Review Angizia – Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias

Schach, neben Mühle vielleicht das einzige Spiel, in dem es nicht auf Glück, sondern auf das reine Können der Spieler ankommt. Um dieses mystische Brettspiel ranken sich wahrscheinlich ebenso viele Legenden, wie sich Felder auf dem Spielfeld befinden. War es in Zeiten ausgefeilter Konzepte nicht längst fällig, diesem Spiel eine eigene CD zu widmen? Die deutsch-österreichische Formation ANGIZIA, bekannt für außergewöhnliche Ideen, hat sich dem also angenommen, herausgekommen ist aber viel mehr. Neben dem Schachspiel wird mal eben die Situation im Russland der Zarenzeit beleuchtet und, als ob es nichts wäre, ein Avantgarde-Album der Extraklasse präsentiert. Die avantgardistische Ausrichtung wird beim betrachten einiger Songtitel bereits mehr als deutlich, „Pique Dame und Rachmaninow, 1904“ oder „Schlittenfahrt mit einer Lodenpuppe“ weisen eine klare Spur. Und die Musik tut ihr Übriges, mit beinahe dissonanten Klavierakkorden startet ein Album, welches von einer selten geheimnisvollen Aura umgeben ist. Häufig zwischen männlich und weiblich wechselnde Gesänge, welche vielleicht die Vielfalt noch weiter unterstreichen sollen, abwechselungsreiche Klavierfolgen, Streichinstrumente, welche meistens im Hintergrund agieren, eine Geschichte, welche den willigen Hörer in eine fremde, ja exotische Welt entführt. Zum Ende des Openers steigern sich die Streicher in einen Wahnsinn, in dem die Melodien aus allen Rohren feuern, die innere Zerrissenheit des Erzählers wird so unglaublich transparent gemacht, das es beinahe zum Fürchten ist. Klar, die Eingängigkeit muss hierbei auf der Strecke bleiben, es wird ja kaum ein Motiv mehrmals dargeboten, aber wen stört das schon, wenn es dafür viele Stunden „Erlebnis-Metal“ serviert bekommt. Der Name Rachmaninow fällt im Titel dabei natürlich zufällig, gewisse Anleihen des russischen Meisters sind nicht nur ein Produkt der Protagonisten, sondern vollkommen gewollt. Wie gesagt, diese Umstände machen es dem Hörer nicht immer leicht, es ist allerdings dringend anzuraten, sich auf diese Musik einzulassen.

„Ich bin ein Bewohner des S/W-Diagramms“ ist auch nicht unbedingt das, was man einen Chart-Breaker nennen würde, immerhin gibt es hier eine Stelle, die man, sollte sie häufiger vorkommen, als Refrain bezeichnen könnte. Denn hier gibt es tatsächlich einmal eine Tonfolge, die sich rasch in den Hörgängen festsetzt, man könnte beinahe von Wiedererkennungswert sprechen. Insgesamt ist dieser zweite Song auch schneller, nein, flotter, als der Opener. Von schnell zu sprechen hieße, die Musik in eine Sphäre zu heben, in der sie nicht zu Hause ist – auch wenn es im Folgenden mehrmals zu Ausbrüchen kommt, welche man an sich so nicht erwarten würde. „Der Kinderzar“ beispielweise ist eine durchaus zackige Nummer, zum Metalsong fehlt es aber vor allem aus dem Grund, dass nur das Klavier durch treibendes Drumming begleitet wird, die Gitarre bleibt, wenn überhaupt, im Hintergrund. Faszinierend ist jedoch das Gesangsduett der Solisten (den weiblichen Part hat Irene Denner inne, ob jetzt gerade Engelke – Mastermind – oder Christof Niederwieser singt, bleibt mir bis auf Weiteres verschlossen).

Das bereits angesprochene „Schlittenfahrt mit einer Lodenpuppe“ ist vielleicht der beste, sicher aber der ungewöhnlichste Song des Albums. Er startet mit einer enormen Dynamik, die Musik prescht vorne weg, dass es dem Gesang kaum möglich ist zu folgen. Abrupt folgt ein ruhiger Teil, bei dem man sich locker zurücklehnen kann, aber Vorsicht walten lassen sollte, denn der Frieden trügt. Man läuft Gefahr, wichtige Elemente zu verpassen, die Gefühle sprudeln an allen Ecken, man hat uns viel zu sagen. Und immer wieder dominieren die Tasten. Wo heutige Bands gerne Effekte bringen und manchmal auch gerne Effekte, nutzt ANGIZIA den natürlichen Klang des Pianos, um den Hörer immer wieder zu verzaubern. Selten kam es vor, dass ein Instrument ein Album so beherrscht, aber dennoch nie aufdringlich oder übereingesetzt wirkt.

Blablabla…so könnte es fast ewig weitergehen, wenn ein wunderbares Album nicht irgendwann zu Ende wäre. Meine Damen und Herren, hier wird die gehobenste Art des Ausdruckes, hier wird Kunst geboten. Freilich muss man sich auf ANGIZIA einlassen können und sollte nicht nach drei Durchgängen die Flinte ins Korn reinwerfen. Mit entsprechender Energie des Hörers kann er sich selbst ein großartiges Erlebnis verschaffen. Wer jetzt noch nicht überzeugt ist, vor allem unter den Metalfreunden, dem sei gesagt, dass durchaus bekannte Musiker des extremen Bereichs hier mitgewirkt haben, so spielte beispielsweise Moritz Neuner (Ex-Dornenreich, Korova) u.a.) das Schlagzeug ein und Jochen Stock, besser bekannt als „Eviga“ (Dornenreich) war für die akustische Gitarre zuständig. Diese „Stars“ der österreichischen Metalszene sollten aber nicht darüber hinweg täuschen, dass hier durch die Bank fähige Instrumentalisten und Sänger am Werk waren, zudem erstellte Mastermind Engelke ein Konzept, welches als Wegbereiter für Alben wie „Her von welken Nächten“ von Dornenreich zu betrachten ist, und dies nicht nur, weil sich hier Dornenreich-Musiker tummeln. Der Freund der ambitionierten Musik wird sich freuen, hier ein spannendes, facetten- und abwechselungsreiches Album mit vielen kleinen Geheimnissen erleben zu können. Ein Erlebnis ist ANGIZIA fürwahr, auch wenn es etwas Zeit braucht und sicher nicht jedermanns Sache ist.

Wertung: 8 / 10

Publiziert am von Jan Müller

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert