Review Ayreon – Flight of the Migrator

Prog-Crossover-Genie Arjen Lucassen hätte nach der moderat erfolgreichen Space-Oper „Into the Electric Castle“ (Top 40 in seinem Heimatland Holland) einfach auf Nummer Sicher gehen können und ein Album ähnlicher Machart einspielen können. Doch da der Terminus „stagnieren“ nicht in seinem Wortschatz enthalten ist, beschloss er stattdessen, die beiden entgegengesetzten Pole seines Stils auszuloten und das Ergebnis auf zwei separat veröffentlichten Teilen eines großen Konzeptwerks mit dem Namen „The Universal Migrator“ festzuhalten. „The Dream Sequencer“ bedient dabei die melodische, sphärische Prog Rock-Seite seines musikalischen Spektrums, während „Flight of the Migrator“ am besten als metallisch vertonter Weltall-Trip zu beschreiben ist. Und da nun auch die Ayreon im Hangar von InsideOut Music geparkt ist, gibt es beide Alben seit kurzem im Doppelpack mit extra informativem Booklet zu einem vernünftigen Preis zu kaufen.

„Flight of the Migrator“ knüpft nun da an, wo „The Dream Sequencer“ endete: der Kolonist im Dream Sequencer kam mit „The First Man on Earth“ am Beginn der Menschheitsgeschichte an, will sich aber darüber hinaus auf eine risikoreiche Odyssee durch den Weltraum begeben, vom Urknall über die Entstehung der ersten Seele (des „Universal Migrator“) bis hin zum Erreichen der Erde. Das Gesangsformat von „The Dream Sequencer“ wurde unverändert übernommen, so dass auch hier wieder ein Sänger für einen Track seine Stimme hergibt.
Passend zur hartmetallischen Ausrichtung des Werks war Arjen dieses Mal eher auf stimmgewaltige Metal-Fronter als auf charismatische und vielfältige Stimmen aus. Mit von der Partie sind Symphony X-Hengst Sir Russell Allen, Elegys Falsett-Athlet Ian Parry, Lucassens alter Vengeance-Kollege Robert Soeterboek und die größten Mikrofon-Stars der europäischen Power Metal-Szene: Ralf Scheepers (Primal Fear), Andi Deris (Helloween), Fabio Lione (Rhapsody) und Timo Kotipelto (Stratovarius). Und was Neal Morse für „The Dream Sequencer“ war, ist niemand geringerer als Iron Maiden-Legende Bruce Dickinson für „Flight of the Migrator“.
Auch instrumental hat sich Arjen wieder verstärkt unter die Arme greifen lassen, um eine beeindruckende Menge an protzigen Gitarrensoli, kreischenden Hammond-Läufen und wilden Synthie-Stürmen zusammenzutragen – unter anderem haben Shadow Gallerys Gary Wehrkamp und Michael Romeo, der „Yngwie Malmsteen des 21. Jahrhunderts“, ihre Finger bemüht.

Die sphärisch-filigranen Klanggebilde von „The Dream Sequencer“ scheinen wie weggepustet zu sein, denn hier regiert wieder die voll aufgedrehte E-Gitarre im großen Stil! Den Kern eines jeden Tracks bildet ein Heavy-Song, meist mit fleißigem Rhythmusgerüst (Ed Warby lässt Rob Snijders zurückhaltende Darbietung völlig in Vergessenheit geraten), sehr einprägsamem Midtempo-Mainriff und Refrain, der dann nach allen Regeln der progressiven Kunst ausgebaut wird, sei es mit Breaks (die meisten Stücke sind in mehrere unterschiedliche Teile gegliedert, à la „Into the Electric Castle“), fetten Streicher-Arrangements oder wie improvisiert klingenden Instrumental-Schlachten in der Tradition von Led Zeppelin und besonders Deep Purple. Dass diese Machart auch Unangenehmes mit sich bringt, ist logisch – so wird das Ende einiger Songs etwa mit schnöden Wiederholungen der oftmals reichlich „truen“ Refrains unnötig hinausgezögert.

Bei einigen der neun Stücke geht dieses Rezept prima auf. Das obligatorische Intro „Chaos“ beispielsweise ist grandios für das, was es sein soll: eine gewaltige Massencarambolage, bei der neoklassische Gitarren- und Orgellicks, schräge Frickelpassagen und mit ordentlich Doublebase versehene Drumsoli in so rasche Folge aufeinanderprallen, dass jedem Shred-Fanatiker die Geifer aus dem Mund rinnt. Das sich daran anschließende „Dawn of a Million Souls“ (Story: die Entstehung und Teilung des Universal Migrator nach dem Urknall) hätte mit seinem Dampfhammer-Riff und den herrlich groovigen Strophen sogar einen wunderbaren Single-Hit abgegeben! Russell Allen singt wie immer mit unheimlich viel Seele, im Chorus lässt sich Götterstimme Damian Wilson mal wieder blicken, und die völlig abgefahrene Solosektion wird von Russ´ Bandkollege Michael Romeo dominiert… Herz, was begehrst du mehr? Ein idealer Opener, der so richtig Lust auf den Rest des Albums macht!
Ebenfalls prächtig im Saft steht „To the Quasar“ mit Deris am Mikrofon. Die im Laufe dieser knapp neun Minuten aufgefahrenen Klangfarben reichen von filigranen Melodien über hymnische Akustikklänge bis hin zu Stakkato- und Highspeed Riffs – ständig passiert etwas Neues und Aufregendes, so dass Langeweile keine Angriffsfläche geboten wird. Deris passt seine Stimmlage dem Gebotenen gut an, hat aber einige Mühe, sich gegen die instrumentale Übermacht zu behaupten.

Zu den eher unerwarteten Highlights gehört „Out of the White Hole“… Arjen hat es tatsächlich vollbracht, Timo Kotipelto wie einen richtig coolen Sänger klingen zu lassen! Hauptsächlich dafür verantwortlich sind sicherlich die einfach nur verboten eingängigen Vocallines und Melodien, die auch gut zu einem fäustereckenden Eighties-Stadionrocker gepasst hätten; der Fairness halber muss man Kotipelto aber auch zugestehen, dass er angenehm wenig Gebrauch von seiner fiesen Kopfstimme macht. Der riff-tastische zweite Abschnitt birgt ein kurzes mit Planet Y, Geburtsstätte von „Forever of the Stars“ und Schauplatz von „Into the Electric Castle“.
Auch „To the Solar System“, die vorletzte Etappe und das vermeintliche Happy End der kosmischen Reise, begeistert vor allem durch die Brillanz seines Sängers. Robert Soeterboek klingt zu Beginn wie ein kompletter gregorianischer Chor (interessantes Detail: seine ersten Zeilen ähneln denen von Johan Edlund in „My House on Mars“), sattelt dann aber auf herrlich kitschige und natürlich passend untermalte Powerballaden-Vibes à la Whitesnake um. Da ist der Spaß beim Hören garantiert.
Der mehr oder weniger unbestrittene Climax des Albums allerdings befindet sich genau in dessen Mitte: der zehnminütige Mehrteiler „Into the Black Hole“. Im Gegensatz zum erstaunlich freundlich klingenden Rest der Scheibe herrscht hier düster brütender Bombast vor, wirklich vorzüglich umgesetzt von einem wimmernden, heulenden, leidenden Bruce Dickinson, der auch für einen der raren Gänsehaut-Momente des Werks sorgt („gazing into the eye…“). Übrigens wurde seine Performance in Sachen Intensität auf der Star One-Tour zwei Jahre später sogar noch getoppt, und zwar von Damian Wilson!

Die verbliebenen drei Tracks bestätigen allerdings einmal mehr die Gültigkeit der Redensart „Wo viel Licht, da auch viel Schatten.“. „Journey on the Waves of Time“ hat mit Ralf Scheepers einen alles andere als üblen Sänger und darüber hinaus einen durchaus originellen Mittelteil, aber dafür keine zwingend mitreißenden Melodien.
„Through the Wormhole“ hat alleine schon darunter zu leiden, hinter dem überragenden „Into the Black Hole“ plaziert zu sein, wäre aber auch sonst mit seinem monotonen Basedrum-Rhythmus und Fabio Lione, der sich nicht auf eine Stimmung einigen kann, dazu verdammt gewesen, der Stinker des Albums zu sein. Zu allem Übel könnte der unsägliche Upbeat-Refrain auch noch von jeder beliebigen Euro-Hammerschwinger-Kapelle stammen. So etwas will ich auf einem Epos, das das Ayreon-Etikett trägt, definitiv nicht hören.

Leider gehört auch der Schlusstrack „The New Migrator“ nicht zu Arjens inspriertesten Kompositionen. Abgesehen vom recht netten kirchlichen Intro gibt sich das Stück kaum als etwas Großes zu erkennen und bietet so ein eher flaches Finale, auch wenn ich das Ende der Geschichte selbst – der Kolonist stirbt durch eine Fehlfunktion des Dream Sequencer und wird selbst zum neuen „Universal Migrator“… erinnert etwas an Kubricks Space Odyssey – als gelungen empfinde.

Fazit: Einen so dichten Handlungsfaden wie den der Space Opera gibt es auch dieses Mal nicht, aber alles in allem konnte das Qualitätslevel des ersten Teils der Saga beibehalten werden. „The Dream Sequencer“ ist sowohl musikalisch anspruchsvoller und vielfältiger als auch qualitativ konstanter als sein metallisches Gegenstück, lässt aber dafür unwiderstehliche Hits wie „Dawn of a Million Souls“ etwas vermissen… letzten Endes läuft es mal wieder auf die allseits beliebte Geschmacksfrage hinaus. Beide Alben funktionieren als Einheit logischerweise besser als einzeln, und darum kann ich das Set „The Universal Migrator Part I & II“ jedem Prog-Jünger, ob nun eher feinfühlig oder robust veranlagt, empfehlen.

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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