Review Enchant – A Blueprint Of The World

Enchant („verzaubern“) heisst die Band, und der Name ist Programm. Enchant sind in der Bay Area der USA beheimatet und ein ganz und gar untypisches Produkt dieser Region, die doch im Laufe der Jahre hauptsächlich dem Thrash Metal zugehörige Combos wie Metallica und Megadeth hervorgebracht hat, und haben sich auf die Fahnen geschrieben, den Hörer mit vergleichsweise soften, dafür umso stimmungsvolleren und intelligenteren Werken progressiven Rocks im wahrsten Sinne des Wortes zu verzaubern, ähnlich, wie es zuvor ihre erklärten Vorbilder Yes, Marillion und Rush getan haben. Um neben ihren Idolen nicht allzu arg zu verblassen, setzt sich die Gruppe, die bereits 1989 unter anderem Namen (Mae Dae) und anderem Line-Up bestand, aus fünf der beeindruckendsten Hochleistungsmusiker zusammen, die ich seit Dream Theater erleben durfte.
Bandleader und Multiinstrumentalist Doug A. Ott ist ein absoluter Virtuose an der Gitarre, der Marillions Steve Rothery, der übrigens am Remixing dieser LP beteiligt war, als seinen Mentor bezeichnet, und dessen hohe Soli mich persönlich mehr als einmal an „Images and Words“ von Dream Theater erinnern. Michael „Benignus“ Geimer am Keyboard fällt ihm gegenüber nicht ab, seine wunderschönen Sphärenklänge halten sich mit Otts Riffs und Leads sehr stark die Waage, beiden spielen eine völlig gleichberechtigte Rolle in der Musik. Ted Leonard ist nichts weniger als ein Wahnsinnssänger mit einer ungeheuer weichen Stimme und dem Vermögen, sich mit einer Wagenladung Gefühl in die Songs einzubringen, ohne pathetisch zu wirken. Ed Platt am Bass spielt hauptsächlich sehr songdienlich, doch blitzt in den sehr klaren und offenen Arrangements des öfteren sein Genie in Gestalt melodischer Monster-Bassläufe und markanter Pull-Offs auf. Insgesamt einer der vielseitigsten Bassisten, den ich kenne. Der wahre Zauberer der Band sitzt meines Erachtens allerdings am Schlagzeug. Er heisst Paul Craddick, ist ebenfalls instrumental vielfältig begabt und trägt mit seinem flotten, aber zarten Drumming (Jazzbesen und Cymbals kommen in einigen Songs stärker zur Geltung als die eigentlichen Drums…) den Löwenanteil zur filigranen und zerbrechlichen, aber einfach magischen Atmosphäre bei.

Genau diese Eigenart, diese federleichte Verspieltheit, würde ich als Enchants herausragendste Eigenschaft bezeichnen. Denn obwohl die Gruppe musikalisch gesehen definitiv dem Genre des Progressive Rock zuzuordnen ist und auch keines der typischen Merkmale dieser Stilrichtung auslässt (die Songs sind enorm verschachtelt strukturiert, ein Blick auf die durchschnittliche Songlänge von etwa 7 Minuten dürfte als Beweis genügen; des weiteren gibt es Gefrickel en masse in Form oft mehrminütiger Instrumentalpassagen, wenn auch immer songdienlich und nie als Selbstzweck), wirkt das Endprodukt zu keinem Zeitpunkt im Geringsten bemüht oder anstrengend. Die 5 Könner, die die meisten Songs der LP in Gemeinschaftsarbeit schrieben, nehmen sich die Zeit, die sie brauchen, gehen mit einer solchen Leichtigkeit, ohne Hast und Wut zu Werke (was weniger talentierte Musiker so nicht geschafft hätten), dass man als Mensch unterm Kopfhörer nicht umhin kommt, sich den komplexen Geschichten, die Enchant durch ihre Musik entstehen lassen, vollends zu öffnen.
Diese beispiellose Leichtigkeit beschränkt sich nicht auf die musikalische Seite von Enchant, sondern ist auch ein Teil der textlichen Seite. Selten habe ich eine Band gesehen, die aus solch alltäglichen Themen (es geht unter anderem um eine unglückliche Liebe und den Tod eines geliebten Menschen) und trotz Verzichtes auf völlig kryptische Metaphern derart magische, bewegende Lyrics zaubern können. Enchant tragen ihren Namen wirklich zu Recht. Sicherlich ist Ted Leonard als Sänger nicht ganz unschuldig daran, dass die Lyrics ihre Wirkung nicht verfehlen.
Ich möchte dem Album durchaus Easy Listening-Qualitäten bescheinigen, als zarte Untermalung für die schöneren Stunden des Lebens ist „A Blueprint of the World“ sicherlich ebenso gut geeignet wie für intensiven Hörgenuss, um sich richtig tief in die vielschichtigen Kunstwerke zu vergraben und alle versteckten Details, die beim oberflächlichen Hören verborgen bleiben, auszukosten.

Das Songmaterial ist durch die Bank so abwechslungsreich und ausgereift, dass man meint, man hätte es mit einer alteingesessenen Legendencombo zu tun, und außerdem dank Steve Rothery angemessen produziert, etwas dünn zwar, aber dafür sehr warm und angenehm. Der Opener „The Thirst“ beispielsweise ist durch seine federleichte und beschwingte Atmosphäre bereits symptomatisch für das ganze Album und überzeugt weiterhin durch ein schönes Keyboard-Intro und einen einprägsamen Refrain.
Das zweite Stück, das getragene „Catharsis“, fällt deutlich düsterer und gitarrenbetonter aus, bleibt in sich aber unglaublich melodisch und wartet mit melodischem Bass, einer schönen Instrumentalpassage in der Mitte und einigen enorm dramatischen Vocallines auf („She sanctions my right / I´m down on my knees / She refuted the meek…“ Genial!).

Das gut achtminütige „Oasis“ gehört zu Doug Otts Lieblingssongs und gestaltet sich sehr verschachtelt, aber trotzdem nicht weniger eingängig als die beiden Songs zuvor. Die gesteigerte Härte und das erhöhte Tempo fallen angenehm auf, besonders das speedige Intro, das an mehreren Stellen im Lied wiederholt wird. Insgesamt gibt sich der Song ziemlich gitarrenbetont und hat durch Paul Craddicks ausnahmsweise mal kräftiges Drumming einen unglaublichen Drive. Toller Song!
Der Abwechslungsreichtum bleibt durch den nächsten Track, die von Doug Ott im Alleingang komponierte Liebesballade „Acquaintance“ gewahrt. Getragen von Keyboard und Akustikgitarre, von Paul Craddick in ein fragiles Percussiongerüst eingefasst, gibt sich der Song von den Strophen über die soften Soli bis hin zum wunderschönen Refrain, der unglücklich Verliebten die Kummertränen in die Augen treiben dürfte, durch und durch gefühlvoll. Klar eine der schönsten Balladen, die ich kenne.

„Mae Dae“, ein Tribut an den alten Bandnamen, ist ein ruhiges, atmosphärisches Instrumental mit einer knackigen Länge von dreieinhalb Minuten, mit dem Doug Ott und Anhang jahrelang sämtliche Liveshows eröffnet haben. Die tolle, einfache Melodie lädt förmlich zum Mitpfeifen ein, im Mittelteil des Stück lauert eine interessante Panflöten-Einlage.
Weiter geht es mit „At Death´s Door“, einem der populärsten Enchant-Songs ( laut Otts Liner Notes in der Neuauflage des Albums wurde er noch bei jedem Konzert der Band gespielt ). Ein relativ harter und düsterer Sound mit teilweise metallischem Riffing im Mittelteil und auffällig schnarrendem Bass auf der einen Seite, auf der anderen Seite schöne Synthie-Leads, gefühlvolle Lyrics und Vocals (der Tod eines geliebten Menschen wird hier besungen) sowie ein hoffnungsvoller Refrain verleihen dem Song eine einzigartige Gänsehaut-Atmosphäre.

„East of Eden“ steht wieder mehr in der musikalischen Tradition (;-)) von „The Thirst“ oder „Oasis“ und erweist sich darum als ziemlich flott, verwinkelt und frickelintensiv. Doug Ott an der Gitarre schaltet hier einen Gang zurück, dafür dreht Ed Platt am Bass richtig auf und zeigt hier seine auffälligste Leistung auf diesem Album, auch Benignus am Keyboard kommt hier gut zur Geltung.
Das neunminütige „Nighttime Sky“ erweist sich als vielschichtigster und abwechslungsreichster Song des Longplayers, ruhige, keyboard- oder akustiklastige Passagen und Stellen mit schnellem Riffing und Power-Drumming geben sich die Klinke in die Hand. Besonders hervorzuheben ist eine genial aufgebaute Instrumentalpassage, die etwa in der Hälfte des Songs beginnt, sich langsam, aber stetig steigert und schließlich im epischen Refrain endet.

Das vorletzte Stück, „Enchanted“, folgt nun, und so man Doug Ott Glauben schenkt, ist dies Enchants beliebtestes und live am öftesten gefordertes Stück. Nach einem Durchlauf ist man sich auch sicher, warum. Das musikalische Gewand, in das die Lyrics um die tragische Lovestory um König Artus und Annowree (übrigens Enchants einziger Song mit mythologischem Hintergrund) gekleidet ist, ist schlichtweg atemberaubend. Das beginnt schon mit dem Klavierintro, setzt sich fort mit dem starken Riffing, das sich wie ein roter Faden durch das Werk zieht (das beste Riff des Albums!) und gipfelt im göttlichen Chorus. Wer spätestens zu Beginn des ersten Refrains keine fürstliche Gänsehaut sein Eigen nennt, ist vermutlich klinisch tot, denn dieser geballten Ladung Emotion (Sängerknabe Ted Leonard singt sich gegen Ende des Liedes in eine wahre vokale Ekstase!) kann man sich unmöglich entziehen! Ein Meisterwerk für die Ewigkeit!!
Song Nr. 10, „Open Eyes“, stinkt danach leider etwas ab, setzt aber bei objektiver Betrachtung dank toller Riffs und Basslines und seiner ansteckend positiven Atmosphäre, Lyrics und Vocals einen stimmigen Schlusspunkt unter dieses übermenschliche Album.

Auf der kürzlich erschienenen Special Edition gibt es als Bonus noch eine tolle Akustik-Version von „Enchanted“ mit etwas abgeänderten Vocals und obendrauf eine Bonus-CD mit älteren Versionen bekannter Songs (u.a. mit Brian Cline und Doug Ott als Sänger) sowie zwei unveröffentlichten Songs.

Fazit: Wahnsinn! Absoluter Wahnsinn! Ich könnte mich zeilenweise mit Superlativen überschlagen, aber ein bisschen Objektivität will ja schon gewahrt bleiben. ;-)
Die 5 Koryphäen aus San Francisco demonstrierten auf ihren 1994er-Debütalbum bereits Fähigkeiten, zu denen 90 % aller Bands selbst nach zehnjährigem Bestehen nur neidisch aufschauen können, und zwar völlige technische Perfektion, stimmiges Zusammenspiel, genug Kreativität, um 67 Minuten einer CD zu füllen und ein beneidenswertes Händchen, selbst bis ins letzte Eckchen ausgearbeiteten Klangkunstwerken den nötigen Schuss Eingängigkeit zu verleihen. Enchant bringen mit „A Blueprint of the World“ zwei scheinbar unvereinbare Welten zur Deckung, ist die LP gleichwohl ein kurzweiliges Album zum Nebenher-Hören sowie ein perfekt ausgetüfteltes Meisterwerk, das genug unerforschte Nuancen für zig Durchläufe bietet.
Ich habe lange mit mir gerungen, aber in Anbetracht der obigen Qualitäten kann ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, eine andere Note zu vergeben, insbesondere , wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um den ersten Output einer Band handelt.

Wertung: 10 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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