Review Paatos – Timeloss

Es war ein anstrengender Tag. Wie immer, wenn ich unter akuten Stress leide, versuche ich mich am Ende des Abends zu entspannen. Wo andere ein warmes Bad nehmen, bevorzuge ich ein Bett, meinen Kopfhörer, ein abgedunkeltes Zimmer und Musik, die mich nicht noch zusätzlich anstrengt, sondern bei der ich mich einfach fallen lassen kann.

Im Regelfall verfalle ich dann in eine Art Halbschlaf, mir selbst unbewusst, dass ich schon schlafe, und dennoch irgendwie fähig Musik zu vernehmen und dazu Bilder vor dem inneren Auge zu sehen. Und heute fällt meine musikalische Wahl mal auf das Reissue des Paatos-Debüts „Timeloss“ (Erstveröffentlichung im Jahr 2002), das dieser Tage bei InsideOut erscheint.
Es ist mein erster Kontakt mit der Band überhaupt, ich habe die CD vorher noch nie gehört. Nur gelesen hatte ich schon von jener Artrock-Band aus Schweden, denen ich nun meine nächsten 40 Minuten, denn länger ist die Scheibe ja nicht, widmen will. Mit dem festen Vorsatz, ganz genau hinzuhören und nicht in den oben beschrieben Zustand zu verfallen.

Also Augen geschlossen und auf zu einer Reise, die ihresgleichen sucht….

Sanftes, jazziges Schlagzeugspiel eröffnet den ersten Song „Sensor“ ganz leise und besinnlich, ehe scheinbar dissonante Akkorde und ein verquerer Gesang das Stück wirklich beginnen lassen. Da ist sie wieder, diese typische nordische Melancholie, aber hier durchaus mit Power vorgetragen. Und diese Stimme! Zum Verlieben! Stellt euch vor, Björk würde tatsächlich so etwas wie Melodien schreiben, dann wisst ihr in etwa, wie wundervoll die zu vernehmenden Töne sind. Dann wechselt man zu einem bombastischen, sehr symphonischen Part mit sanften Gitarrenlicks, ehe ein eher improvisierter Part folgt und das Stück auch mehr oder weniger abrupt beendet. Es ist völlig um mich geschehen! Manch einer würde diese Musik wohl als sehr anstrengend und kopflastig beschreiben. Ich hingegen empfinde sie wie eine Erlösung und eine Darstellung purer Emotionalität.

„Hypnotique“ beginnt genau so, wie es der Name bereits andeutet: Leise Bass- und Gitarrentöne eröffnen den 8 ½-minütigen Song, ehe das Piano zusammen mit dem Gesang übernimmt und man wieder diese melancholische Stimmung wahrhaft heraufbeschwört. Ehe man sich versieht, hat der Song genau die Wirkung erzielt, die durch den Titel suggeriert wird. Spätestens beim Instrumentalpart, dieses Mal mit leisen Flötentönen und Pianotupfern, die die Seele zu streicheln scheinen und sie langsam in eine andere, fremde Welt entführen, spürt man die heimliche Kraft und Liebe, die in dieser Musik steckt. Vor dem inneren Auge erscheinen verschneite, in kalte Winteratmosphäre getauchte Landschaften, die von einem magischen, wärmespendenden Licht durchzogen werden – mehr und mehr, bis sich schließlich das ganze Herz des Zuhörers auch erwärmt hat. Solche Musik findet man heute nur noch sehr, sehr selten.

„Téa“ schafft es dann problemlos, den aufgekommenen Zustand aufrechtzuerhalten. Obwohl dieses Lied in der Landessprache verfasst ist, meint man jedes Wort zu spüren, auf irgendeine magische Art und Weise zu fühlen und direkt in sich aufzusaugen. Beeindrückend! Die langsame Steigerung hin zum dynamischen, mellotrongetränkten Schluss erscheint so fließend und natürlich, das er gar nicht anders sein könnte.

Mittlerweile hat man den Eindruck, dieses Glücksgefühl dauere schon eine undefinierbar lange Zeit an, dabei lauscht man doch erst 20 Minuten dieser unglaublichen Musik. Der Albumtitel „Timeloss“ erscheint mir genau aus diesem Grund gewählt worden zu sein. „They Are Beautiful“, ja, das könnte man auch über Paatos sagen. Inmitten der malerischen Landschaft sehe ich plötzlich ein paar Kinder: „Children playing games…“. Sie sind glücklich. Aber irgendetwas macht sie plötzlich traurig, hilflos, sie wirken alleingelassen. Ich möchte hinlaufen und ihnen helfen. Aber so sehr ich auch laufe, ich komme ihnen nicht näher, ich kann ihnen nicht helfen. „As blackness slowly fills my heart, I’m wishing for a brand new start“. Und am Ende bin ich wieder alleine – die Kinder sind verschwunden, als hätte sie der Wind mit sich fortgetragen. „Why do I feel so lonely?”

Ich möchte nur noch zurück ins Leben, zurück ins greifbare Hier und Jetzt, meine Reise ins Innere der Gefühle soll hier und jetzt enden. Vielleicht heißt deshalb der letzte Song „Quits“. Ja, diese triphop-artigen Electrobeats passen nun so gar nicht zu meinen Illusionen. Langsam komme ich zurück zum dem, was mir gemeinhin als Realität bekannt ist. Der freejazzige Endpart des Titels verhilft mir schließlich wieder zu vollständiger Gesinnung und Erkennung meiner Situation. Ich wurde zwar langsam auf meine Rückkunft vorbereitet, bin aber doch recht ruppig gelandet.
Erst jetzt erkenne ich, dass ich doch wohl leicht eingenickt und jener Zustand des Halbsschlafes über mich gekommen war. Aber die Bilder und Stimmungen sind mir in Erinnerung geblieben. Ich schaue kurz auf die Uhr, und sehe, dass ich noch genug Zeit habe, um mir „Timeloss“ noch einmal anzuhören. Diesmal im Sitzen, mit dem Booklet in der Hand und wirklich genau zuhörend, um schließlich auch musikalisch genauere Angaben für diese Rezension machen zu können.

Es stellt sich bei dem zweiten Hördurchgang heraus, dass ich die gute halbe Stunde, die die ersten vier Stücke ausmachen, für mit das Beste halte, was ich dieses Jahr gehört habe. Ganz meiner Traumreise entsprechend, will mir aber „Quits“ noch wie vor in der letzten Hälfte nicht wirklich gefallen. Das finde ich eigentlich sehr schade, denn was die Band mit den vorhergehenden 4 Kleinoden geschaffen hat, muss jeder selbst erleben! So kann ich nur darauf hoffen, dass auch „Quits“ mir irgendwann einmal ins Ohr geht und ich daran Gefallen finde.

Trotzallem komme ich nicht drum herum, diesem phänomenalen Werk satte 9 Punkte zu geben. Das ultimative Winteralbum!

Wertung: 9 / 10

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