Review Gamma Ray – Heading For Tomorrow

Die späten Achtziger Jahre waren für den deutschen Heavy Metal eine turbulente Zeit. Accept setzten zur kreativen Talfahrt an, die späteren Superstars Blind Guardian brachten ihr erstes Album heraus, und das damalige Genre-Flaggschiff Helloween verlor auf dem Höhepunkt seines Erfolgs seinen Gitarristen Kai Hansen, dem die Ausrichtung der Band langsam zu kommerziell wurde. Und was tut ein genialer Musiker nach dem Ausstieg aus einer Band? Richtig, er gründet seine eigene. Und eben diese Band, Gamma Ray mit Namen, gehört bis heute zu den erfolgreichsten einheimischen Melodic Metal-Acts und hat Helloween in Sachen Qualität und vor allem Konstanz längst überflügelt.

Die Arbeit an der Gitarre übernahm Hansen natürlich selbst, zusätzlich griff er zum ersten Mal seit dem Helloween-Debüt „Walls of Jericho“ zum Mikrofon, um einige Gesangslinien abzuliefern. Den Leadgesang überließ er jedoch dem beeindruckenden Falsett-Athleten Ralf Scheepers, eine grundsolide, starke Rhythmuscrew, bestehend aus Uwe Wessel am Bass und Mathias Burchard an den Drums komplettierte das frühe Gamma Ray-Lineup. Zur Unterstützung holte man sich eine ganze Reihe von Gastmusikern ins Haus, in den omnipräsenten Background-Chören sang mit Piet Sielck ein weiteres bekanntes Gesicht der Branche.
Da Hansen bekanntermaßen auch ein begnadeter Songwriter ist, sind alle Voraussetzungen für ein gutes Debütalbum erfüllt, und das „Heading for Tomorrow“ betitelte Werk erfüllte die an die „Helloween-Nachfolger“ gestellten Erwartungen voll und ganz.
Obwohl man 55 Minuten melodischen Speed Metal bester deutscher Machart serviert bekommt, der sich zudem nicht ganz von den Helloween-Einflüssen freizumachen vermag, woraus man Hansen freilich keinen Strick drehen kann (schließlich war er zu einem guten Teil für diesen Sound verantwortlich), bleibt man vor reichlich Abwechslung und Experimentierfreudigkeit nicht verschont. Gamma Ray bieten auf ihrem Debütalbum eine nahezu perfekte Mischung aus triebenden Metal-Granaten schnellen und langsamen Tempos, balladesken, doch dabei völlig kitschfreien Bombast-Epen sowie kurzen Ausflügen in locker-flockige Fun Rock-Welten, die zudem noch von Hansen persönlich für die damalige Zeit absolut blendend produziert ist und bis heute nichts von ihrer Klasse eingebüßt hat.
Hansen lässt seine Streitaxt toben, als ob es kein morgen gäbe, wechselt zwischen Lichtgeschwingkeits-Soli, brachialen Schwermetall-Riffs und sanften Tönen hin und her, immer hart an der Grenze zur Perfektion. Ralf Scheepers überzeugt ebenfalls voll und ganz mit einer ungeheuer passenden Performance (gelegentlich zweistimmig im Duett mit Hansen) und erweist sich als wahres Energiebündel, auch Uwe Wessel und Mathias Burchard geben sich keine Blöße und gehen nie unter, sondern bleiben schön präsent.

Nach dem kurzen, gelungenen und vor allem live unverzichtbaren Bombast-Intro „Welcome“ legt das rasend schnelle und dennoch melodische „Lust for Life“ gleich unschlagbar gut im besten „Ride the Sky“-Stil los, das Stück rockt gewaltig! Hansens unnachahmlich geilen Gitarrenläufe festigen seinen Ruf als Legende einmal mehr. Notorische Happy Metal-Hasser werden aufgrund des Textes zwar das Weite suchen, aber für diese Menschen ist diese Platte sowieso ein Fehlkauf.
Weiter geht es mit der bekannten Singleauskopplung „Heaven can wait“, einem fast schon kommerziellen Midtempo-Stück mit eingängiger Melodie, tollem Chorgesang im Refrain und einem vor guter Laune nur so sprühenden Text. Das Stück hätte zwar genauso gut von Helloween stammen können, aber das interessiert bei der hier gebotenen Qualität niemanden mehr.
Mit „Space Eater“ folgt dann der erste wirklich originelle Track, ein schleppend-stampfender Midtempo-Track, rückblickend ein ganz klassisches Gamma Ray-Stück mit dem typischen Weltraum-Flair, der die Band später so auszeichnen sollte. Dies ist vor allem den ruhigen, mit spacigen Keyboards unterlegten Passagen und den witzigen Star Trek-Samples (achtet mal auf das Enterprise-Türengeräusch am Anfang) zu verdanken.

„Money“ ist das erste der angesprochenen flotten Fun Rock-Stücke. Der teilweise zweistimmige Gesang von Scheepers und Hansen klingt etwas überdreht im positiven Sinne, dazu passt der nicht ganz ernsthafte Text und die Queen-igen Chöre. Allerdings sollte man das sehr originell arrangierte und verspielte Highspeed-Gewand außenrum auch nicht außer Acht lassen. Besonders aus heutiger Sicht ein eher untypisches Gamma Ray-Stück, aber doch gelungen.
Die gut sechsminütige (Halb-)Ballade „The Silence“ beginnt mit gefühlvollen Bombast-Leads, geht weiter mit einer Klavier-Passage und zeichnet sich auch im weiteren Songverlauf durch zahlreiche überraschende und vielfältige Wendungen aus, so gibt es neben groovigen Akustikgitarre-und-Bass-Einlagen treibende Riffattacken und vieles mehr. Eine feste Größe bleiben allerdings Ralf Scheepers´ eindringlicher Gesang und die fetten Bombast-Chöre. Toller Song!
„Hold your Ground“ wiederum schlägt schon wesentlich härter und geradliniger zu, kein übermäßig starker Track, doch die außerordentlich lange und abwechslungsreiche Solosektion soll nicht unerwähnt bleiben.

Das von Ralf Scheepers im Alleingang komponierte und getextete „Free Time“ muss leider als Argument, den Mann nie wieder einen Song schreiben zu lassen, herhalten. Die musikalische Verpackung in Gestalt eines arg simplen Mitklatsch-Rockers lässt sich noch gerade so ertragen, doch der Text… etwas so Klischeehaftes und Plattes habe ich wirklich selten gehört. „Free time / is one of the things that I love…“ Schmerz lass nach!
Glücklicherweise leistet das nun folgende Titelstück, die fast viertelstündige Megahymne „Heading for Tomorrow“ einen großen Beitrag zur Schmerzlinderung. Bereits der gigantische Chorus, der das Stück einleitet, stimmt mich positiv, das grandiose Hauptriff (das übrigens in „Rebellion in Dreamland“ 1:1 wieder aufgenommen wurde), die subtil untermalenden Sphärenklänge… alles genial! Mit den beiden zuerst ruhigen, sich dann stetig steigernden Instrumentalpassagen, die jeweils mehrere Minuten andauert, wagt man fast einen Vorstoß in Progressive Rock-Regionen vor, dazu gibt´s cooles Bassgefrickel, bevor man wieder beim ultra-epischen Chorus angelangt. Eines der ganz großen Kunstwerke des klassischen Schwermetalls und obendrein einer der besten Songs aus deutschen Landen!
Den Abschluss macht das sehr gelungene Uriah Heep-Cover „Look at yourself“, das mit seiner mitreißenden, aber dennoch lockeren Melodie und schwer groovendem Bass gefällt. Ein durchaus passender Abschluss eines genialen Debütalbums („Look at yourself“ fügt sich auch textlich gesehen wunderbar ins Gesamtwerk ein).

Fazit: Wow! Was Kai Hansen da nach seinem Helloween-Ausstieg innerhalb kürzester Zeit auf die Beine gestellt hat, ist wirklich phänomenal und darf sich ganz ernsthaft als Helloween-„Nachfolger“ oder zumindest als legitime Konkurrenz der Kürbisköpfe bezeichnen. „Heading for Tomorrow“ ist ein Debütalbum, wie man es nicht alle Tage vorgesetzt bekommt, nahezu perfekt in jeder Beziehung. Bis auf eine Ausnahme durchgehend zumindest gutklassige Kompositionen, die praktisch das komplette Spektrum des Heavy Metal abdecken, gespickt mit tollen Leistungen aller vier Bandmitglieder, all das veredelt von einer modernen Produktion und der für Gamma Ray typischen Spielfreude.
Lediglich das arg durchschnittliche „Free Time“ und vereinzelte, „nur“ gute Momente stehen einer noch höheren Wertung im Wege, eine geringfügige Steigerung ist meiner Meinung nach durchaus noch realistisch. Dennoch eine gute 9 mit Tendenz nach oben.

Wertung: 9 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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