Review Nightwish – Century Child

Es gibt Tage, im Verlauf derer das Schicksal mehr oder weniger kräftigzugreift und unser Leben verändert. So geschehen bei mir vor einigen Tagen. Gut, ich gebe zu, das ist etwas übertrieben und es hat mein Leben auch nichtverändert, nein, der passendere Ausdruck wäre vielleicht „bereichert“. Ich bekam anjenem wieder einmal verregneten Sommertag den Auftrag, doch bitte maleinkaufen zu fahren–herrlich. Also fuhr ich, den Einkaufszettel in der Tasche zuder örtlichen Filiale einer großen Supermarktkette, deren Namen ich aufgrundwettbewerblicher Fairness hier nicht nennen werde, um meinen Auftrag zuerfüllen. Nachdem ich alles, was auf der Liste stand, hatte und gerade zur Kassegehen wollte, kam ich an der CD-Abteilung des Hauses vorbei. Ich beschloss, nochein wenig länger Gast dieses Konsummekkas zu bleiben und schaute mich ineben jener Abteilung um-weniger in der Hoffnung, etwas zu finden, da wir ja allewissen, wie es um die Musikauswahl der deutschen Supermärkte bestellt ist,sondern einfach um zu wissen, was diese Woche wieder „in“ ist (mein ehemaligerDeutschlehrer bezeichnete eine vergleichbare Aktion einmal als“Feindbildaufklärung“, jedoch ging es bei ihm um das Lesen von Frauenzeitschriften wie“Brigitte“ und Co.). Wie dem auch sei, ich durchstöberte also gerade dieAlbumabteilung, eine Ansammlung von unterschiedlichsten CDs mit immer gleicherMusik, gelegentlich unterbrochen von kleinen aber feinen Hightlights wie diversePink Floyd-Alben, die sich aber leider schon alle in meinem Besitz befanden.Doch plötzlich schlug das oben erwähnte Schicksal zu: Ich erblickte zwischenTittney Spears- und Scooteralben versteckt das neueste Werk meiner aktuellenLieblingsfinnen Nightwish (wechseln sich mit HIM ab, je nach Klasse deraktuellen Werke)-der Tag war gerettet. Nichts hielt mich mehr an diesem Ort.Nachdem ich mich durch verschiedene Schichten Einkaufender gezwängt, dieKassiererin mit Kleingeld genervt und diverse rote Ampeln ignoriert habe (ich war mitdem Fahrrad unterwegs), war ich endlich soweit, meine Anlage mit demneuerworbenen Kleinod zu beglücken. Das Cover und das Booklet versprachen schonmalgroßes, also „Play“.

Der Opener Bless The Child empfängt mich mit Tarjas altbekannter Stimme, dieeine mehrstimmige Vokallinie singt, untersetzt von Streichern, die, wie dieChöre auf der CD übrigens auch, von einem richtigen Orchester und einemrichtigen Chor eingespielt, bzw. eingesungen wurde. Über dieses Fundament gepaartmit Bass, Gitarre und Drums legt sich eine beruhigende, mystisch angehauchteMännerstimme, die eine Art Intro des Albums erzählt, das sich in den Lyricskonsequent fortsetzt: Im großen und ganzen geht es auf „Century Child“ wie derName schon andeutet um die Geburt, den Tod und die Wiedergeburt Christi,betrachtet von Nightwish Mastermind Tuomas Holopainen (Keyboard and Piano) auseiner melancholisch düsteren Sicht. Bless The Child selber ist eher eineMidtempoballade die zum Ende hin nochmals etwas an Gitarrenhärte zulegt. Das ganzeStück hat etwas tragendes, melancholisches an sich, was wohl an derwunderschönen Gesangslinie liegt, die Tarja über das Metalfundament legt. Auch diesehr gut komponierten Orchesterparts tragen ihren Teil dazu bei, halt typischNightwish, aber es wirkt trotzdem reifer und erwachsener als die älteren Werkeder Band. Für einige mag das Stück für einen Opener zu ruhig sein, aber esist im Endeffekt perfekt, um das kommende anzukündigen und einfach einwunderschöner Song zum träumen, an den Sich nahtlos „End of all Hope“ anfügt. Hier werden gleicher im Intro härtere Töne angeschlagen und alsGothicmetaller fühlt man sich hier sofort zuhause. Eine der größten Stärken des Songs istdas interessante Arrangemant der ersten Strophe. Gut, sowas hat man schonöfter gehört, aber „End of all Hope“ hat halt den NightwishtypischenMelodievorteil. Der Refrain fährt mal wieder einen Bombasteffekt auf, der einfach gutrüberkommt und zum steten mitwippen irgendwelcher Körperteile animiert. Auchauf ein gut auskomponiertes, dennoch recht kurzes Gitarrensolo darf man sichfreuen, wie auch auf einen Mittelteil, der den Song nochmal richtig pusht.Meine Diagnose: Erstklassige Arbeit beim Songwriting und bei der Umsetzung.Der dritte Song „Dead To The World“ ist ein richtiger Metalsong und könntein einschlägigen Clubs für volle Tanzflächen sorgen. Schon im Intro zeigt vorallem Keyboarder Tuomas, was er drauf hat und dann die Strophe….doch halt,irgendwas stimmt da nicht…richtig, männlicher(!) Leadgesang. Tarja hält sichim Hintergrund und übernimmt die melodisch ruhigeren Parts sowie einige“Zwischenparts“ und teilt sich den Refrain mit der Männerstimme. Aber wie kommtNightwish, die bei den letzten Tourneen vorhandene Teile männlichen Gesangsaus der Konserve durch die Lautsprecher jagten, dazu einen ganzen Song so zuspielen? Des Rätsels Lösung liegt in einer LineUp Veränderung, bei der derBassist ausgetauscht wurde, für Sami Vänskä kam mit Marco Hietala ein Bassist,der auch über ein sehr gutes Stimmorgan verfügt und das auch einsetzt. Der Songist sowas wie ein Experiment, und das ist durchaus gelungen. Der Trackgehört zu meinen absoluten Lieblingen auf „Century Child“, und das ist bei demAlbum eine echte Leistung. Besonders angetan hat mir der Trugschluss, der ineine Bombastversion des ohnehin schon genialen Refrains endet. Ein echtesHighlight, nicht nur des Albums, sondern der gesamten vergleichbaren Musik, obwohles da ja nicht soviel gibt.

„Ever Dream“ ist wieder ein Midtemposong mit einem leicht balladesken Touch,das macht schon das Piano/Gesangsintro deutlich. Doch im Endeffektbeschränkt sich das ruhigere des Songs auf das Intro und auf die Strophe, vor allemdie erste ist mit der cleanen Gitarre noch recht ruhig. Ab dem ersten Refrainkommen dann die Liebhaber melodischer Gitarrenriffs auf ihre Kosten. Diezweite Strophe ist zwar genauso aufgebaut wie die erste, doch die Energie aus demRefrain kann noch mit rübergerettet werden und lässt die folgende Strophedadurch ungleich flotter erscheinen. Von da an findet sich in „Ever Dream“ einwirklich guter Metalsong mittleren Tempos, sogar ein längeres Solo lässt sichfinden, mit einem wirklich gelungenen Übergang zu einerStreicher/Gesangsversion des Refrain. Am Ende fügt sich auch noch Marcos Stimme in den Chorus und auch durch das starke Schlagzeug wird der Song zum Schluss noch mal richtig Heavy.

Im Anschluss kommt eine der echten Überraschungen des Albums. „Slaying theDreamer“ ist wohl der härteste Song, den Nightwish je aufgenommen haben. Istjedoch bei dem harten Gitarrenintro für den eingefleischten Fan noch eineKulturschockwarnung angesagt, wirkt Tarjas Stimme in der Strophe wieder als eineArt Weichspüler und man fühlt sich wieder wohl. Doch im Chorus kommt der Songwieder mit einer guten Portion Metal zurück und der Zwischenteil ist fürjeden Heavymetaller eine Wohltat. Doch seine wahre Power entfaltet der Song erstnach dem letzten Refrain, da sich hieran astreines Heavyriffing anschließt.Wenn dann auch noch Marco als der (lyricmäßig) wütende Gott seine Aggressionins Mikro schreit und Zwischendurch der Song Speedmetalmäßige Formen annimmt,fehlen einem einfach die Worte. Ganz am Ende steuert dann auch noch Tarjaihren Teil zum Heavyteil bei. Für mich „der“ Song überhaupt auf dem Album, auchwenn ich verstehe, wenn Hardcore-Nightwish Fans meine Meinung nicht Teilen.“Slaying the Dreamer“ ist halt ganz anders als alles, was man von Nightwishkennt–und das ist auch gut so.

Nach diesem Trip durch so ziemlich alle harten Metalrichtungen wird man von“Forever Yours“ wieder in melancholische Sphären entführt, denn die einzigeBallade auf „Century Child“ ist der perfekte Song, wenn man die ganze Welt umsich herum einfach vergessen will und er kann selbst an einem warmen,sonnigen Tag jedes Gemüt traurig stimmen. Die Hingabe mit der „Forever Yours“gesungen wird, jagt einem glatt Schauer über den Rücken und der Part, in dem dasOrchester die Führung übernimmt und eine Flöte die Melodie übernimmt ist einerder schönsten, die ich je in einer Ballade gehört habe. Die einzige Frage,die sich mir stellt lautet: „Was muss ein Mensch erlebt haben, um ein solchesStück Musik zu schreiben?“ Denn das Toumas hier seine Seele in den Song gelegthat, ist kaum zu überhören.

„Ocean Soul“ knüpft mit seinem traurigen Intro da an, wo „Forever Yours“aufgehört hat, doch wo bei letzterem das Orchester führend war, übernehmen hierwieder Gitarre und Bass den dominierenden Part und so kommt vielleicht „der“typische Nightwishsong auf „Century Child“ zustande, denn auch wenn derRefrain von Selbstzweifel und verzweifelter Hoffnung erzählt und der Gesang einentraurig stimmen könnte ist das musikalische Fundament doch zu deutlich um dieStimmung zu vermiesen. So kommt auch durch den Übergang zum Chorus nochechtes Gothicmetal-Feeling auf und „Ocean Soul“ erweckt den Eindruck, „ForeverYours“ und „Bless the Child“ miteinander kombinieren zu wollen und am Endekommt dann noch mal richtig Laune auf.

Der Titel „Feel For You“ scheint wieder ideal zu einer Ballade zu passen undso irritiert das Bassintro und die dazu passenden Streicher, die nichtgerade eine romantische Atmosphäre erzeugen doch etwas. Auch wenn dieanschließende Strophe doch recht ruhig ist, dominiert doch der Bass und dienach demGesang einsetzende Gitarre kommt für das Tempo ziemlich kompromisslos rüber unddie Linie, die sie im zweiten Teil der Strophe spielt, macht richtig Laune.Wenn dann der Chorus einsetzt, gesungen mal wieder von Marco, schlägt NightwishsGespür für alles, was bombastisch macht, voll zu, denn dieser Refrain hatechten Ohrwurmcharakter und schwirrt einem noch lange später im Kopf herum. Wasnach dem Chorus folgt ist mal wieder ein geniales Beispiel für perfektesSongwriting…besser ein perfektes Beispiel für geniales Songwriting, das trifftes eher. Trotzdem ist der Song ziemlich kurz und man hätte gerne mehr vondem erstklassigen Refrain gehört.

Die nächste Nummer ist eine doch recht ungewöhnliche Coverversion. ObwohlNightwish wohl die perfekte Kapelle ist, um Andrew Lloyd Webbers „Phantom OfThe Opera“ zu adaptieren und zu einer Metalversion umzuschreiben. Da trifft essich ja gut, das man endlich auch einen männlichen Sänger in der Band hat undso duellieren sich Tarja und Marco auf gesanglicher Ebene, während GitarristEmppu Vuorinen einige interessante Riffs um das Hauptthema herum gefundenhat und so zusammen mit Jukka Nevalainen für den nötigen Drive sorgt. Das sichToumas am Keyboard hier mal ordentlich austoben kann, war ja von vornehereinklar, dennoch hält er sich die meiste Zeit über dezent im Hintergrund umder Version nicht die nötige Härte zu nehmen. Mir persönlich hat diese Nummer sehrgut gefallen, da ich das Musical schon mehrmals gesehen habe und auch dennSoundtrack mein eigen nenne. Es wirkt, als hätte Mr. Webber dieses Musical nurfür Nightwish geschrieben.

Den krönenden Abschluss von „Century Child“ bildet das zehn Minuten Epos“Beauty of the Beast“, das eigentlich aus den Stücken „Long Lost Love“, „Onemore night to live“ und „Christabel“ besteht. „Long Lost Love“strotzt nur so vonKeyboards und hat das Tempo, was ich als den Inbegriff von „Midtempo“bezeichnen würde. Durch den starken Refrain hat der Part von „Beauty of the Beast“doch noch etwas tragendes, alleine stehend würde ich aber sagen „Long LostLove“ ist der schwächste Track des Albums. „One more night to live“ ist dagegenwieder ein ideales Beispiel für Orchestralen Metal und erinnert durch denstarken Orchestereinsatz an Metallicas „S&M“-Album, selbstverständlich nur inden Parts, wo Tarja stillschweigt :)
Im Ernst, die Kombination aus großem Orchester und lauter E-Gitarre hat sichja nun schon mehrmals bewährt und auch bei „One more night to live“ machtdas Zuhören Spass, da hier auch ein wirklich guter Instrumentalteil,gelegentlich von Gesang unterbrochen, der von einem atemberaubenden Drumming untersetztist, zeigt, aus was für guten Musiker Nightwish sich zusammensetzt. Einewirklich großartige Nummer, die auch prima für sich alleine stehen könnte.“Christabel“ dagegen ist sowas wie der logische Abschluss des ganzen Albums undüber einem Nighwishtypischen Instrumentalfundament kommt wieder die von „BlessThe Child“ bekannte Stimme, die den Kreis schließt.

Fazit: „Century Child“ ist für mich eines der besten Alben meiner Sammlung.Der Tiefgang der Songs, die Eingängigkeit der Refrains, die Hintergründung,intelligenten Lyrics, die die Stimmung des Songs schon beim Lesen vermitteln,die Art, wie die Songs zusammenpassen, all das macht „Century Child“ zu einemMuss für jeden Metallfan, der etwas für gute Melodien übrig hat. DennNightwish schlagen nicht zuletzt durch „Slaying the Dreamer“ ihre Zelte in sovielen Stilrichtungen auf, dass mir gar keine passende Bezeichnung für die Art vonMusik einfällt. Nennen wir es einfach….Nightwish!
(Sören)

Wertung: 10 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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