Review Miles Davis – Bitches Brew

Die frühen Siebziger markierten den Beginn des großen Siegeszugs der harten Rockmusik. Neben Alben wie „III“, „Paranoid“ oder „In Rock“ vergisst man gerne mal, dass sich auch einer der wichtigsten Jazz-Musiker überhaupt aufmachte, seine Musik mit Rock-Elementen zu verbinden und kurze Zeit später einen Meilenstein in einer noch jungen Spielart veröffentlichte: Jazzrock.

Was man von „Bitches Brew“ selbstredend nicht erwarten darf, sind krachende Hard Rock-Riffs, zu welchen ein Saxophon oder eine Trompete dudelt. Überhaupt ist die Genre-Bezeichnung eigentlich ziemlich irreführend, denn auf dieser Scheibe gibt es weder das, was man sich gemeinhin unter Jazz, noch das, was man sich vielleicht unter Rock vorstellen mag. Und schon gar nicht beides auf einmal.
Nach meinem Musik-Verständnis klingt „Bitches Brew“ vielmehr nach einem vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Psychedelic-Jam. Es gibt auf diesem Album keine Strukturen, kaum echte Melodien. Stattdessen sieht man sich einer äußerst befremdlichen Klangwelt gegenüber, die man, mehr als bei atmosphärischer Musik ohnehin schon, nur fühlen, aber nicht wirklich verstehen kann. Zumeist dominieren manische Kollektiv-Improvisationen den Sound, welchen eine wild solierende Trompete gegenübersteht. Die häufig afrikanisch anmutenden, treibenden Rhythmen gegen den glockenhellen Klang der Trompete erschaffen eine Stimmung, die verstörender (und doch faszinierender) nicht sein könnte. Die Intensität der Darbietung jedes einzelnen Musikers gibt der Musik einen fast schon ritualistischen Beigeschmack – Das Soundgewand, das so kreiert wird, ist extrem dicht gewoben, bleibt dabei aber jederzeit dynamisch. Ständig wandelt sich etwas, nie verharrt man lange auf einem Fleck. So entwickeln die Songs trotz ihres Improvisationscharakters eine Spannung, die weitaus fesselnder ist, als es eine normale Rock-Nummer aus dem Baukasten jemals sein könnte. Ob dafür nun die sehr nuancenreich gespielte Trompete, wild groovender Bass oder die exaltierten E-Pianos verantwortlich sind. Diese dürften dem Hörer als typische Classic-Rock-Instrumente übrigens noch am ehesten eine Orientierung im Sound ermöglichen; nur in Maßen jedoch, hat doch die Gesamtstimmung der Platte am Ende doch nichts mit entsprechenden Hörgewohnheiten gemeinsam.
Obwohl die beiden „Bitches Brew“-CDs mit ihrer düsteren, traumartigen Atmosphäre in ihrer Gesamtheit homogen klingen, lassen sich zwischen beiden dennoch Unterschiede feststellen: „Pharaoh’s Dance“ und „Bitches Brew“ sind mit einer Gesamtlänge von 47 Minuten mit Sicherheit die schwersten Brocken auf dem Album, dafür aber auch die kompromisslosesten Umsetzungen der finsteren Stimmung. „John McLaughlin“ oder „Miles Runs The Voodoo Down“ sind da vergleichsweise straight und mit „Sanctuary“ hat man auch noch eine halbe Ballade dabei, die zu Beginn etwas versöhnlichere, dafür aber tieftraurige Töne anschlägt. Freilich nur um sich später wieder in musikalischem Chaos zu verlieren. „Feio“ beendet die Platte dann wieder äußerst skurril, über weite Strecken nur durch ruhige, reduzierte Klangcollagen gestaltet.

„Bitches Brew“ ist mit Sicherheit kein Easy Listening, trotzdem findet man sich vergleichsweise gut in den komplett andersartigen Sound hinein. Ist es dann soweit, bekommt man eine Stunde und 46 Minuten Musik geboten, die den eigenen Horizont gewaltig erweitern kann. Wenige Alben klingen so durchgehend magisch wie „Bitches Brew“. Eine einzigartige Meisterleistung aller Beteiligten und eine Platte, die man besitzen sollte, wenn man hören möchte, wie wirklich visionäre Musik 1970 klang.

Wertung: 10 / 10

Publiziert am von Marius Mutz

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