Review Simon Says – Tardigrade

Eine Zeitreise zurück in die Siebziger erwartet uns auf dem dritten Album der schwedischen Retroprogger SIMON SAYS. Alle sechs bis sieben Jahre nimmt uns die Band mit auf einen Trip zu den Urvätern des Genres; nach dem Debütalbum „Ceinwen“ (1995) und dem Zweitling „Paradise Square“ (2002) gibt es nun die erneute Vollbedienung mit „Tardigrade“.

Doch wer sich dermaßen lang Zeit lässt, um ein neues Werk zu komponieren und einzuspielen, der kann sich über jede Note den Kopf zerbrechen, die Songs perfektionieren, oder aber überproduzieren. Im Falle der fünf Herren aus dem Norden bleibt hingegen kein Zweifel, dass sie hier bei vollem Bewusstsein und voller Zurechnungsfähigkeit genau ein Ziel im Auge hatten: Ein Album aufzunehmen, das von vorn bis hinten vollgepackt ist mit klassischem Progrock, wie er besser nicht sein könnte. Große Worte für eine Songsammlung, die Fans von 70er Prog-Heroen wie Yes, Genesis oder (entfernter) auch ELP für über 70 Minuten das Wasser im Munde zusammen laufen lässt. Ja, eure Bedenken sind gerechtfertigt: SIMON SAYS haben in der Tat keine eigene Identität, keinen charakteristischen Sound, keine speziellen Trademarks. Wenn ihr so etwas sucht, könnt ihr getrost die nächste Rezension lesen. Und ich sag euch mal was: Bei solchen Songs brauchen sie das auch keineswegs!

Los geht es mit dem bereits überlangen „Suddenly The Rain“, mit einem Intro, das geschickt den Sound der Spätsiebziger-Genesis (Ära: „Wind And Wuthering“, „Trick Of The Tail“) aufgreift und mit einer etwas druckvolleren Version der Flower Kings paart. Nach dem keyboardgetränkten Bombast erwartet uns ein ultracooler Hammondgroove und der erste Einsatz von Sänger Daniel Fäldt, der mit seiner erzählenden, lyrischen Stimme direkt wie aus den Siebzigern ins Hier und Jetzt gebeamt wirkt. Die beinahe 15-minütige Nummer fließt ganz natürlich durch unterschiedlichste Stimmungen und Parts und ist ein echter Longtrack, der logisch aufgebaut ist und nicht aus aneinander geklebten Elementen besteht. Die Leitmelodie geht sofort ins Ohr, der Refrain ist gelungen und die instrumentalen Wanderungen – sei es in bombastische Symphogefilde Marke ELP oder Magellan oder aber in ruhige, besinnliche Parts mit schönen Pianopassagen – sind schlichtweg grandios. Das Keyboard dominiert mit den schrillsten und schillerndsten Tönen, die für manche sicherlich jenseits des guten Geschmacks liegen werden. Sei’s drum, der Sound ist fett, alt, kultig. Das sind noch echte analoge Sounds, Schätze, Raritäten. Kurz: Geil! Die Gitarre darf natürlich dagegenhalten, auch wenn sie eher dafür zuständig ist das Ganze ordentlich fett klingen zu lassen, als groß die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der flotte Groove von Schlagzeuger Matti Jarlhed steht dem Track hervorragend und macht ihn sehr kurzweilig.

Mit dem sich anschließenden Titeltrack wird es dann eher knackig: Eine flotte, rockige Nummer erwartet uns hier, mit einigen Arrangements, die in Richtung Spock’s Beard schielen und dementsprechend Spaß machen. Da wippt der Fuß; das dröhnt im Bauch, das kommt einfach gut. „The Chosen One“ ist zu Beginn eine Ballade Marke Genesis „Entangled“, fährt nach etwa der Hälfte der Spielzeit von 5 ½ Minuten aber grandiose Keyboardtürme und Instrumentalaction auf.

Das kurze „Moon Mountain“ steht in der Tradition von den klassischen Yes-Akustiknummern und erinnert an die typischen Steve Howe-Gitarrenarrangements, ohne jedoch auch nur im Ansatz so einschläfernd zu sein. Mit „As The River Runs“ steht der nächste Longtrack auf dem Programm: Diesmal mit einer Länge von 10 ½ Minuten, einem atmosphärischen Intro aus verschiedenen Sound-und Filmschnipseln, das aber recht sinnlos ist, weil nach kurzer Pause einfach ein Keyboard einsetzt, das dann Spur für Spur ergänzt wird mit weiteren Tastentönen. Nach einem sphärischen Part mit Marsch-Drums Marke Flower Kings und einigen Ethro-Gesängen, wie sie Riverside auf ihrem Album „Second Life Syndrome“ untergebracht hatten, folgt schließlich die erste klare Gesangspassage, gefolgt von einem Spock’s Beard-typischen lateinamerikanischen Akustikgitarrenpart und wilden Keyboardsoli, bevor der Song sich wieder runterkühlt und Daniel Fäldt nur von Piano begleitet die nächste Strophe zum besten gibt. Doch die nächsten episch-breiten Melodien erwarten uns kurze Zeit später im folgenden Refrain. Insgesamt der ungewöhnlichste und schrägste Track des Albums.

Hinter „Your Future“ versteckt sich ein lediglich 26-sekündiger Vocodertrack, der gänzlich ohne Instrumente und Musik auskommt, ehe es im „Strayberry Jam“ nach einem groovigen Intro (Bass!) gut gelaunte Jamsounds zu hören gibt: Das klingt locker, flockig und nach Spaß. „Circle’s End“ ist dann die tatsächliche, überdeutliche Hommage an besagtes „Entangled“ von Genesis, die Mellotron-Akkorde am Ende der beide Nummern sind vermutlich genau dieselben. Dreist geklaut, gut verwurschtet oder einfach nur dafür gesorgt, dass man die dazugehörige Genesis-Platte nochmal einlegt? Mir ist es egal, denn „Circle’s End“ ist nichts anderes als eine Gänsehautballade, genauso wie „Entangled“, wer hätte es gedacht!

Dann ist es Zeit fürs Magnum Opus von SIMON SAYS: „Brother Where ‚You Bound?“ kommt auf satte 27 Minuten Spielzeit und langweilt nicht eine Sekunde! Die Zeit vergeht nach dem direkten Einstieg wie im Fluge, der Hörer wird mitgenommen auf eine Reise durch die letzten 30 Jahre der Progszene – alle möglichen Einflüsse und Sounds, woher sie auch immer stammen mögen, werden zu einem homogen Ganzen verwoben und äußerst mitreißend dargeboten. Ein phantastisches Erlebnis mit grandiosen Melodien, insgesamt sicher der bisher beste Retroprog-Trip des Jahres. Danach entlässt die Band uns relativ direkt mit „Beautiful New Day“, Akustikgitarren und der Kernmessage „always try to make your love grow stronger!“ in unseren Alltag. Zur Abwechslung mal ganz ohne Bombast und Mellotron.

Es scheint, als hätten SIMON SAYS bei der Produktion von „Tardigrade“ alle Zutaten und Songtypen des klassischen Seventies-Progs untergebracht. Das ist natürlich absolutes Kalkül und spricht eine klare Zielgruppe an, die drauf abfahren wird. Bei Genesis haben sie sich sicherlich ganz exorbitant bedient. Freunden der alten Platten von Tony Banks, Steve Hackett & Co. darf ich das vorliegende Werk also wirklich ans Herz legen, vorausgesetzt, ihr kommt damit klar, dass jemand heute eure damaligen Helden so gut nachspielt, als wäre diese als SIMON SAYS wieder auferstanden.

Wenn es nicht an Gotteslästerung grenzen würde, so würde ich glatt behaupten: „Tardigrade“ kann mit den Klassikern des Genres problemlos mithalten. Eine derart perfektionistische Inszenierung des klassischen Progressive Rock habe ich noch nie gehört, und dafür gehören die Jungs entweder verspottet oder eben bis in den siebten Himmel gelobt. Sie zelebrieren hier eine Blaupause dessen, was ich unter Prog verstehe. Das gilt übrigens auch für das Coverartwork, dass ebenfalls aus den Siebzigern stammen könnte.

Für mich, ganz klar, ein Kandidat für den Titel „Album des Jahres“ und ein Pflichtkauf. Die volle Punktzahl verbietet sich hier aus Respekt vor den eigentlichen Erschaffern dieses Sounds!

Wertung: 9.5 / 10

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