Suizid, Brandstiftung, Mord – wer nach den größten Schauergeschichten sucht, die die Metalszene je geschrieben hat, landet zweifellos bei den Ereignissen in Norwegen Anfang der 1990er-Jahre. Das Gewirr einer immer extremer werdenden Subkultur, das in der berüchtigten Tötung von Øystein „Euronymous“ Aarseth durch Kristian „Varg“ Vikernes am 10. August 1993 gipfelte, hat bis heute nichts von seiner morbiden Faszination eingebüßt.
Bereits 1998 versuchten der norwegische Journalist Didrik Søderlind und der Musiker Michael Moynihan die Geschehnisse in ihrem – durchaus umstrittenen – journalistischen Buch „Lords Of Chaos“ zu sortieren. Der für seine Musikvideos bekanntgewordene Regisseur Jonas Åkerlund ging gemeinsam mit Drehbuchschreiber Dennis Magnusson nun einen Schritt weiter: Vom Buch zum Spielfilm. Dass das bei einer Szene, in der sich viele Protagonisten ernster nehmen, als ihnen gut tut, ein zumindest mutiges Unterfangen ist, steht außer Frage: Es locken Klischees, es droht Heroisierung, es schreit nach Trash. Doch Åkerlund und Magnusson gelingt allein schon durch das Umschiffen dieser drei für ein Filmprojekt zerstörerischen Klippen großes Kino.
Åkerlunds Dead, Euronymous, Varg oder Faust sind nicht nur durchweg sehr gut besetzt, sondern machen genau dieses „sich selbst zu ernst nehmen“ und die daraus resultierende Gruppendynamik – die blinde Begeisterung für den Coolsten der Gang, die Panik, als alles aus dem Ruder zu laufen beginnt – nachvollziehbar. Waren wir nicht, auf merklich harmloserem Level freilich, in unseren Jugendtagen auch mal die, die krasse Typen und ihre krassen Aktionen bewunderten, einander übertrumpfen mussten, immer mehr wollten und nicht wussten, wann Schluss ist? Und zur Hölle, so eine lichterloh brennende Kirche schafft ein ganz schön starkes Bild. Glücklicherweise merkt man als Zuschauer schnell, wo der eigene pubertäre Protest seine Grenzen hatte. Vikernes & Co. merkten dies nicht.
Gewisse Lücken in der Erzählung sind nicht von der Hand zu weisen: Dem in der Materie bewanderten Betrachter fehlen sicher einige Personen, andererseits bietet der Film durch den Fokus auf die spektakulären Ereignisse wenig neue Erkenntnisse. Auch versucht sich „Lords Of Chaos“ nicht an Erklärungsversuchen, weswegen die jungen Männer (oder großen Kinder) im „langweiligen“ Norwegen dieses Bedürfnis nach immer extremeren Ausdrucksformen entwickeln. Doch das eigentliche Ziel verlieren Åkerlund und Magnusson nie aus den Augen: Die Geschichte von „The True Mayhem“ und damit die des True Norwegian Black Metal lebendig werden zu lassen.
Die größte Stärke von „Lords Of Chaos“ sind dabei die gelungen skizzierten Charakterportraits: Wenn der junge Varg als milchgesichtiger Teenager im Dönerladen eine erste Kontaktaufnahme mit dem obercoolen Euronymous versucht, möchte man als Zuschauer vor Fremdscham im Kinosessel versinken. Die Figuren sind von Anfang an glaubwürdig angelegt, werden weder glorifiziert noch über die Maßen dämonisiert. Das macht den Lauf der Dinge nicht logisch, aber nachvollziehbar – und den Film so erschreckend.
Wie um dies zu kontrastieren, sorgt „Lords of Chaos“ mit Anleihen an amerikanische College-Filme gelegentlich für Comic Relief. Vielleicht ist es notwendig, dass man hin und wieder lachen muss, während die Protagonisten in ihr dem Zuschauer bekanntes Verderben rennen. Besonders schön ist der Kommentar eines Journalisten, den Vikernes zur Verbreitung seiner kruden Weltsicht einbestellt hat: Die von ihm dargelegte Mischung aus Heidentum, Satanismus und ein bisschen Nazikult trocken als „breit aufgestellt“ zusammenzufassen, trifft es auf den Punkt.
Diese und andere humorvolle Momente sind auch ein Stück weit nötig, um die drastischen Gewaltdarstellungen unbeschadet zu überstehen. Kontrastiert wird die reale Blutorgie dabei immer wieder mit Splatterfilmen, die sich die jungen Norweger in ihren schäbigen Buden reinziehen. Als plumpe Erklärung für die Verrohung der Jugend werden diese hier freilich nicht missbraucht: Der soziologischen Komplexität der Geschehnisse ist sich der Regisseur durchaus bewusst, einfache Antworten liefert er aus gutem Grunde nicht.
Jonas Åkerlund präsentiert mit „Lords of Chaos“ eine würdige und detailverliebte Lesart der zweiten Welle des Black Metal. Die Mithilfe einiger der damals Beteiligten an dem Filmprojekt (eine zentrale Figur natürlich ausgeschlossen) spricht eine deutliche Sprache. Die ganze Story als Film noch einmal zu rekapitulieren, macht diese extreme Epoche der Musik- und Gesellschaftsgeschichte in einer Form greifbar, die durch keine Buchlektüren oder Dokumentation möglich ist. Mitten in den Geschehnissen von damals zu stecken, verdeutlicht eines: Der „True Norwegian Black Metal“ mag sich vordergründig radikal gegen die Dekadenz der westlichen Gesellschaft richten. Er ist aber selbst eines der deutlichsten Zeugnisse der Dekadenz hormongeplagter Wohlstandsjugendlicher.
Keine Wertung
Schön zu hören. Danke für die Info.
Ja, den letzten Satz kann man im Rückblick ruhig so stehen lassen. Ich denke aber, dass der Film wohl unter Ausschluss zweier zentraler Figuren verwirklicht wurde, Euronymous und Louis Cachet (Varg Vikernes). Und wohl auch ohne die Musik von Mayhem…
Mal schauen…
Nungut, Euronymous, klar, und Varg – natürlich ein schwieriges Thema. Wobei fraglich ist, ob der Film an Authentizität gewonnen hätte, wenn ein notorischer Selbstdarsteller wie er hätte reinreden dürfen. Allein seine Youtube-Kommentare zum Film reichen aber als gute (nachträgliche) Begründung, warum es besser war, ihn NICHT zu fragen. Ohne die Musik von Mayhem stimmt so übrigens nicht, es kommt an diversen Stellen im Film Musik von Mayhem vor.
OK, dann hab ich falsche Infos bezügl. der Musik. Ich bin auch der Meinung, dass es besser ist (und auch logisch für einen „seriösen“ Regisseur), dass man solch einen Spinner wie V. Vikernes nicht mit hinzugezogen hat. Ich hab nicht viel von ihm gesehen, aber was ich sah war doch sehr von seiner eigenen selbstgefälligen „Realität“ geprägt, sprich: weit daneben gepisst. Der Film hätte dadurch garantiert nicht gewonnen – stimmt.
Die Trailer die ich mir angeschaut habe, haben mich durch das amerikanische Englisch aber doch eher abgeschreckt. Muss aber nichts heißen. Kommt da ’ne Synchro? ist da was bekannt? Bin trotzdem gespannt.
Eine synchronisierte Fassung ist in Arbeit, ja – das amerikanische Englisch ist gewöhnungsbedürftig, aber immerhin gut zu verstehen. Und zum Thema Varg kann ich nur beipflichten – in Kürze geht unser Interview mit Jonas Akerlund online, darin mehr zu dem Thema!