Der Rezensent hat zu wenig geschlafen. Dementsprechend müde trinkt er seinen ersten Kaffee und liest dabei den Promotext der Band SPINELESS, die mit „Dysphonia“ ihren zweiten Longplayer veröffentlicht hat. Neben Godflesh werden Mike Patton und Chelsea Wolfe als Referenzen genannt, was der Rezensent als vielversprechend interpretiert und frohen Mutes auf „Play“ drückt. Sofort breitet sich eine Kakofonie, die ihresgleichen sucht, im Raum aus. Super Noise-Intro, denkt der Rezensent und nimmt selig lächelnd einen Schluck Kaffee. Nach rund anderthalb Minuten macht sich Skepsis breit und der Rezensent wirft einen Blick auf die Tracklist. Nein, das ist kein Intro … das ist tatsächlich der erste Song … och nö. Der Rezensent bereut seinen Entschluss, die Promo einer unbekannten Band zum ersten Kaffee zu hören, bereits vollumfänglich. Hätte er doch lieber etwas Entspanntes gehört, wie Godflesh oder Neurosis …
SPINELESS ist das Brainchild der griechischen Sängerin Chrysa Tsaltampasi, die für „Dysphonia“ mit dem Multiinstrumentalisten, Produzenten und Tontechniker Costas Verigas zusammengearbeitet hat. Während Tsaltampasi Vocals und Piano eingespielt hat, kommen von Verigas so gut wie alle anderen Instrumente (von ein paar Sechs-Saiter-Passagen mal abgesehen) wie Synthesizer, Drum-Sampler, Bass und Gitarren. In Sachen Gesang fährt die Griechin eine bemerkenswerte Bandbreite auf: Von melodisch bis kreischend ist alles dabei, was die Noise-affine Zuhörerschaft potenziell mögen könnte.
Seit ihrem Debüt „Speaking Of Chaos And Relative Peace“ aus dem Jahr 2018 ist die Sängerin musikalisch ganz schön herumgekommen. Prominentestes Beispiel dürfte die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Ben Frost für den Soundtrack der Netflix-Serie „1899“ sein. Weitere Einflüsse sind neben den genannten Musiker*innen und Bands aber auch Neurosis, Mono und 90er-Jahre-Alternative – wovon man auf „Dysphonia“ allerdings wenig bis gar nichts hört. Lediglich Chelsea-Wolfe-Reminiszenzen scheinen legitim: Gerade ruhigere, hauptsächlich auf Piano und Gesang reduzierte Songs wie „Me“ oder „You“ erinnern mit ihrem geschmackvollen elektronischen Unterbau an die Musik der US-Amerikanerin (oder auch an Massive Attack, wie „Where Am I?“).
Die härteren Stücke wie „Disease“ oder „Ode To My Procrastination“ haben dafür etwas angenehm Doomiges/Post-Metallisches an sich, was auf den ersten Blick gefällt, bei genauerer Betrachtung aber leider etwas unspektakulär und generisch wirkt und somit nicht dauerhaft im Gedächtnis bleibt. Auf halber (Album-)Strecke wird es dann nochmal kurz spannend: Das noisige „To The Core“ ist im Vergleich zum (nennen wir es mal scherzeshalber) „gewagten“ Opener „Justice“ je nach Tagesform sogar anhörbar, aber unterm Strich dann doch nicht ausreichend, um „Dysphonia“ insgesamt zu etwas Besonderem zu machen.
Obwohl die Produktion ansprechend druckvoll, wenn auch insgesamt unspektakulär ist, fällt auf, dass der Spannungsbogen, den SPINELESS versuchen aufzubauen, einfach nicht funktioniert. „Dysphonia“ ist kein durchkonzipiertes Album, sondern vielmehr eine Art Loseblattsammlung, auf der das durchaus mannigfaltige Schaffen von Tsaltampasi aus den letzten sieben Jahren festgehalten wurde. So etwas muss nicht per se schlecht sein, es gibt mehr als genug Alben da draußen, deren Songs in keinem Kontext zueinander stehen. Hier fällt es aber schon arg negativ auf, da es einfach keinen wirklichen stilistischen roten Faden oder großartigen Wiedererkennungswert gibt. Zumal geneigte Zuhörer*innen erst einmal besagten Opener überstehen müssen, um so etwas wie Musik auf die Ohren zu bekommen („Justice“ ist wirklich nur was für Leute, denen Sunn O))) zu groovy und Pharmakon zu cheesy sind).
Auch wenn der eine oder andere coole Moment auf „Dysphonia“ zu finden ist, wirkt das Album unausgereift und wenig homogen, was den Hörspaß deutlich schmälert. In Anbetracht der genannten musikalischen Referenzen hätte man deutlich mehr erwartet. In den 1990er Jahren hätte man die paar gelungenen Songs auf ein Mixtape gepackt und sicher immer wieder gerne gehört – während die CD des Albums im Regal verstaubt wäre. Schade eigentlich.
Der Rezensent kann nicht schlafen. Was zum Teufel haben sich SPINELESS mit diesem unhörbaren ersten Track gedacht, der mit über fünf Minuten auch noch zu den längsten Stücken auf „Dysphonia“ gehört? Als ob man einfach alle Songs des ersten Albums in einem Recording-Programm übereinanderlegen und als neuen Song exportieren würde … aber wer würde so etwas tun? Und warum? Nein, das ergibt alles keinen Sinn, denkt der Rezensent, als er sich zum wiederholten Male auf die andere Seite dreht. Schließlich steht er genervt auf und fährt den Laptop hoch, um ein entsprechendes Programm zu öffnen. Im Halbschlaf legt er alle Stücke des Albums auf verschiedenen Spuren übereinander und drückt auf „Play“. Eine ihm wohlbekannte Kakophonie ertönt … what the fuck!
Wertung: 5.5 / 10
Ach abgefahren, ich hab auch gerade nochmal auf Bandcamp reingehört und ja, Du hast recht, das ist jetzt ein richtiger und vor allem anhörbarer Track. Als ich die Rezension vor längerer Zeit geschrieben hatte, war der erste Song sowohl auf Bandcamp als auch in der Promoversion absolut unhörbar… da hatte jemand im Studio wohl irgendwas vergeigt 😉 ich werde den Text diesbezüglich überarbeiten, aber an der Bewertung ändert das trotzdem nicht viel.
Vielen Dank fürs Lesen und den Hinweis 🍻
Kann es eventuell sein, dass hier irgendwas schiefgelaufen ist? Ich habe mir den besprochenen Opening Track auf Youtube angehört und kann die Beschwerde über Unhörbarkeit nicht nachvollziehen. Ist doch ein ganz normaler Song?