Als Mike Portnoy im Oktober 2023 seine Rückkehr zu Dream Theater bekannt gab, war mehr oder weniger klar: Die Neal Morse Band, bei der er ebenfalls hinter dem Drumkit sitzt, liegt erstmal auf Eis. Neal Morse tat das einzig Richtige und trat die Flucht nach vorn an: Er veröffentlichte zwei Soloalben, produzierte gemeinsam mit jungen, talentierten Musikern anschließend unter dem Banner „Neal Morse & The Resonance“ die Prog-Scheibe „No Hill For A Climber“ – und hat jetzt direkt das nächste Projekt am Start.
COSMIC CATHEDRAL ist gewissermaßen die Antithese zu „Neal Morse & The Resonance“. Die vier Herren, die diese neue Combo bilden, sind nämlich alles andere als unerfahren und unbekannt. Neben Keyboarder und Sänger Neal Morse besteht die Band aus Schlagzeuger Chester Thompson, Gitarrist Phil Keaggy und Bassist Byron House. Während sich Byron House als Session- und Tourbassist von Musikern wie Robert Plant, Amy Grant, Dolly Parton oder Chris Cornell einen Namen machte, kann Gitarrist Phil Keaggy auf eine erfolgreiche Solokarriere als christlicher Musiker mit mehr als 50 Veröffentlichungen zurückblicken. In der Prog-Szene dürfte vor allem die Zusammenarbeit mit Chester Thompson für Aufsehen sorgen. Er war 30 Jahre lang Tourdrummer von Genesis und Phil Collins, spielte mit Frank Zappa, Weather Report, Santana und den Bee Gees.
Wer solch eine Vita vorzuweisen hat, muss niemandem mehr etwas beweisen. Und das hört man dem Debütalbum von COSMIC CATHEDRAL deutlich an. Zwar ist die Handschrift von Neal Morse als kompositorischem Leiter und Arrangeur auf „Deep Water“ fast durchgehend erkennbar, die Platte klingt jedoch eine ganze Ecke lockerer, luftiger und unverkrampfter als vieles, was der amerikanische Multi-Instrumentalist in den letzten Jahren veröffentlicht hat.
Den starken Opener „The Heart Of Life“, einige Teile der 38-minütigen „Deep Water Suite“ und die Singer-Songwriter-Nummer „I Won’t Make It“ steuerte Neal Morse bei. Darüber hinaus wurden viele Ideen in gemeinsamen Jamsessions entwickelt. Den Unterschied macht dabei vor allem die Rhythmussektion: Wenn es der Prog verlangt, kann sie virtuos „frickeln“, insgesamt spielt sie aber eher lässig und groove-orientiert, stellenweise sogar ein wenig jazzig. Wer Steely Dan kennt, weiß, was gemeint ist. Gitarrist Phil Keaggy gehört zu denjenigen seiner Zunft, die nicht mit Hochgeschwindigkeitsattacken, sondern mit melodischer Finesse überzeugen. Gut so!
Das Herzstück der Scheibe ist die überbordend lange „Deep Water Suite“, deren einzelne Songs für sich genommen gut funktionieren, aber durch die geschickt eingewobenen „Launch Out“-Teile schön zusammengehalten und umrahmt werden. Dieses Strickmuster ist von vielen Neal-Morse-Alben bekannt, doch dieses Mal ist das Ergebnis überaus gelungen. Diese Suite in neun Teilen ist ein sehr rundes und vielseitiges Musikstück, das deutlich kürzer erscheint, als es tatsächlich ist. Die 38 Minuten vergehen wie im Flug: vom spacig-verfrickelten Intro, über das ungewohnt düstere „Nightmare In Paradise“ und die locker-flockige Gute-Laune-Rocknummer „New Revelation“ bis hin zum epischen Finale.
Das lässige „Time To Fly“, das als Single ausgekoppelt wurde, lebt von einem starken Saxofon-Solo und mehrstimmigen Bläserarrangements. „Walking In Daylight“ und der Abschlusstrack „The Door To Heaven“ zeigen, dass Phil Keaggy auch ein sehr guter Sänger ist. Er trägt entscheidend dazu bei, dass das spirituelle Finale seine Wirkung entfaltet.
Und so gelingt es COSMIC CATHEDRAL, 71 Minuten lang hervorragend zu unterhalten. Sie servieren auf „Deep Water“ haufenweise Ohrwurmmelodien und geschmackvolle Instrumentalpassagen und setzen ihr großes Können im besten Sinne für die Musik ein. Diese beschreibt Neal Morse als eine Mischung aus Prog Rock, Yacht Rock und den Beatles. Das trifft es ziemlich gut. Vor allem aber klingt „Deep Water“ bei aller Rückbesinnung auf die Stilmittel der Siebziger nicht altbacken oder lahm. Dass hier ein 76-jähriger Schlagzeuger und ein 74-jähriger Gitarrist spielen, ist zu keiner Sekunde zu erkennen. Ganz im Gegenteil: Die Scheibe klingt deutlich vitaler und inspirierter als das mit jungen Nachwuchstalenten aufgenommene „No Hill For A Climber“. Chapeau, und gerne mehr davon!
Wertung: 9 / 10