbundenen Augen. Mit teilweise vorproduzierten Beats, teilweise live erzeugten Piano-, Percussion-,Bass- und Gitarrenelementen reißen die beiden die begeisterte Zuschauermenge ein letztes Mal mit. Ein toller Festivalabschluss, der ein gut gelauntes Festivalpublikum zurücklässt.
Wieder einmal konnte das ROADBURN FESTIVAL seinen Status als eines der führenden Musikfestivals weltweit untermauern, wenn es um unkonventionelle, harte Musik unterschiedlicher Genres geht – was es auch einzigartig macht. Klar, das dunk!-Festival in Belgien oder das ArcTanGent in Großbritannien schlagen in eine ähnliche Kerbe, sind aber stilistisch dann doch nicht ganz so breit aufgestellt. Leider ist auch in diesem Jahr wieder eine leichte Preissteigerung in allen Bereichen des Festivals festzustellen: Festivaltickets, Getränke an den Bars, aber auch Essen in den Restaurants, öffentlicher Nahverkehr, der morgendliche Kaffee, Lebensmittel in den Supermärkten, Unterkunftskosten … alles ist ein paar Prozent teurer als im Vorjahr. Und 2026 wird das vermutlich wieder so sein, was das ROADBURN schon zu einem exklusiveren Event macht, wenn man mögliche Kosten durchkalkuliert. Aber wie mehrfach erläutert: Es geht auch spürbar günstiger, als wir das gelöst haben, wenn man Komforteinbußen in Kauf nimmt (Camping). Wir sehen den Aufenthalt auch als komfortablen Urlaub, eine Art musikalische Bildungsreise. Und wer sich darauf einlässt, wird mit vier Tagen exquisiter Musik (fünf, wenn man die Mittwochs-Pre-Party THE SPARK mitzählt – dieses Jahr haben THOU und TEMPLE FANG gespielt) in toller Gesellschaft sowie einzigartiger Atmosphäre in einem einmaligen Umfeld belohnt. Das ist schon auch ein einzigartiges Gesamtpaket. Bis 2026!
Freut mich, dass Dir der Einblick gefallen hat. Wie schon geschrieben ist das tatsächlich auch bei mir oftmals der Fall, aber inzwischen sehe ich das als eine Form von Freiheit, in deren Rahmen es viel Spannendes zu entdecken gibt… Viel Spaß beim Reinhören ;-)
4-Tages-Festival und ich kenne wirklich keine einzige Band im Line-Up, nicht mal vom Namen :D Aber der Bericht war interessant und ich werde bei einigen Bands mal reinhören. Danke für den Bericht!