Review Liquid Tension Experiment – LTE 3

Juli 2020: Der Terminkalender von Mike Portnoy (Transatlantic, Sons of Apollo), John Petrucci (Dream Theater), Jordan Rudess (Dream Theater) und Tony Levin (King Crimson, Peter Gabriel) war Corona-bedingt komplett leer gefegt und der Lockdown zwang ihre bestehenden Projekte zum absoluten Stillstand. Für die von unbändiger Kreativität getriebenen Portnoy, Petrucci, Rudess und Levin war das nichts: Nach selbstverordneter Selbstisolation und negativen Testergebnissen entschlossen sich die vier Amerikaner deswegen, sich in einem New Yorker Studio zu treffen, um dort für zwei Wochen (!) an einem gemeinsamen Album zu arbeiten – dem dritten Album vom LIQUID TENSION EXPERIMENT.

Nachdem die Supergroup 1998 mit einem selbstbetitelten Album debütierte und bereits ein Jahr später die zweite Full-Length folgen ließ, mussten für die Veröffentlichung von „LTE 3“ erst zwei Dekaden vergehen. Vier begnadete Musiker, die in dieser Konstellation seit über zwanzig Jahren nicht mehr zusammen gespielt haben, treffen sich also mit der festen Absicht, in einem halben Monat ein veröffentlichungsfertiges Album einzuspielen – wo andere Musiker fassungslos die Hände über den Köpfen zusammenfalten würden, legen LIQUID TENSION EXPERIMENT erst richtig los, oder wie Bassist Tony Levin sagt: “The only pressure was ordering dinner.”

Angelehnt an den Aufbau ihres Debüts hat das Quartett nun auch auf seinem dritten Album vier komponierte Songs, ein Cover, einen improvisierten Jam sowie zwei Duette zwischen zwei Instrumenten untergebracht, wobei der quirlige Opener „Hypersonic“ der zuletzt im Studio geschriebene Song und „The Passage of Time“ der erste gemeinsam komponierte Track nach 22 Jahren Pause ist. Dass ausgerechnet der 13 Minuten lange Track „Key To The Imagination“ der Jam sein soll, dürfte in manchen Ohren der pure Hohn sein: LIQUID TENSION EXPERIMENT legen mit diesem Song ein in sich geschlossenes Meisterwerk vor, das sich von einem sanft verspielten Intro hin zu einem abwechslungsreichen, hyperaktiven, mit Steigerungen, Petrucci-Soli und Rudess-Atmosphäre versehenen Track mausert – ein Track, zu dessen Aufnahmezeitpunkt keine geschriebene Note existierte oder eine vorherige Absprache zwischen den Beteiligten stattfand.

Das erste instrumentale Duett namens „Chris & Kevin’s Amazing Odyssey“ liefert einen düster-groovigen Schlagabtausch zwischen Bass und Schlagzeug, zwischen dem 74 Jahre alten Levin und dem 53-jährigen Portnoy ab. Mit ihrem agilen Spiel beweisen die Musiker einmal mehr, dass der musikalische Ruhestand auch mit „LTE 3“ nicht eingeleitet wird. Das Zusammenspiel von Petrucci und Rudess, „Shades Of Hope“, hingegen ist deutlich ruhiger, atmosphärischer, besitzt mehr Seele als Kanten – und wurde in nur einem einzigen Take aufgenommen. Besonders für Hörer mit einer gewissen Vorbildung in bekannten historischen Kompositionen dürfte das Cover des populärsten Stücks des Broadwaykomponisten George Gershwin, „Rhapsody in Blue“, ein wahrer Ohrenschmaus sein.

Das LIQUID TENSION EXPERIMENT rüttelt auch nach 22 Jahren nicht an seinen Grundfesten: Die Amerikaner verbinden viel Improvisation mit Unmengen an großartigen Momenten (auch auf den fünf Tracks der Bonus Disc) und scheuen sich weder vor massenuntauglichen Schwergewichten noch vor eingängig-melodischen Leads. „LTE 3“ lässt zwar die Kinnlade von so ziemlich jedem versierten Prog-Fan offen stehen, der ein Faible für die Stammbands der Musiker und den weniger zugänglichen Bands des Genre hat, dient aber nicht als Einstieg in die Prog-Musik. Oder Musik im Allgemeinen.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Wertung: 8 / 10

Publiziert am von

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert