Review Ayreon – Into The Electric Castle

Jedes Jahrzehnt hat seine großen Klassiker der anspruchsvollen Rockmusik. Die Sechziger brachten uns „In the Court of the Crimson King“, die seligen Siebziger, neben vielem anderen, die Monumente „Dark Side of the Moon“, „Selling England by the Pound“ und „Close to the Edge“. Nach dem Anflug eines Durchhängers in den Achtzigern (erwähnenswert: “Moving Pictures”, “Script for a Jester´s Tear“) erlebten wir im noch nicht allzu lange vergangenen Jahrzehnt fast schon eine Wiederauferstehung des Prog, vor allem dank Dream Theaters Überwerk „Images and Words“, während Spock’s Beard den Artrock der guten alten Zeit wieder aufleben ließen. Auch das dritte Album von Arjen Lucassens Hauptprojekt Ayreon könnte schon sehr bald in einem Atemzug mit diesen Standards genannt werden, obwohl es erst eine Handvoll Jährchen auf dem Buckel hat. Nach zwei guten, aber noch etwas unfokussierten Alben war es im Hause Lucassen nämlich Zeit für den ersten echten Geniestreich…

Um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, hat das niederländische Multitalent erneut eine illustre, teilweise durchaus prominente, auf jeden Fall aber ausnahmslos hochkarätige Truppe an Gastsänger/innen und –musikern in seinem heimischen Studio um sich geschart, die ihm bei der Vertonung seiner ambitionierten Geschichte zur Hand gehen sollten. Die Story ist im Prinzip schnell erzählt: acht Menschen aus unterschiedlichsten Epochen der Geschichte finden sich plötzlich in einer unbekannten Traumwelt wieder und werden von einer körperlosen Stimme auf eine Reise geschickt, deren Zweck ebenso wie die Motivation der Stimme lange unklar bleibt. Wie sicherlich von niemandem anders vermutet, lauern auf ihrem Streifzug um und in das „Electric Castle“ einige Gefahren, die jedoch weniger mit Monstern, dunklen Mächten und ähnlich abgedroschenem Zeug zu tun haben, sondern vielmehr im Wesen der Protagonisten begründet liegen.
Eine interessante Geschichte lebt von charismatischen Schauspielern oder, in diesem Falle, Sängern, und in diesem Punkt hat sich Lucassen sicher nicht lumpen lassen. Ex-Marillion-Samtstimme Fish geht, seinem Naturell entsprechend, ganz in der Rolle des schottischen Highlanders, den seine vergangenen Gräueltaten zu einem gebrochenen Mann gemacht haben, auf, während Damian Wilson (ehemaliger Frontmann von Threshold) mit seinem eleganten Timbre perfekt den Ritter der Tafelrunde verkörpert. Sharon den Adel von den Melodic-Metallern Within Temptation bleibt als naive Indianerin etwas profillos, dafür gefällt mir ihre Landsfrau Anneke van Giersbergen (The Gathering) in der Rolle der todessuchenden Ägypterin umso besser, zumal sie weniger jodelt als die gemeine Metal-Frontfrau, sondern einfach mit ihrer glasklaren Stimme besticht. Außer dem Meister selbst, der sich mit dem Hippie einer der interessantesten Rollen auf den Leib geschneidert hat, komplettieren drei hierzulande eher unbekannte holländische Sänger das Feld. Edward Reekers, mit dem Lucassen schon auf seinen beiden ersten Projekten gearbeitet hat, sang mit seiner angenehmen Stimme (Ende der Siebziger war er Mitglied der Edelpopper Kayak) den rätselhaften Futureman ein, während der soulig angehauchte Jay van Feggelen, für Ayreon-Hardliner ebenfalls ein alter Bekannter, sich als interessante Wahl für die Figur des unwirschen Barbaren erweist. Last but not least ist Edwin Balogh als Römer zu nennen; hier wäre Symphony X-Hengst Russell Allen die absolute Idealbesetzung gewesen, wie gut, dass Lucassen sich seiner später mit Star One annahm. Geniales Detail: jede der acht Rollen hat seine für ihn typischen musikalischen Stilmittel und literarischen Motive.

Selbstverständlich galt Reiseleiter Arjens Aufmerksamkeit auch einer leistungsfähigen Hintermannschaft sowie einem glasklaren, kernigen Sound. Gitarre und Bass übernimmt er gleich mal selbst, was für fette Heavy-Riffs, wunderbar melodische Leads und verträumte Akustikspielereien sowie einen schön trockenen Groove, der bisweilen an Iron Maidens Steve Harris erinnert, sorgt. Zusätzlich bedient er das Gros der aufgefahrenen Armada antiquierter Tasteninstrumente: röhrende Hammond-Orgeln, schräge Mellotrons und spacige Mini-Moogs bestimmen das Klangbild von Ayreon maßgeblich. Zahlreiche Gastmusikanten wie etwa Arena- und Pendragon-Keyboarder Clive Nolan und Roland Bakker, der Organist der Party-Metaller Vengeance, Lucassens ehemaliger Stammcombo, leisten instrumentale Schützenhilfe, und unter all dem tobt Ed Warby am Schlagzeug, technisch blitzsauber und erstaunlich feinfühlig für einen Drummer, der von Haus aus bei einer Death Metal-Kapelle drischt. Als besondere Dreingabe haben sich auch noch ein Flötist, ein Cellist und ein Geiger im Studio eingefunden, zur Vollendung des Retro-Flairs wurde sogar eine Sitar eingebaut.
Am Ende dieses überaus ambitionierten und aufwändigen Entstehungsprozesses steht ein Album, das seinen vollmundigen Untertitel „A Space Opera“ wahrlich zurecht trägt. Die Ayreon-Crew unter dem Kommando von Kapitän Lucassen vermischt alle denkbaren Erscheinungsformen des Rock zwischen Blues und Power Metal mit altmodischem, keyboardlastigen Prog, Klängen, die aus Filmscores oder antiker Videospielmusik stammen könnten, und vielen weiteren stilistischen Exkursionen, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Wirkliche Metal-Attacken sind rar gesät, auch kopfüber ins Gefrickel stürzen sich die Ayreonauten nur sporadisch – alles steht im Dienst von Melodie, Atmosphäre und Feeling. Zwar weisen die verschachtelten, detailreichen Tracks, unter denen drei die Neun-Minuten-Marke überschreiten, oft mehrminütige Instrumentalsektionen auf, dass ein Besuch im Electric Castle jedoch nicht nur Frickelfetischisten ans Herz zu legen ist, liegt vor allem an Arjen Lucassens untrüglichem Gespür für lebendige, sonnige Melodien, dem eindrucksvollen Zusammenspiel der acht Akteure und der grenzenlosen Abwechslung, die auch unverschämt poppige Töne nicht ausklammert.
Songtitel und Lyrics sind auf eine positive Weise Fantasy-Abenteuer-stereotyp und versprühen ein unbekümmertes Flair, wie man es sonst nur von Spock’s Beard kennt. Die reichlich vorhandenen, kürzeren Songs, meistens zwischen fünf und sechseinhalb Minuten lang, lockern das Album auf und gewährleisten, dass man es ohne weiteres in einem Zug durchhören kann, ohne danach völlig geplättet zu sein (was die Flower Kings-Doppeldecker längst nicht von sich behaupten können).

Das mysteriöse Story-Intro „Welcome to the New Dimension“ ist nur mit kurzen Gitarren- und Keyboard-Skits bestückt, so dass die ganze Aufmerksamkeit der Einleitung der Geschichte gilt. Die „Stimme“ weiht die acht Figuren in abwechselnd beruhigendem, tyrannischem und verächtlichem Ton in ihr Schicksal ein: sie müssen nichts weiter tun, als einen Weg zurück in ihre eigene Welt zu finden, wobei sofort klargestellt wird, dass einige auf der Strecke bleiben könnten…
Als echter Start der Reise agiert der mit elf Minuten längste Song des Albums, „Isis and Osiris“, der mit schönem Akustikspiel (das wirklich das Bild eines Sternenhimmels vor dem geistigen Auge des Hörers entstehen lässt) und subtilen Synthieteppichen beginnt. Fish hat die Ehre, als erster Sänger die imaginäre Bühne betreten zu dürfen, und wie die anderen vier Figuren, die hier ihre Premiere feiern, schwelgt er in Fragen nach dem Sinn seines Schicksals. Während er glaubt, Buße für seine Sünden tun zu müssen, sehen die beiden Frauen in ihrem Dilemma die Erfüllung antiker Prophezeihungen, einzig der Römer gibt sich kämpferisch und gewillt, der fremden Welt zu entfliehen. Passend dazu wird im zweiten Teil fetter Powerrock mit einer coolen Sitar-Melodie serviert. Nach einem kurzen Intermezzo beendet eine Reprise mit mehrstimmigen Keyboardsoli den Track, der das weite musikalische Spektrum des Albums sehr schön absteckt.
Ein weiterer Longtrack mit dem schönen Titel „Amazing Flight“ folgt. Der erste Teil behandelt das Aufeinandertreffen des hitzköpfigen Barbarian und des Hippies, das Jay und Arjen zum coolsten Duett aller Zeiten machen, absolut perfekt untermalt von Hammond-Orgel und bluesiger Gitarre, die Hendrix alle Ehre machen würde. Das letzte Drittel kommt erneut komplett ohne Gesang daher und bietet ein wahres Feuerwerk an Gitarren-, Klavier- und Keyboardsoli (bezeichnender Untertitel: „Flying Colours“), das vor Spielfreude und Energie strotzt und einfach nur Spaß macht. Nicht umsonst dürfte „Amazing Flight“ allgemein als das beliebteste Ayreon-Werk gelten.

„Time beyond Time“ schlägt erstmals bedächtige, ja sogar melancholische Töne an, was auch bestens zur Stimmlage des Futureman passt, der hier den ziellosen Taumel seiner Zivilisation besingt. Mit dem Auftreten des Ritters schwenkt das Stück um zu rustikalem Southern Rock, dann zu barocker Kammermusik und zurück zu sinfonischem Prog Rock. Vor dem megabombastischen Finale (mit einem Killer-Gitarrensolo!) singen die drei Akteure noch einmal ihre Texte durcheinander, muss man gehört haben!
Zwei etwas kürzere Stücke führen die Story fort. In „The Decision Tree (We´re alive)“, einem lupenreinen Poprock-Song mit sommerlicher Atmosphäre, werden die Acht vor die schwere Wahl gestellt, von welchem ihrer Mitglieder sie sich trennen wollen. Der schwermütige Fish, der hier die Hauptrolle übernimmt und mit dem erhebenden Chorus einen schönen Kontrast bildet, singt tatsächlich wieder wie zu guten alten Marillion-Zeiten! Eine schöne Instrumentalpassage (inkl. Drumsolo) beendet das Stück. Im „Tunnel of Light“ wird die Wahl dann in die Tat umgesetzt. Inmitten idyllischer, sentimentaler Akustikklänge muss dann der erste der acht Protagonisten seinen Hut nehmen…
Am Ende der ersten Scheibe steht mit „Across the Rainbow Bridge“ der vielleicht härteste Track des Albums und der Eintritt ins Electric Castle. Nach einem langen, spacigen Beginn schlägt der geile Refrain im 80er-Stadionrock-Stil ein wie eine Bombe. Vor einem mitreißend Duett von Damian Wilson und Edwin Balogh am Ende stehen galoppierende Power Metal-Riffs, so dass man toleranten Vertretern der Headbanger-Fraktion am ehesten diesen Track vorspielen sollte, um sie von den Qualitäten des Albums zu überzeugen – hat auch bei mir funktioniert.
Soviel zum in jeder Hinsicht perfekten ersten Silberling. CD 2 birgt viele unvorhergesehene, dramatische Wendungen, denn das Electric Castle, das die verbliebenen Akteure so händeringend zu erreichen suchten, entpuppt sich als trügerischer Hort der Gefahr. Dies schlägt sich sowohl in der Musik als auch in der grafischen Gestaltung des bis dahin sehr farbenprächtigen Booklets nieder – alles wird düsterer und bedrohlicher…

Nach diesen vier verhältnismäßig kurzen Songs beginnt die zweite Hälfte des Abenteuers mit einem waschechten Longtrack, denn vor dem Electric Castle muss noch der „Garden of Emotions“ durchquert werden. Das erste Drittel ist stilistisch erneut enorm vielfältig, schwankt zwischen düster-pompöser Filmmusik, luftigen Passagen und psychedelisch verzerrten Akustikklängen, zu denen der Hippie langsam Anflüge eines tiefsinnigen Charakters bekommt. Nach einem plötzlichen Break kochen zwischen dem Römer und dem Barbarian die Emotionen über, während im Hintergrund ordentlich bratende Metal-Riffs im Midtempo stampfen. Gegen Ende wird´s wieder etwas verspielter, mit mittelalterlichen Klängen und ekstatischen Keyboardläufen, als der Futureman in einem genialen Kanon versucht, seine Leidensgenossen zur Kooperation zu bewegen.
Im krassen Gegensatz dazu steht das nur zweieinhalbminütige „Valley of the Queens“, ein Gänsehaut erregendes Solostück für Anneke van Giersbergen, das mit Streichern, Flöte und einem barocken Harpsichord ganz klassisch bestückt ist. Am Eingang des Schloss wartet zuerst „The Castle Hall“, in der der Römer und der Barbarian sich mit den Seelen ihrer Kriegsopfer konfrontiert sehen. Dieser vergleichweise simple Rocker mit äußerst einprägsamem Mainriff hat neben coolen Synthiesounds im C64-Stil noch einige wundervolle Gitarren- und Flötenmelodien zu bieten.
Futureman und Hippie (deren Bedeutung für die Story langsam wächst) hat es derweil zum „Tower of Hope“ verschlagen, wo sie erkennen, dass ihre Hoffnung in Wahrheit nur falscher Schein war. Der Track an sich ist etwas arg poppig und schwächelt, der coole Gesang und die verrückte Jazz-Solosektion reißen das nur teilweise raus. „Cosmic Fusion“, der letzte überlange Track, bietet dafür den genialsten Spannungsbogen des Albums. Der Song beginnt unheilschwanger, klart dann vermeintlich langsam auf, nur damit – wer sich den coolsten Überraschungsmoment der Platte nicht verderben will, der springe jetzt bitte zum nächsten Absatz – der Tod, verkörpert von den Growls (!!) zweier holländischer Sänger, inmitten von Stakkato-Riffs und breiten Keyboards einen Gastauftritt hat und die Riege eines weiteren Mitglieds beraubt. Eine Instrumentalpassage voller wunderschöner Melodien lässt das Stück nach diesem atemberaubenden Moment ganz versöhnlich ausklingen.
„The Mirror Maze“ führt die interessante Charakterentwicklung des Hippies fort, denn dort werden die seelischen Abgründen hinter seiner entspannten Fassade enthüllt. Entsprechend stützt sich das Stück vor allem auf Klavier und Streicher und schaukelt sich in der zweiten Hälfte zu einer klassischen Powerballade mit kraftvollen Melodien und geilem vielschichtigem Gesang am Schluss hoch. Mit dem recht harten „Evil Devolution“ kommt auch Edward Reekers, der hier sogar ein bisschen wie Oliver Philipps (von den deutschen Gefühlsproggern Everon) tönt, zu der Ehre, ein Stück im Alleingang bestreiten zu dürfen. Zu psychedelisch-düsteren Klängen und nervösen Streichern kritisiert er erneut blindes Fortschrittsdenken, später wird ein Monsterinstrumental irgendwo zwischen Groove-Rock, Heavy Metal im Iron Maiden-Stil und Dream Theater auf dem Gipfel ihrer Frickeleien losgelassen. Für sich genommen ein schönes Stück, allerdings fügt es sich kaum ins Gesamtkonzept ein und zögert darum eigentlich nur das Finale des Albums heraus.

Als solches darf „The Two Gates“ auch mit Fug und Recht bezeichnet werden. Wie schon bei „Across the Rainbow Bridge“ verbirgt sich hinter diesem Titel ein, mit einem wahrhaft truen Chorus gesegneter, stampfender Rocker, der die verbliebenen fünf Helden vor die symbolische Wahl zwischen zwei Toren stellt, von denen eines in die Vergessenheit führt und eines zurück in die eigene Welt… besonders live ein pures Goldstück, wovon man sich z.B. auf der Star One-DVD „Live on Earth“ überzeugen kann. Meine ich das übrigens nur, oder klingt der Mittelteil des Songs tatsächlich schwer nach Deep Purple?
Nach der Entscheidung löst die Stimme selbst in „Forever of the Stars“ ihre rätselhaften Motive auf, bevor der Epilog „Another Time, another Space“ das Album feierlich, mit relaxten Seventies-Melodien, aber auch Pink Floyd-mäßigen Dissonanzen, und einem überraschenden Schluss, beendet.

Fazit: Was bleibt noch groß zu sagen? Arjen Lucassen hat diesmal alle seine Stärken gebündelt und mit „Into the Electric Castle“ ein Album geschaffen, bei dem praktisch alles stimmt. Das Konzept ist ausgefeilt und effektvoll in Szene gesetzt, die Musik unglaublich facettenreich und virtuos, aber ohne weiteres auch für Nicht-Hardcore-Progger genießbar, zumal selbst die wenigen XXL-Epen noch nicht in wirre Soloorgien ausarten. Mit dem liebevollen Booklet und Cover-Artwork stimmen auch die kleinsten Details.
Lediglich die zwei, drei Songs aus der zweiten Hälfte des Opus, die nicht ganz so gut ins Gesamtkonzept integriert wurden wie der Rest (was sie bei weitem nicht schlecht macht), haben leichte Abzüge zufolge. Da aber selbst die größten Klassiker des Prog Rock bei genauer Betrachtung selten völlig frei von Makeln sind, kann man sich beruhigt zurücklehnen, in der Gewissheit, gerade ein großes Album gehört zu haben, von dem man noch lange sprechen wird.

Wertung: 9.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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