Review The Tangent – Not as good as the Book

Zwei Jahre nach dem letzten Album „A Place In The Queue“ geht es für die Retroprogger THE TANGENT in die mittlerweile vierte Runde: Ihr neues Album „Not As Good As The Book“ ist gar ein Doppeldecker mit über 100 Minuten Spielzeit geworden und beruht auf einer gleichnamigen Kurzgeschichte, die Bandchef Andy Tillison geschrieben hat. Diese gibt es in der Special Edition dann auch gleich dazu.

Nun sind THE TANGENT seit ihrem Debüt „The Music That Died Alone“ vor fünf Jahren (damals noch mit „Flower King“ Roine Stolt an der Gitarre) ja so etwas wie die letzte Supergroup des Retroprogs, Transatlantic sind schließlich nicht mehr und Kino bewegen sich in deutlich melodischeren Bereichen. Folgerichtig sind bisher alle Werke von Tillison & Co. hervorragend von der Szene aufgenommen worden. Spieltechnisch sind die Jungs zweifelsohne eine Bank, einzig das Songwriting empfand ich auf den vergangenen Alben zu verspielt, zu dröge, zu mathematisch. Das waren zwar sicherlich musiktheoretisch Progsongs nach Maß, doch emotional konnte mich die Band nur selten packen, schwierige Gesangsmelodien und die nicht gerade überdurchschnittlichen Gesangsleistungen der Beteiligten taten ihr Übriges. Kurz gesagt fand ich die Musik zwar gut, doch es fehlte das kleine Extra, was sie für längere Zeit interessant und hörbar macht, was sie über die Summe ihrer zweifelsohne guten Teile hebt.

Doch genug der Einleitung, denn „Not As Good As The Book“ steht auf dem Programm. Oberflächlich betrachtet gibt es hier zunächst mal die übliche THE TANGENT-Kost: Retroprog in Perfektion, symphonisch ausladend, jazzig und mit deutlicher Canterbury-Schlagseite. Doch irgendwie ist dieses Mal etwas anders. Chef Andy Tillison beschreibt es so: „Die Scheibe klingt lebendiger als die Vorgänger, und ich denke, dass sie mehr rockt als die anderen drei. Diesmal haben wir uns nicht selbst auf irgendwelche Formeln begrenzt. Nachdem die grundsätzlichen Wurzeln von THE TANGENT etabliert sind, ist es die generelle Idee, sie weiter zu entwickeln und etwas anderes auszuprobieren.“

Typisches Promogelaber? Ja, klar! Dennoch ist genau diese Tatsache der Grund dafür, dass THE TANGENT plötzlich Spaß machen, teilweise gar locker flockig unterhalten. Hier wird natürlich kein Spock’s Beard-Spaßniveau erreicht, aber wer die Vorgänger der Tangente kennt, wird den Unterschied sofort merken: Da wären zum Beispiel die 80er-Jahre „Final Countdown“-Keyboards im Opener „A Crisis In Mid Life“, der auf dem Album stilistisch eine völlige Ausnahmestellung einnimmt. Wenn dann beim kurzen Instrumental „Celebrity Purée“ Jethro Tull nicht weit sind und es mit schön viel Hammond und leichter DoubleBass groovt und progt, dann weiß man, THE TANGENT haben die Handbremse gelöst. Der Hauptteil des Materials spielt sich dennoch im Midtempo ab, es gibt viele epische Parts und tolle Instrumentalausflüge, ein Highlight ist hier wieder Theo Travis an Saxophon und Flöte, die – hört her – dieses Mal kein einziges Mal nerven. Keyboards gibt es natürlich auch zu Genüge und die rockigere Grundausrichtung des Materials macht klar, dass Gitarrist Jakko M Jakszyk nun voll in die Band integriert ist. Der Gesang wird hauptsächlich von Andy Tillison übernommen und ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Hier hilft wohl nur Reinhören, dann weiß man sicher, ob man mit der leicht seuseligen, nuscheligen Stimme klar kommt. Insgesamt kommt das neue Material deutlich melodischer und auch reduzierter, sprich strukturell einfacher daher. Die Songs sind nicht mehr so vollgestopft, haben einen schlüssigeren Spannungsbogen und sind schon nach kurzer Zeit nachvollziehbar.

Vom Aufbau her ist „Not As Good As The Book“ eindeutig zweigeteit: Auf CD1 befinden sich die kürzeren Nummern (zwischen drei bis zehn Minuten), auf Seite zwei hat man hingegen zwei über 20-minütige Longtracks platziert. Stilistisch gehören die beiden Scheiben aber sicherlich zusammen, hier gibt es keine großen Unterschiede auszumachen, bis auf die Tatsache, dass in den Longtracks eben mehr Zeit für Instrumentalparts bleibt. Als Anspieltipps empfehle ich den Titeltrack und „Lost In London Twenty Five Years Later“.

Das vierte Album von THE TANGENT ist ein Mammutwerk geworden, das überzeugen kann. Der Weggang von Roine Stolt nach „The World That We Drive Through“ hat den Jungs nur gut getan und das Ergebnis kann sich hier erstmalig voll entfalten. Alle, die ihren Retroprog stilsicher wollen und auf perfekte Arrangements (und auch manchmal leicht seltsame Keyboardsounds, die aber gerade das Salz in der Suppe sind) stehen, sollten sich diesen Doppeldecker auf ihrem Einkaufszettel notieren. Mir hat sich die Band damit völlig neu erschlossen. Sie wandelt varianten- und ideenreich, aber stets mit einem starken Bewusstsein für den Song an sich, in ihrer eigenen musikalischen Welt. Das erste Prog-Highlight des noch jungen Jahres!

Wertung: 9 / 10

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