Mausoleum Records nimmt sich augenblicklich gerne Bands aus früheren Zeiten an, die nach der Jahrtausendwende reformieren. Nachdem bereits die NWoBHM-Veteranen Torch unter Vertrag genommen wurden, geht die Reise diesmal sogar in die frühen 70er zurück. Damals machte für ganz kurze Zeit die britische Truppe JERUSALEM auf sich aufmerksam. Nach der Produktion eines einzigen Albums verschwanden die Jungs jedoch wieder von der Bildfläche.
Die früheren Bandmitglieder Lynden Williams und Robert Cooke wollen es aber offensichtlich nochmal wissen und riefen ihr altes Projekt mit neuen Mitstreitern wieder ins Leben. Es handelt sich dabei um Dave Meros und Nick D’Virgilio, die man von Spock’s Beard kennt, sowie den ehemaligen Yes- und Asia-Keyboarder Geoff Downes. Das erste Werk dieser Besetzung nennt sich „Escalator“.
JERUSALEM begehen eine Gratwanderung zwischen Frühsiebziger Hardrock und Heavy Metal und dem Progressive Rock verschiedener Epochen. Teilweise haben sie Material ihres früheren Albums „Jerusalem“ neu intoniert, einige Tracks aber auch für dieses Album erst geschrieben.
Der Opener „Hooded Eagle“ gehört zu den älteren Stücken. Ich frage mich beim Hören, ob JERUSALEM riffmäßig da ein bisschen von Deep Purples „Child In Time“ abgekupfert haben, oder ob es eher umgekehrt war. Auch „Midnight Steamer“ war bereits auf dem 72er-Werk „Jerusalem“ enthalten. Hier haben die progressiven Arrangements erweiterte Auftritte, doch bringt der Mid-Tempo-Stampfer auch recht energischen Groove mit sich. Weiter geht’s mit „Stone Free“, einem Jimi Hendrix-Cover. Der Song erhält von JERUSALEM noch etwas mehr Pep und wird von ihnen auch ausgezeichnet performed. Bob Cooke beweist, dass er am Sechssaiter auch einiges drauf hat.
Mit „Over The Chasm“ gibt es den ersten neu komponierten Track. Er trägt trotzdem den nostalgischen Touch in sich. Man merkt ihm aber auch an, dass die neuen Mitglieder beim Songwriting mit Hand anlegten. Parallelen zu Stücken von Spock’s Beard kommen wohl nicht ganz zufällig. Die Vermischung von frühzeitlichem Hardrock und modernerem Progressive Rock versteht aber zu begeistern. Und der Höhepunkt setzt dem Song die sprichwörtliche Krone auf.
„Kamikaze Moth“ war der allererste Song von JERUSALEM und erinnert an ganz frühe Deep Purple, aber auch an The Doors. Mit der neu verpassten Dynamik wird dem Track nicht nur neuer Atem eingehaucht, sondern auch wieder eine interessante Brücke von den späten 60ern in die Neuzeit gezogen. Der modernere Progressive-Rock-Song „The Void“ bringt die genialsten Riffs und die schönste Hauptmelodie des Albums ins Spiel. „Banging All Night Long“ ist zwar kein Banger nach Metal-Maßstäben aber für JERUSALEMs Verhältnisse eine ziemlich straighte Komposition mit Siebziger-Feeling.
Obwohl auch „Spiders‘ Rendezvous“ ein neuer Song ist, vermittelt er sehr schön den Progressive-Rock-Spirit der späten Sechziger und frühen Siebziger. Dass das Alex-Harvey-Cover „Faith Healer“ genau JERUSALEMs Ding ist, merkt man an der ebenso emotionalen wie intensiven Performance sofort. Zum Ausklang gibt es mit „When The Wolf Sits“ nochmal einen Song, der ursprünglich vom 72er-Album stammt und der das Album mit einer Reihe weiterer toller Riffs und einer unerwarteten Energie beschließt.
Gerade wenn ich mir die alten Kompositionen von JERUSALEM so anhöre, verstehe ich nicht, dass die Briten den Durchbruch damals nicht geschafft haben. Denn im Songwriting liefen sie vielen Bands aus dieser Aera locker den Rang ab. Die Stücke verbanden Eingängigkeit mit Anspruch, versprühten Energie und glänzten mit Arrangements, die ihrer Zeit zum Teil voraus waren.
Umso besser ist es, dass es diese JERUSALEM, wenn auch in verändertem Line-Up, nun wieder gibt. So kommt man doch noch in den Genuss dieser starken Stücke. Außerdem hoffe ich, dass uns JERUSALEM erhalten bleiben und den Hörer mit ihrem erweckten Spirit der frühen Siebziger noch recht lange erfreuen werden.
Da die Kompositionen in ihrer durchgehend hohen Qualität so schön zeitlos sind und die alten und jüngeren Musiker eine durch und durch professionelle Leistung abliefern, gibt es von mir für „Escalator“ eine astreine Empfehlung. Wer auf anspruchsvolle Songs mit Frühsiebziger-Touch, gekleidet in ein modernes und druckvolles Soundgewand, steht, sollte sich „Escalator“ nicht entgehen lassen.
Wertung: 9 / 10