Review Arstidir Lifsins – Jötunheima Dolgferd

Wissenschaft muss nicht immer trocken sein. Diese vielbenutzte Phrase erhält neuen Auftrieb, betrachtet man das ambitionierte Projekt ÁRSTÍÐIR LÍFSINS. Die Gruppe um die Elite des deutschen Skandinavisten-Schwarzmetalls Stefan (Kerbenok), Jorge („Blutaar“, Drautran) und Marcel („Skald Draugir“, Helrunar) macht sich zum Ziel die mittelalterliche isländische Literatur ohne die Brille des 19. Jahrhunderts in ein zeitgemäßes Folk-Black Metal-Gewand zu kleiden. Um diesem die letzte Finesse zu verschaffen, holt man nicht nur ein Ensemble des Hochschulchors Reykjavík ins Boot, sondern verpasst der Debütplatte „Jötunheima Dolgferð“ auch noch komplett altwestnordische Texte.

Kalt wie ihr Entstehungsort – das meiste der Musik entstand auf der Insel, wo Stefan einige Zeit seines Lebens verbrachte – wollen auch die Klänge der deutsch-isländischen Koproduktion sein, was ihnen mit Bravour gelingt. Geschichten von Fehde, Neuanfang und unausweichlichem Schicksal, die in den Isländersagas noch mit einer fast erstaunlichen Heiterkeit erzählt werden, ertönen hier auf viel frostigere Weise, ganz wie man es von den Köpfen hinter den „Jahreszeiten des Lebens“ kennt. Ein großes Highlight ist schon einmal der Übergang vom Geigen- und Naturgeräusch-Intro zum ersten Track „Morgunn í grárri…“. Schnell zeigen alle beteiligten, wie sehr sie durch ihre bisherigen Erfahrungen verstehen, wie „angewandte Schwarzmetal-Nordistik“ zu klingen hat. Die Verwendung des Altisländischen erweist sich dabei durch seinen herrlichen Klang als sehr songdienlich, und keine Sorge, auch Übersetzungen für den Textliebhaber werden mitgeliefert.

An einer Stelle geht die Liebe zur Altertümlichkeit und Authentizität allerdings zu weit. Das Stück „Eigi hefr á augu…“ ist eine so genannte Ríma, eine traditionelle Ballade mit einer immergleichen Melodie und einem einzelnen Sänger, der nur an wenigen Stellen unterstützt wird. Ein bisschen Lagerfeuergeknister im Hintergrund, und ab und an hört man imaginäres Publikum schwatzen. So geht dies über fast acht Minuten und geht gewiss auch akademischen Hörern spätestens nach vier auf den Wecker. Eine übertriebene Ruhepause, die den Mittelteil von „Jötunheima Dolgferð“ vermiest.

Danach geht es wieder deutlich bergauf. Schon das folgende Stück ist wieder ein Musterbeispiel von atmosphärischer Musik, das nur noch vom letzten Titel getoppt wird. Und auch wenn „Jötunheima Dolgferð“ selten besonders schnell oder heftig wird, so versprüht sie durch ihre ausgesprochen geschickt eingesetzten Elemente Klar-, Sprech-, Chor- und Keifgesang (auch die hohen Kerbenok-Schreie sind dabei), Geige und Klavier, episch ausgebreitete Gitarrenwände und vereinzelte Synthetik-Effekte eine ganz großartige Stimmung. Vor seinem inneren Auge bauen sich so sturmgepeitschte Fjorde, Gletscher und zerklüftete Landschaften auf, dass man beinahe froh ist, vier Wände um sich herum zu haben.

Mit der „Feindfahrt nach Riesenheim“ ist ÁRSTÍÐIR LÍFSINS der fast perfekte Soundtrack für die nächste Islandreise gelungen. Kritikpunkte bestehen grundsätzlich nur im überambitionierten und unpassenden Mittelteil, ansonsten haben wir es mit einer sehr ansprechenden Platte zu tun. Die hohen Ansprüche, die die Nordistik-Metaller an sich selbst stellen, sind überwiegend eingelöst worden.

Wertung: 8.5 / 10

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