Amorphis – „Borderland“ Listening Session

Nuclear Blast Records sind nach Hamburg gezogen – ihr Ableger Atomic Fire (unter neuem Namen) nach Hamberg. Das ist dem ehemaligen nuklearen „Ground Zero“ Donzdorf geografisch näher (etwa in gleicher Distanz westlich statt östlich von Stuttgart), vor allem aber charakterlich: Mit nur rund 1.000 Einwohnern ist der Ort zwar um eine Potenz kleiner, doch umso mehr steht Hamberg unter dem Stern des Heavy Metal, seit sich der hier ansässige Unternehmer und Metalfan Sven Bogner mit REIGNING PHOENIX MUSIC (RPM) den Traum vom eigenen Label verwirklicht hat. Und weil das Label eben nicht bei Null anfangen musste, sondern Atomic Fire Records übernommen hat (mehr dazu hier), die zuvor als Filetstück aus der Verkaufsmasse von Nuclear Blast Records herausgelöst worden waren (mehr dazu hier), stehen nun in schöner Regelmäßigkeit Rock- und Metal-Legenden wie Udo Dirkschneider oder Primal Fear mit ihrem Rollkoffer in der Dorfidylle – und mit ihnen aus ganz Europa eingereiste Pressevertreter auf der Jagd nach ersten Höreindrücken und Hintergrundgesprächen.

AMORPHIS bei ihrer Listening Session 2025
AMORPHIS bei ihrer Listening Session 2025

So auch an diesem verregneten Mittwochnachmittag, an dem RPM zur exklusiven Listening-Session des eben erst angekündigten AMORPHIS-Albums „Borderland“ geladen haben. Während sich der Rest der Band noch von der Anreise ausruht, zieht Sänger Tomi Joutsen durch: Obschon seit vier Uhr morgens auf den Beinen, schließt er sich mit Stift und Papier bewaffnet der Presse an, um im Bognerschen Heimkino „Borderland“ zu hören. Warum das? „Ich habe versucht, tief in das Album einzutauchen – es war auch für mich das erste Mal, dass ich das fertige Album wirklich konzentriert angehört habe“, erklärt der Fronter. Während des Produktionsprozesses sei man sich schließlich stets auf technische Details fokussiert. „Das war jetzt das erste Mal, dass ich die Musik wirklich als Kunst genießen konnte. Und ich war wirklich stolz auf das, was ich gehört habe!“

Aufgenommen wurde die Musik diesmal in Dänemark – zumindest instrumental. Die Gesangsspuren wurden in Finnland eingesungen. Auch dafür hat Joutsen eine gute Erklärung parat: „Für die letzten beiden Alben war ich in Schweden, jeweils rund drei Wochen. Das ist ehrlich gesagt etwas frustrierend, weil ich als Sänger nur zwei Tage am Stück aufnehmen kann, dann muss ich eine Pause machen. Darum habe ich dort jeweils drei Wochen verbracht, allein – das wird dann schon langweilig.“ Diesmal lief es für den Sänger darum deutlich entspannter: „Ich habe morgens angefangen und um vier Uhr nachmittags Schluss gemacht, dann bin ich nach Hause gefahren und habe versucht, alles zu vergessen, was wir den Tag über gemacht hatten.“

Entspannter ist ein Stichwort, das auch auf den restlichen Entstehungsprozess zuzutreffen scheint – insbesondere, was die Zusammenarbeit mit Produzent Jacob Hansen angeht: Anders als Jens Bogren, mit dem AMORPHIS die letzten drei Alben aufgenommen hatten und der von den Demos bis zum finalen Mastering als Produzent involviert war, lag der Fokus von Hansen auf der Arbeit im Studio: „Er nimmt einfach nur auf und lässt die Band ihr Ding machen. Er mischt sich nicht in die Arrangements ein, wenn wir ihn nicht darum bitten. Jens vertritt seine Meinung sehr deutlich, er ist in diesem Prozess wie ein Bandmitglied. Da ist Jacob ganz anders“, berichtet Bassist Olli-Pekka Laine, genannt Oppu. „Die Songs, wie ihr sie jetzt hört, sind noch ziemlich exakt so, wie wir sie im Proberaum gespielt haben“, bekräftigt Gitarrist Esa Holopainen – eine Arbeitsweise, die beide an Alben wie „Silent Waters“, „Eclipse“ und „Skyforger“ oder sogar von 1990er-Alben wie „Elegy“ erinnert. Das bleibt nicht ohne Folgen: „Die Band klingt einfach wieder organischer!“, fasst Oppu die Entwicklung treffend zusammen.

So ist es gewiss kein Zufall, dass bereits der Opener „The Circle“ mit seinem gemütlichen Einstieg und dem fast poppigen Charakter merkliche „Silent Waters“-Vibes hat. Schon mit dem darauffolgenden „Bones“ wird aber klar, was Keyboarder Santeri Kallio meint, wenn er sagt, das neue Album sei melodischer als das letzte, aber auch und gradliniger und wuchtiger: Der Track ist eine überraschend fette Downtempo-Nummer mit wuchtigen Growls – insbesondere im eingängigen, titelgebenden Refrain – aber eben auch catchy Klargesang und ausladenden Soli. Mit anderen Worten ist der Song also genau das geworden, was Santeri sich für „Borderline“ vorgenommen hatte: „Ich wollte kraftvolle Songs mit starken Melodien und viel Raum für den Gesang und jedes Instrument, um sich auszutoben.“

Dass AMORPHIS dabei etwas Neues, Überraschendes erschaffen wollten, wie Santeri es ausdrückt, hört man spätestens bei „Dancing Shadow“, einer flotten, groovigen Nummer, die an den „Queen Of Time“-Hit „The Bee“ denken lässt – allerdings mit unüberhörbarem Disko-Beat. Der sei unausweichlich gewesen, wie Drummer Jan Rechberger hervorhebt: „Wir haben verschiedene Beats ausprobiert, aber es hat einfach kein anderer funktioniert.“

Bei aller Experimentierfreude bleiben AMORPHIS aber natürlich unüberhörbar AMORPHIS: Piano und geschwungene Leadigarren, liebliche Melodien und Klargesang treffen etwa in „Fog To Fog“, aber auch „The Strange“ auf kraftvolles Drumming, schiebende Riffs und immer wieder den pathetischen Effekt der Rückung, also der unvermittelten Verschiebung des tonalen Zentrums um die Tonika: Gerade dieses Stilmittel mag bisweilen etwas ausgelutscht klingen – oder eben, positiv ausgedrückt: bewährt.

In die zweite Hälfte starten AMORPHIS mit dem fast balladesk beginnenden „Tempest“, das sich Cleangitarren mit Piano über eine zahme Zerrgitarre bis zu einem verspielten Solo-Finish steigert, ehe „Light And Shadow“ das Album in einem Song komprimiert vorstellt: Keyboard und Synthesizer, ein eruptives Riff mit zwischenzeitig hohem Tempo und diverse Breaks erinnern an AMORPHIS zu „Skyforger“-Zeiten – zugleich klingt das Stück erfreulich unverbraucht: „Der Song lebt von der Melodie und dem Groove und einigen für AMORPHIS untypischen Elementen, beinhaltet aber auch typische AMORPHIS-Elemente“, konstatiert Songwriter Santeri sein Werk. So gesehen also die perfekte Single – trotzdem war der Komponist überrascht, dass es das Stück ob seiner „Andersartigkeit“ auch nur in die engere Auswahl geschafft hat. Die Entscheidung, welche der über 20 Songs der Vorproduktion am Ende auf dem Album landen, haben AMORPHIS Produzent Hansen überlassen – aus sehr pragmatischen Gründen, wie Oppu erklärt: „Bei uns komponieren viele Leute und auch wenn wir ziemlich locker drauf sind, hat doch jeder sein eigenes Ego. Darum ist es bisweilen schwer, die Dinge nicht nur aus der eigenen Perspektive zu sehen.“ Ein externer Entscheider sei da einfach die beste Lösung.

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Auch ohne die verworfenen Songs zu kennen, kann man Hansen gratulieren – denn „Borderland“ geht auch im letzten Drittel so abwechslungsreich weiter, wie es begonnen hat: „The Lantern“ begeistert als düsterer, wuchtiger Mid-Tempo-Track, bei dem sich Klargesang und Growls ebenso abwechseln wie Zerr- und Cleangitarren. Vielseitig, verspielt und mit viel Klargesang erinnert der darauffolgende Titeltrack ein wenig an „Eclipse“-Zeiten. Und obwohl der Midtempo-Track im Albumkontext zunächst etwas blass bleibt, könnte er aufgrund der vielen Details mit der Zeit zum Album-Hit avancieren – ein typischer Titeltrack also, ehe AMORPHIS auch noch den typischen Rausschmeißer abliefern: Was als ruhige Nummer mit gefälligem Piano und getragenen Leadgitarren beginnt, reißt bald mit brachialem Riffing und kraftvollen Growls alles mit sich, ehe AMORPHIS im Grande Finale mit orchestralen Elementen alle Register ziehen: Ein grandioser Abschluss, der stilistisch an „Under The Red Cloud“ erinnert.

Mit dem Album im Ohr wird klar, was Gitarrist Tomi Koivusaari meint, wenn er konstatiert: „Als Band ist unser Zusammenspiel mehr im Fluss als je zuvor“. Denn tatsächlich klingt „Borderland“ im Ganzen, trotz all der Details und Effekte, deutlich stringenter und flüssiger als die letzten AMORPHIS-Alben.

Was die beiden noch nicht vorgestellten Bonustracks „War Band“ und „Rowan And The Cloud“ angeht, die sich auf der Digipak- und Vinyl-Edition des Albums finden, müssen wir uns auf Oppus Einschätzung verlassen: „Es war klar, dass das Album ohne sie kohärenter sein würde, weil sie so anders sind: Der erste ist hinsichtlich der Wechsel zwischen den Parts ziemlich proggy – in einer Weise, wie wir das seit den 1990ern nicht mehr gemacht hatten. Der andere ist etwas gradliniger, hat dafür aber einen 1960er-Jahre-Rock-Vibe: Es gibt eine finnische Band namens Kingston Wall, die uns sehr geprägt hat, und dieser Song bezieht sich auf ihren Sound.“

Für das Textwerk von „Borderland“ haben sich AMORPHIS abermals mit Pekka Kainulainen zusammengetan, der schon seit „Silent Waters“ die Lyrics schreibt – und zwar auf Finnisch. „Das ist eigentlich eine etwas dumme Art zu arbeiten, denn wir müssen die Texte natürlich übersetzen“, gibt Tomi Joutsen schmunzelnd zu. Selbst den Stift in die Hand zu nehmen, ist für den Fronter trotzdem keine Option: „Ich persönlich hasse es, Texte zu schreiben. Ich habe ein paar gemacht, aber die sind wirklich scheiße. Es ist also wirklich besser, wenn ich das nicht mache.“ Thematisch hat sich Pekka auf eine Art Zeitenvergleich eingelassen: „Die Generationen vor uns, unsere Vorfahren, mussten ebenfalls Tod und Zerstörung ertragen. Um die Mythologien der Menschheit und die Hörer von AMORPHIS zu ehren, habe ich Texte geschrieben, die hoffentlich etwas von der Demut und Stärke vermitteln, auf die sich die Menschheit immer verlassen hat.“ lässt sich der Finne im Promotext zitieren.

Für das diesmal als Gemälde ausgeführte Cover-Artwork haben AMORPHIS erstmalig mit dem Niederländer Marald van Haasteren zusammengearbeitet, der bereits für Bands wie BARONESS, NECROT, LAMB OF GOD gearbeitet hat. Dass van Haasteren das Schwanenmotiv wiederbelebt hat, das AMORPHIS-Fans schon von „Silent Waters“ kennen, erklärt Tomi Joutsen wie folgt: „Er hatte die Idee, weil er sich sehr für alte finnische Mythen interessierte. Und der Schwan ist darin ein sehr wichtiges Tier.“ Gemeinsam mit dem Fährmann auf dem Back-Cover ergibt sich daraus ein Gesamtbild des Tuonela Joki, des Totenflusses in der Finnischen Mytologie  – „passend zum Titel ‚Borderland‘, zu den Lebenden und den Toten und allem, was dazwischen liegt“, so Joutsen. Den krassen Stilwechsel zum Artwork des Vorgängeralbums erklärt Oppu wie folgt: „Wir wollten auch etwas Organischeres haben. Es ist handgemacht!“ – Worte, die so auch zu „Borderland“ im Ganzen passen.


„Borderland“ erscheint am 26.09.25 in diversen Formaten über Reigning Phoenix Music.

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Ein Kommentar zu “Amorphis – „Borderland“ Listening Session

  1. Die Single „Light and Shadow“ klingt meiner Meinung nach sehr poppig, da ist nicht mehr viel Rock drin. Jetzt nennt der Text häufig die starke Periode Eclipse bis Skyforger, welche ja teils gar eine Rückbesinnung auf die Death Metal Anfänge der Band waren.
    Wie ist also der Gesamteindruck, wenn ich fragen darf? Denn ich hatte Amorphis etwas aus den Augen verloren, nachdem mir die letzten Alben doch allzu beliebig waren und das „hab‘ ich schon mehrfach so gehört“-Gefühl transportierten.

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