Review Abydos – Abydos

Dass die Kaiserslauterner Vanden Plas weit abseits von der gesichtlosen Progressive Metal-Masse stehen, weiß auch der Laie spätestens seit unserem Interview mit Bassist Torsten Reichert. Dafür sind die musikalischen Interessen und Backgrounds der Truppe, insbesondere des charismatischen Sängers Andy Kuntz, viel zu breit gefächert. Neben seiner bekannten Kompetenz als Sänger, Songschreiber und Produzent hat er sich auch als Maler und Musicaldarsteller (spielte z.B. dieses Jahr den Judas in „Jesus Christ Superstar“!) hervorgetan, und beide Talente spielten eine Rolle im Entstehungsprozess seines ersten Soloalbum mit dem Titel „Abydos“.
Der Titel geht zurück auf einen Ort im antiken Ägypten, an dem vor 1500 Jahren zu Ehren des Gottes Osiris Mysterienspiele stattfanden; da Kuntz im letzten Jahr den Abschied von vier ihm nahestehenden Menschen verwinden musste, geriet das Werk gewissermaßen zu seinem persönlichen Abydos. Der Untertitel, „the little boy´s heavy mental shadow opera about the inhabitants of his diary“, lässt auf die zweite klassische Progressive Rock/Metal-Oper 2004 hoffen – zwar kann ich in Ermangelung eines Booklets nicht über die Qualität des Konzepts und der Lyrics urteilen, doch merkt man recht schnell, dass “Abydos” irgendwo zwischen einem Fantasy-Märchen, einem autobiografischen Drama und einer Ode an die Kraft der Kunst und Musik steht. Jedoch ist das, was auf der CD zu hören ist, nur als eine Art Testversion zu verstehen, denn dem Album soll ein eigens geschriebenes Theaterstück folgen!

Die dazugehörige Musik erschuf Kuntz mit zwei Sessionmusikern, die alle melodietragenden Instrumente einspielten, und seinem Bandkollegen Andreas Lill am Schlagzeug. Das Ergebnis ist ein musikalisches Konglomerat, das man in einer solchen Farbenpracht und Detailverliebtheit nur von Arjen Lucassen kennt. Für das Rückgrat der meisten Songs hat man sich nur die Rosinen aus dem Prog Metal-Kuchen herausgepickt, nämlich Queensryche und Dream Theater, stellenweise auch Psychotic Waltz, während in ruhigeren Momenten der Einfluss alter Artrock-Größen wie IQ und Genesis bzw. des ebenfalls schauspielerisch ambitionierten Peter Gabriel durchschimmert.
Dieses hartmetallische Endoskelett, das gelegentlich härter und düsterer tönt als das letzte Vanden Plas-Studiowerk, wird dann mit einer Vielzahl von Sounds unterschiedlicher Musikrichtungen ausgepolstert – da stehen wuchtige Pianoparts, wie man sie in dieser Form am ehesten von Savatage kennt, neben feurigen Flamenco-Akustiklicks, treffen breite Orgelteppiche im Neo Prog-Stil auf Synthsounds wie aus einem antiquierten Heimcomputer, kehrt sich der Gesamtsound vom Metal zum radiokompatiblen Romantik-Rock und wieder zurück. Kuntz´ Musicalerfahrung macht sich vor allem durch den äußerst flächendeckenden Einsatz eines Orchesters bemerkbar, der sich, anders als bei vielen Power Metal-Bands, nicht bloß auf zuckrig-klebrige Streicher beschränkt, sondern auch Flöten, Oboen und Hörner umfasst. Die voluminösen Chorarrangements, die besonders in den balladeskeren Stücken auftauchen, klingen ebenfalls nicht nach einem schnöde vervielfachten Sänger, sondern nach einem kompletten Bühnenensemble!
Da will natürlich auch Kuntz selbst nicht negativ auffallen und präsentiert sich in ähnlich bestechender Form wie im Jahre 2002. Zwar findet man auf „Abydos“ auch einige Plas-typische, treibende Refrains vor, doch brilliert „die deutsche Antwort auf Don Dokken“ vor allem in den zahlreichen emotionalen Momenten des 70-minütigen Werks. Mit Mut zum ehrlichen Pathos und einer Mischung aus Melancholie und kindlicher Naivität und Hoffnung geht sein Gesang tief unter die Haut – wenn sich dann noch der erwähnte Chor einschaltet, ist die Gänsehaut vorprogrammiert.
Zu guter Letzt bekam „Abydos“ ein makelloses Soundgewand verpasst, das kein Instrument zu sehr in den Vordergrund rückt – Andreas Lills Drums klingen sogar so subtil und rhythmusorientiert, dass man sie kaum bewusst wahrnimmt, während die Songs selbst komplex, aber stimmig arrangiert und nicht nur auf einzelne Passagen ausgerichtet sind.

Das obligatorische Instrumental-Intro dient vor allem dazu, die progressiven Muskeln zu lockern, auch wenn diese während „You Broke the Sun“ im Grunde nicht besonders arg beansprucht werden. Dieser frühe Standout-Track beginnt tatsächlich wie Savatages „A Little too Far“ und baut stark auf Kuntz´ Stimme, eingerahmt von warmen, sanften Melodien. Im Mittelteil und dem bombastischen Finale kommt dann durch flinke Streicher gesteigerte Dramatik auf… beinahe der Spannungsbogen eines kompletten Albums, reduziert auf fünfeinhalb Minuten. Eine runde Sache.
„Silence“ tönt schon eine Stufe grobkörniger und rückt die Instrumentalisten stärker in den Mittelpunkt des Interesses – das Ergebnis: eine Schlacht mit überraschenden Übergängen, die sich vor den Ausschweifungen auf Dream Theaters „Scenes from a Memory“ nicht unbedingt verstecken muss. Ein Refrain, der sich, in Gesellschaft von „Nightwalker“ und „Cold Wind“, auch auf „Beyond Daylight“ gut eingefügt hätte, sorgt für die nötige Portion Eingängigkeit.
„Far Away from Heaven“ hingegen geht mit seinen ausgedehnten Klavierparts und der ansonsten eher auf Gefühl bedachten herkömmlichen Instrumentierung schon beinahe als lupenreiner AOR durch (was auch nicht schlecht zu Kuntz´ Stimmlage passt)… der wirkungsvolle Einsatz des Musical-Chors am Ende wirkt diesem Klischee jedoch entgegen.

Die Mitte des Albums gebührt, wie so oft bei Prog-Suiten und Konzeptalben, den eher härteren Klänge, hier vertreten durch das Songtrio „Coppermoon (the other Side)“ (ausnahmsweise mit reichlich Doublebase), „Hyperion Sunset“ (mit verzerrten Schrei-Vocals, aber einem herrlich melodischen Chorus) und „God´s Driftwood“. Letzteres besticht durch einen interessanten Aufbau: aus spacigen Synthies und bedrückten Akustikklängen schlüpft nach etwa einer Minute ein mächtiges Thema im besten Mindcrime-Stil, und einmal mehr kann man nicht über mangelnde Power im Refrain klagen.
Das liebliche „Radio Earth“ führt den Hörer langsam wieder zurück in sonnigere Gefilde: die Gitarre klingt hier ein wenig folkig, Andreas Lill wird zu Beginn sogar von einem poppig-leichtfüßigen Computer-Beat vertreten. Zeit für den Titeltrack und einen weiteren Stimmungswandel. In den siebeneinhalb Minuten von „Abydos“ kommt dem Orchester wieder eine sehr tragende Rolle zu; besser hat das auch ein Michael Kamen bei seiner Zusammenarbeit mit Metallica nicht zustande gebracht. So kommt genug Dramatik für ein grandioses Finale auf… bloß ist an dieser Stelle noch nicht das Ende erreicht, denn nach einer kurzen Interlüde mit sehr eigenem Namen, werden noch einmal zwei Tracks, die es zusammen auf gestandene zwanzig Minuten bringen, nachgelegt!
„Wildflowersky“ stellt den härteren dieser beiden dar und entspricht mit seiner Mixtur aus breiten Bombast-Metal-Passagen und gelegentlichen, höchst technischen Einsprengseln recht genau der aktuellen Prog Metal-Formel, wie sie Bands wie Magnitude 9 befolgen. Der barocke „Jahrmarktsmusik“-Part im Walzertakt wiederum ist wirklich ungewöhnlich.
„A Boy Named Fly“, eingeleitet durch ein konzertantes Klavierstück à la Tony Banks (Genesis), bringt dann die Geschichte zum Abschluss und alle Sehnsüchte und Träume, die während der 70 Minuten zum Ausdruck kamen, zu ihrem Höhepunkt. Entsprechend geben Kuntz, sämtliche Backingsänger und auch die drei Instrumentalisten noch einmal alles, was sie aufbringen können. Auch einige kurzfristige Schockmomente (besonders der „biological weapons“-Part klingt wie für die Musicalbühne gemacht) können nicht verhindern, dass der Song und mit ihm das gesamte Album auf einer Woge der Euphorie (und erneut einem fetten Queensryche-Riff) einem Finale epischen Ausmaßes entgegentreibt, das den Hörer mit einer monströsen Gänsehaut aus dem Theater entlässt.

Fazit: Sicher… man könnte Andy Kuntz vorwerfen, nur ein weiteres mit massig Genrezitaten gespicktes Bombastical aufgenommen und den Progressive Metal um nichts weltbewegend Neues bereichert zu haben. Ich jedoch kann auf Innovation verzichten, wenn Musik mich, wie hier der Fall, wirklich bewegt und etwas zu sagen hat – da werden auch der vorbildliche Abwechslungsreichtum und das hochwertige Handwerk zur angenehmen Begleiterscheinung. Mit einer Portion Pomp und Kitsch muss man natürlich hier und da rechnen, schließlich ist immer noch eine Rockoper, und ein Musical obendrein!
Der einzige echte Kritikpunkt, der auch greift, ist einer, den man vielen Konzeptalben ankreiden kann. Etwa ab halber Strecke schleicht sich schon der eine oder andere Moment ein, der, so spektakulär oder emotional er auch sein mag, überfrachtet wirkt und zugunsten des Gesamteindrucks wegrationalisiert hätte werden können. Auch wenn dieser Umstand klare Auswirkungen auf die Bewertung hat, gefällt mir „Abydos“ ein ordentliches Stück besser als das jüngste Vanden Plas-Epos und lässt Großes für Kuntz´ weitere Solokarriere hoffen.

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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