Review Rotfront – Emigrantski Raggamuffin

  • Label: Essay
  • Veröffentlicht: 2009
  • Spielart: Punk / Punk Rock, Hip-Hop, Klezmer

In einem russischen Berlin-Stadtführer werben die Reiseveranstalter mit dem Slogan: „Hissen Sie ihre ganz persönliche Flagge auf dem neuen Deutschen Reichstag – Berlin erleben und erobern“. In gebrochenem Deutsch gesprochen, ist dieser Satz das erste, was ROTFRONT auf ihrem Debüt Album „Emigrantski Raggamuffin“ von sich geben, doch ist dies nur der Auftakt zu einer musikalischen Reise, die so skurril wie mitreißend ist.

Die Besetzungsliste macht bereits deutlich, dass ROTFRONT nicht wie jede Band geartet sind: groß, multiinstrumentell und multikulturell kommt das Emigrantski-Raggamuffin-Soundkollektiv daher. Die Mitglieder der Band stammen aus Russland, der Ukraine, Ungarn und Deutschland, gesungen wird auf Deutsch, russisch, ungarisch und englisch. Stellt sich die Frage, wie ein so bunter Haufen zueinander findet. Hier sind primär zwei Namen zu nennen: Wladimir Kaminer und Yuri Gurzhy. Ersterer ist Freunden der Literatur wahrscheinlich durch seine diversen Publikationen bereits bekannt, besonders „Russendisko“ sei hier genannt und zwar nicht nur, weil es ein absolut lesenswertes Buch ist, sondern weil es den zweiten Protagonisten ins Spiel bringt. Die Russendisko ist mittlerweile eine Institution, die auch außerhalb Berlins von sich reden machen konnte. Ihre Ursprünge jedoch liegen in der Metropole an der Spree, genauer gesagt in der Gemeinschaft der russischen Auswanderer, unter ihnen genannter Wladimir Kaminer. Dieser begann dereinst seine alten russischen Platten aufzulegen, was zu wilden Partys führte. Teilnehmer und späterer Mitveranstalter und DJ war eben auch jener Yuri Gurzhy, seines Zeichens Kopf der Band ROTFRONT.

Allein diese Entstehungsgeschichte erklärt vielleicht schon ein wenig, wie es zu so einer wilden Mischung aus Sprachen, Kulturen und Musikstilen kommen konnte und auch, warum diese Mischung so wunderbar funktioniert: Die Liebe zur Musik verbindet Völker, oder zumindest Menschen unterschiedlichster Volkszugehörigkeiten.

Und diese Musik ist ebenso wild, ungestüm und vielfältig wie ihre Macher. Punk und Rock sind in ihrer Verbindung ebenso bekannt, wie Ska und Reggae. Mischt man diese vier jedoch und gibt noch eine Prise Klezmer, einen Schuss Blues sowie russische und ungarische Folklore hinzu und schmeckt das Ganze dann mit einem guten Schuss Hip-Hop ab, so ist das Ergebnis etwas wirklich Neues.
„B-Style“, der erste Track der Scheibe, ist eine Liebeserklärung an die Heimatstadt der Band, die direkt alle Stärken ausspielt. Off-Beat-Gitarren, Hip-Hop-Gesang, folkloristische Einlagen und russische Gesangsparts – alles kommt zusammen und ergibt ein Bild, das einfach nur begeistert. „Sovietoblaster“ beschreibt die Passagiere auf einer Zugreise von Kiew nach Berlin. Vom Killer über die ukrainische Schönheitskönigin und einem Professor mit seiner hübschen Tochter ist alles vertreten, was natürlich nur ein Ergebnis haben kann: Another round of drinks, now take out your guitar, there’s a party in the dining car! The world goes round, the beat goes faster – my favourite tune on the Sovietoblaster and everyone here drinks vodka and beer, and the dancing queen from Kiev, Ukrain drives everybody insane!” Dies unterlegt mit einem flotten Beat und schnellen Rhythmen, dazu die offensichtliche Begeisterung der Musiker an ihrem Tun – besser geht es nicht!

„Berlin – Barcelona“ handelt genau davon – ein spontaner Trip. Mädchen an der Bushaltestelle gesehen, verliebt, also alles verkauft und ihr hinterher nach Barcelona, nachdem man fast einen ganzen Satz miteinander gewechselt hatte und sie einen zum Verschwinden aufgefordert hatte. Klar, was auch sonst? „Remmidemmi“ ist ein weiteres Glanzlicht der Scheibe, denn eine Covernummer so zu seiner eigenen zu machen erfordert schon einige Kunstfertigkeit. Aber mal ehrlich Rotfront-Remmidemmi ist doch ein cooler Terminus und umschreibt die Live-Shows der Truppe auch wunderbar. Doch geht es auf der Platte nicht nur nach vorn, es gibt auch ruhigere Songs, die zum Entspannen, träumen und kuscheln einladen. „Gypsy Eyes“, „Sohase Modd“ und „Red Mercedes“ seien an dieser Stelle genannt. Die Liste der Gäste gibt einen weiteren Einblick in die Bandphilosophie: Um den Bandkern herum ist das Soundkollektiv noch weit größer. Freunde und Unterstützer erhalten hier die Möglichkeit beizutragen.

Was erhält man mit ROTFRONTs „Emigrantski Raggamuffin“ nun unterm Strich? Eine bunte Wundertüte? Definitiv! Ein Zeugnis interkultureller Verständigung und Interaktion? Auf jeden Fall! Und sonst? Einfach das beste Album der vergangenen Jahre, wenn man auf die wilden Seiten Osteuropas abfährt, sich von Balkanklängen mitreißen lassen kann und stilistischer Vielfalt gegenüber nicht verschlossen ist. Kurz: ROTFRONT legen hier ein Album vor, dass auf jeder Party laufen kann, aber ebenso die Straßenbahnfahrt erträglicher gestaltet sowie auf und vor der Bühne die Stimmung zum Kochen und das Publikum zum Ausrasten bringt.

Wertung: 9 / 10

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