Interview mit Daniel Graves von Aesthetic Perfection

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Mit AESTHETIC PERFECTION war Daniel Graves im vergangenen Winter Support von Lindemann auf dessen umstrittener Europatour. In einem so ausführlichen wie offenen Gespräch erzählt der Wahl-Österreicher, warum er nicht an der Richtigkeit seiner Entscheidung, Lindemann zu supporten, gezweifelt hat, was ihm die Tour im Vergleich zu einer Headliner-Tour gebracht hat und was sich aus seiner Perspektive nach im Eventbusiness alles geändert hat – spätestens seit Corona.

Ihr seid gerade als Support von Lindemann auf Tour gewesen, habt aber zwischendurch auch ein paar Headliner-Shows in kleinen Clubs gespielt. Ihr musstet also von Auftritten vor einem großen Publikum als erster Support-Act zu Headliner-Shows in kleinen Clubs umschalten – und wieder zurück. War diese Umstellung schwierig für dich?
Um ehrlich zu sein, war es für mich gar nicht so schwierig. In kleinen Clubs spielen wir ja schon seit 20 Jahren, das ist wie ein zweites Zuhause für mich. Anfangs war es am schwierigsten, sich an die Arenen zu gewöhnen, aber am Ende haben wir uns auch dabei wohl gefühlt. Aber die Umstellung war gar nicht so schwierig, weil wir eine tolle Crew hatten, die immer alles im Griff hatte, immer bereit war, auf- und abzubauen und alle technischen Probleme zu lösen. Wir hatten ein großartiges Team, das uns jedes Hindernis und jeden Wechsel des Veranstaltungsortes so leicht gemacht hat, wie wir es uns nur hätten wünschen können. Von daher hat alles gepasst.

Daniel Graves im Interview (Screenshot)

Du hast beides schon vorher gemacht, aber nachdem du diesmal den direkten Vergleich hattest: Mit welchem Typ von Show hattest du auf dieser Konzertreise mehr Spaß?
Es ist schon unterschiedlich. Es macht natürlich viel Spaß, vor dem eigenen Publikum zu spielen. Die Leute dort kennen alle Lieder, kennen alle Texte. singen für dich mit: Jedes Mal, wenn man sie zum Mitsingen auffordert, sind sie darauf vorbereitet. Das ist wirklich etwas ganz Besonderes. Und die Intimität der kleinen Clubs ist auch großartig, weil dort alle gemeinsam in diesem winzigen Raum sind, und es ist schwitzig und heiß, und man leidet gemeinsam (lacht), aber man hat auch gemeinsam Spaß. Es ist definitiv eine viel persönlichere Erfahrung. Aber ich liebe auch die Herausforderung. Ich liebe es, in einer Arena voller Menschen, die keine Ahnung haben, wer ich bin, auf die Bühne zu gehen und zu versuchen, einen Weg zu finden, sie auf unsere Seite zu ziehen. Ich weiß nicht, ob du es weißt, aber Rammstein- und Lindemann-Fans sind sehr, sehr hingebungsvolle Menschen. Sie sind nicht wegen des Supports da. Sie sind wegen des Hauptacts da. Manchmal hatte ich schon Angst, dass jemand eine Flasche nach mir wirft oder mich ausbuht oder so. Aber der Nervenkitzel dieser Art von Herausforderung war für mich sehr, sehr reizvoll. Ich muss sagen, dass ich beides liebe. Ich schätze beides wirklich sehr.

„Wenn wir eine schlechte Show gehabt hätten,
würde ich dir alles darüber erzählen.“

Aber wie du schon sagtest, ist das Lindemann-Publikum vielleicht nicht das einfachste, um als Support-Act zu spielen. Habt ihr also auch schlechte Erfahrungen gemacht, oder hat das Publikum euer Set trotzdem immer genossen?
Es gab keine einzige Show, bei der ich das Gefühl hatte, dass wir das Publikum am Ende nicht überzeugt haben. Und damit will ich nicht egoistisch oder arrogant sein oder so. Wenn wir eine schlechte Show gehabt hätten, würde ich dir alles darüber erzählen. Ich würde dir all die peinlichen Details erzählen. Aber ich fühle mich so glücklich und so gesegnet, dass die Leute so offen für uns waren, wie sie es letztendlich waren. Wir haben Lindemann im Jahr 2020 schon einmal begleitet. Es war eine tolle Erfahrung, wir haben viele neue Fans gewonnen. Aber dieses Mal war es anders. Es hat sich wirklich so angefühlt, als wäre etwas Besonderes passiert, als wäre die Verbindung zwischen uns und dem Publikum viel stärker als beim ersten Mal. Ich weiß nicht, ob wir als Band besser geworden sind … Vielleicht haben wir gelernt, wie wir vor diesen Menschenmengen und einem größeren Publikum besser auftreten können. Vielleicht lag es an den Songs, die wir ausgewählt haben. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich immer noch Instagram-Nachrichten bekomme … noch heute. Ich öffne mein Instagram und habe eine Nachricht: Hey, ich habe euch in dieser Stadt im Vorprogramm von Lindemann gesehen. Es war großartig. Oder Leute posten Videos und sagen: Ich liebe diese Band. Das gab es beim letzten Mal nicht. Wir spüren diese Entwicklung also wirklich. Es war unglaublich, und ich bin so dankbar dafür.

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Daniel Graves mit AESTHETIC PERFECTION 2023 in München

Ja, ich könnte mir auch vorstellen, dass viele Leute euch noch von der letzten Tournee kennen. Viele der Fans dürften euch ja schon auf besagter letzter Tournee gesehen haben. Das hat vielleicht auch geholfen …
Das ist möglich. Aber wie gesagt, irgendwann öffne ich jeden Tag mein Instagram und da steht dann so was wie „Ich kannte euch vorher nicht, habe euch im Vorprogramm von Lindemann gesehen. Das war großartig.“ Es ist einfach so, dass dieser Eindruck bei den Leuten jetzt über einen Monat hinweg geblieben ist. Das ist ziemlich cool. Im Jahr 2024 oder im Zeitalter der sozialen Medien vergessen die Leute Dinge oft schon einen Tag später. Sie sagen: „Ja, cool. Und jetzt zum nächsten Thema.“

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Daniel Graves mit AP 2023 in München

Denkst du, dass die Lindemann- und Rammstein-Fans das ideale Publikum für AESTHETIC PERFECTION sind? Als der Lindemann-Fall in den Medien auftauchte, gab es eine Menge ekelhafter Reaktionen aus dieser Fangemeinde. Ich habe das als Journalist, der darüber geschrieben hat, auch selbst erlebt, wir haben massenweise wirklich derbe und unangenehme Kommentare bekommen. Natürlich sind nicht alle Leute, die Lindemann hören, dafür verantwortlich zu machen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich als Künstler diese Art von Leuten als meine neue Fanbase haben wollen würde?
Nun, ich war nicht nur nervös, für Lindemann als Vorband zu spielen, sondern auch, weil ich wusste, dass so viele dieser Leute Karten für unsere Side-Shows gekauft hatten und uns als Headliner erleben würden. Ich meine, die Songs, die wir spielen, sind nicht alles Rocksongs. Es sind auch nicht nur Metal-Songs. Die Hälfte der Show ist komplett elektronisch. Und es sind nicht nur Rammstein-Fans, die ein bisschen … ich will nicht sagen engstirnig, aber ein bisschen festgefahren sein könnten. Ich denke, das ist Fan-Mentalität, so wie sie ist. Das ist nicht auf eine Band beschränkt. Rock- und Metalfans können sehr, sehr voreingenommen sein, besonders wenn es um elektronische Musik geht. Ich hatte also erwartet, dass einige dieser Leute vielleicht sagen würden: Oh, ich bin gekommen, um eine Rockband zu sehen, nicht eine EBM-Show oder einen DJ oder so etwas in der Art. Aber wirklich, die Hälfte der Shows, ich schwöre es, war voller Leute, die uns als Vorband von Lindemann gesehen hatten und Lindemann-Shirts oder Rammstein-Westen und solche Sachen trugen. Und sie haben mitgesungen und gesagt, dass die Show fantastisch war. Keinerlei negative Reaktionen. Ich konnte es nicht glauben. Dass wir so eine positive Erfahrung gemacht haben, ist für mich ein Beweis dafür, dass Rock- und Metalfans gar nicht so engstirnig sind, wie sie sein können, oder vielleicht sind die Fans, die wir anziehen, auch generell offener. Leute, die sagen, oh, ich mag diese Band, ich werde eine Karte kaufen, um sie zu sehen … vielleicht sind das nicht diejenigen, die sagen: „Ich will nur die harten Sachen. Ich will nur die Rock und Metal.“ Ich weiß also nicht genau, warum es bei uns so funktioniert hat, aber ich weiß, dass Fans im Allgemeinen sehr engstirnig und abweisend gegenüber allem sein können, was ihnen nicht vertraut ist. Und es ist meine Aufgabe, einen Weg zu finden, sie in meine Welt zu bringen.

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„Wir dachten uns: Vielleicht hassen sie es,
aber wir müssen es versuchen.“

Du hast bereits über die Songs gesprochen, du hast gesagt, dass du dieses Mal vielleicht die richtigen Songs ausgesucht hast. Ihr hattet nur 25 Minuten Bühnenzeit – ich halte es für ziemlich schwierig, den Leuten, die euch überhaupt nicht kennen, in 25 Minuten die ganze Bandbreite eurer Musik zu zeigen. Wie hast du die Songs für das Set ausgesucht?
Ja, das war alles sehr, sehr durchdacht. Wir haben uns zusammengesetzt, ich und die anderen Musiker, meine Crew und alle anderen, und wir haben gesagt: OK, wir haben 15 Songs für die Headline-Shows geprobt. Und die Überlegung war: Was kommt nicht nur bei den Leuten am besten an, die diese Art von Rammstein-, Industrial-Metal mögen … ich weiß nicht, ob dieses Wort noch in Gebrauch ist, die „Neue Deutsche Härte“, richtig? Wir haben also versucht, eine Art Gleichgewicht zwischen der Musik zu finden, die ich mache und die so geklungen hat, aber auch die sehr unterschiedliche Bandbreite an Emotionen und Klängen ausdrückt, die AESTHETIC PERFECTION hat. Deshalb haben wir mit „Gods & Gold“ begonnen, was wir für einen sehr schweren und direkten Song halten, sehr unmittelbar. Und dann haben wir gedacht, dass wir mit „S E X“, einem sehr trägen, stampfenden, Industrial-Metal-artigen Stück, den nächsten Schritt machen sollten. Der ist auch sehr Arena-mäßig, schmissig, und hat eine Menge Synthesizer drin. Also dachten wir uns: OK, das ist der nächste, und dann spielen wir den neuen Song „Toxic“, der ein bisschen was von einem Radio-Rock-Song hat, um ehrlich zu sein. Das war der Joker: Wir waren uns nicht sicher, ob die Leute diesen Song mögen würden, aber wir haben es trotzdem versucht. Und dann „Rhythm Control“, der wieder mehr Industrial-Metal ist, aber dann diese Art von Pop-Refrain mit den Sprechchören und solchen Sachen hat. Das war ein Favorit von der letzten Tour. Wir wussten also, dass dieser Song funktionieren würde. Und dann haben wir uns gedacht, wir müssen auch etwas komplett Elektronisches spielen. Und der einzige Song, der da funktionieren könnte, ist „Love Like Lies“, der sehr heavy, aber auch sehr poppig und 100% elektronisch ist. Wir dachten uns: Vielleicht hassen sie es, aber wir müssen es versuchen. Und jeden Abend haben die Leute ihre Hände in die Luft gereckt und mitgeklatscht. Sie haben das akzeptiert. Du siehst: Wir sind die Songauswahl fast wissenschaftlich angegangen. Wir haben nur ein paar Experimente gemacht, aber wir haben das Gefühl, dass sich die Experimente gelohnt haben.

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Daniel Graves mit AESTHETIC PERFECTION 2023 in München

Als die Tour im Frühjahr angekündigt wurde, war die Rammstein-Welt sozusagen noch in Ordnung. Und dann kamen diese ganzen Vorwürfe gegen Till Lindemann auf. Hast du zu irgendeinem Zeitpunkt daran gezweifelt, dass die Tournee überhaupt stattfinden würde? Ich war mir nicht sicher, ob sie am Ende nicht doch abgesagt wird …
Ich denke, in solchen Situationen kann man die Dinge nur von Tag zu Tag betrachten und die Entwicklung der Situation verfolgen. Und genau das haben wir getan. Wir blieben mit dem Management und allen anderen in Kontakt und haben einfach abgewartet, wie sich alles entwickelt. Und tatsächlich fand die Tournee statt und alles war fantastisch.

„Für mich ist es wichtiger, das zu tun,
was ich für richtig halte.“

Aber als diese Vorwürfe aufkamen … gab es da einen Punkt, an dem du daran gezweifelt hast, dass es richtig war, mit AESTHETIC PERFECTION an dieser Tour teilzunehmen, oder hast du sogar deine Entscheidung bereut, daran teilzunehmen? Hattest du Angst, dass das nach hinten losgehen könnte? Ich meine, am Ende hat er es unbeschadet überstanden, die Shows waren ausverkauft und der Hype war größer denn je. Aber es hätte auch anders ausgehen können, denke ich. Und dann wäre dein Name auf dem Plakat vielleicht keine gute Werbung für dich gewesen …
[denkt lange nach] Ich denke, die beste Antwort darauf ist wohl, dass es mich nicht wirklich interessiert, ob etwas auf mich zurückfällt. Für mich ist es wichtiger, das zu tun, was ich für richtig halte. Wenn ich also etwas tue, das ich für richtig halte, und es fällt negativ auf mich zurück, dann muss ich damit leben. Wenn ich etwas tue, das ich nicht für richtig halte, und es kommt mir zugute, dann fühle ich mich nicht wohl dabei.

Ja, das verstehe ich, aber du weichst meiner Frage aus: Gab es für dich einen Punkt, an dem du in Frage gestellt hast, ob es richtig war, das Soloprojekt von Lindemann zu unterstützen? Ich meine, es ist sein Soloprojekt. Lindemann zu unterstützen bedeutet also letztlich, dass man „auf seiner Seite“ steht, was auch immer das heißen mag. Ich will das hier nicht beurteilen, aber wenn ich der Support-Act wäre, hätte ich mich vielleicht irgendwann mal gefragt, nur für mich, ob es richtig ist, das zu tun …
[denkt lange nach] Ich habe nie in Frage gestellt, ob ich das Richtige tue oder nicht.

Daniel Graves im Interview (Screenshot)

Das war eine kurze Antwort auf eine lange Frage, aber okay. Du hast beide Touren mitgemacht. Die eine war, glaube ich, die einfache, alle waren begeistert von diesem neuen Projekt von Till Lindemann und Peter Tägtgren. Und die zweite war kontrovers, mit einem großen Interesse von außerhalb der Lindemann-Fangemeinde, was wohl passieren würde. Hat das etwas an der Stimmung in der Tour-Entourage oder hinter der Bühne geändert?
Nein, ich glaube nicht.

Es lief also alles wieder so wie immer?
Für mich und meine Crew und wie ich alles erlebt habe, war es wie immer. Alle waren genauso freundlich und zuvorkommend und gut zu uns wie damals im Jahr 2020.

Aber zumindest in einem Punkt war es für dich nicht „business as usual“, denn du musstest mit einer neuen Live-Band auftreten … die beiden anderen Musiker von AESTHETIC PERFECTION sind ja zu Lindemann übergelaufen. Was hat sich für dich geändert, mit einer neuen Band auf der Bühne zu stehen?
Es war ein bisschen beängstigend, wenn ich ehrlich bin, denn das war im Grunde die größte Tour meiner Karriere. Ich meine, wir waren schon vorher mit Lindemann auf Tournee, aber wir waren in deutlich größeren Hallen und es war eine längere Tour. Ich weiß nicht, woher du kommst …

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Constance mit AESTHETIC PERFECTION 2023 in München

Ich komme aus München …
Ok, das ist lustig – München war die einzige Stadt, in der wir 2020 und 2023 im selben Veranstaltungsort gespielt haben. Wir waren 2020 im Zenith und letztes Jahr im Zenith. Aber in Leipzig zum Beispiel, da waren wir 2020 im Haus Auensee. Das Haus Auensee fasst, glaube ich, 2.500 Leute. Die erste Show der aktellen Tour war in Leipzig, in der Immobilien Quarterback Arena. Und die fasst wie viel? 12.000? Das ist ein großer, großer Unterschied. Dass unsere erste Show vor mehr als 10.000 Leuten stattfinden sollte und ich diese neue Band habe, war definitiv beängstigend. Denn man weiß nicht, wie diese Konstellation von Leuten miteinander auskommen wird und wie wir alle zusammen auftreten werden. Wir haben zwei Tage in Leipzig geprobt und dann eine Warm-up-Show in einem kleinen Club gespielt. Und dann war es Zeit für die große Arena.

Wie hast du die neuen Musiker rekrutiert, wie hast du sie gefunden?
Unsere Gitarristin, Lore, haben wir über Instagram gefunden. Mit Mike habe ich während der Lockdowns gespielt, weil es immer noch eine Reisebeschränkung zwischen den USA und Europa gab und wir einige Festivalshows absolviert haben. Als wir die Shows gebucht haben, haben wir nicht gedacht, dass wir Joey rüberbringen können. Also habe ich diese beiden Musiker aus Wien rekrutiert … Mike war der Schlagzeuger, der mit mir gespielt hat. Und als wir diese Gelegenheit bekamen, rief ich ihn an und sagte: „Schau mal, Joe muss mit Till spielen, ich habe keinen Schlagzeuger. Willst du das machen? Und ich glaube, noch bevor ich den Satz beendet hatte, sagte er: „Ich bin dabei.“

„Joey und Constance sind echte Show-Stealer.“

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Joe mit AP 2023 in München

Aber wie anders fühlt es sich für dich an, wenn du ohne Joey spielst? Ich meine, er bringt eine Menge Energie auf die Bühne und ist definitiv ein Blickfang, ob mit AESTHETIC PERFECTION oder mit Lindemann …
Ich habe das Gefühl, dass es ganz klar anders war. Aber ich hatte auch das Gefühl, dass diese Gruppe auf ihre eigene Art und Weise unglaublich einnehmend war. Ich meine, Joey und Constance, unsere regulären Keyboarderin und Gitarristen, die ihr auf dieser Tournee als Keyboarderin von Lindemann gesehen habt, sind echte Show-Stealer. Für mich war es tatsächlich eine Art Erleichterung, mit den beiden zu spielen, weil ich das Gefühl hatte, dass nicht so viele Erwartungen an mich gestellt wurden. Aber beide, Lore und Mike, sind auf ihre Art und Weise fantastische Musiker und fantastische Künstler. Ich würde also nicht sagen, dass irgendetwas besser oder schlechter war. Es war einfach anders.

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Constance mit AP 2023 in München

Aber werden Joey und Constance zurückkommen? War das also nur eine Übergangslösung?
Der Plan ist, dass Joey und Constance zurückkommen, wenn wir noch einmal die Gelegenheit bekommen, für eine andere Band als Lindemann zu eröffnen. Wenn sich eine andere Tourmöglichkeit ergibt und sie nicht mit Till auf Tour sind, werden sie auf jeden Fall zurückkehren. Aber ich denke, das war der bestmögliche Weg, diese beiden Leute zu verlieren, denn Constance und Joey sind wie meine Familie. Deshalb war es zuerst sehr traurig, dass sie nicht dabei sein konnten, um unseren Teil der Tournee mitzumachen. Aber sie trotzdem dabei zu haben, sich jeden Tag beim Catering zu treffen … und wir haben jeden Tag Mario Kart in unserem Backstage-Bereich aufgebaut, und Constance kam und spielte mit uns … die ganze Atmosphäre war also sehr familiär. Auch wenn sie nicht mit uns auftreten konnten, was traurig war, war es immer eine Art Trostpreis, ein zweiter Preis, sie dabei zu haben.

„Die Leute sehen den Konzertbesuch weniger wie einen Kinobesuch,
sondern eher wie einen Urlaub.“

Du hast gerade über zukünftige Touren und die mögliche Bandbesetzung in diesem Fall gesprochen … In diesem Zusammenhang müssen wir vielleicht noch eine Sache klären: Eure letzte Headlinertour wurde als eine Art Abschiedstournee angekündigt. Du hast damals geschrieben, dass du eigentlich keine Lust mehr hast, auf Tour zu gehen, weil es sich nicht auszahlt. War das damals ein Missverständnis oder hast du deine Meinung geändert?
Die Tourneesituation hat sich nach COVID so drastisch verändert, wir befinden uns jetzt wirklich in einer völlig anderen Welt. Tatsache ist, dass sich die Kosten für Tourneen verdoppelt und verdreifacht haben und die Leute generell weniger ausgehen. Es kaufen also weniger Leute Tickets als früher. Die Statistiken sagen, dass die Konzertindustrie boomt. Das stimmt in gewisser Weise – aber nicht ganz: Wie du gesehen hast, war bei der Lindemann-Tour fast jedes Konzert ausverkauft. Aber ich würde sagen, dass etwa ein Viertel der Leute, die zu diesen Konzerten gekommen sind, sich einen ganzen Monat frei genommen haben, um durch ganz Europa zu reisen und jedes einzelne Konzert zu besuchen. Live-Musik hat sich im Grunde genommen von kleinen bis mittelgroßen Bands hin zu Arena- und Stadionbands verlagert. Diese Bands florieren. Denen geht es gut. Aber das liegt daran, dass die Leute den Konzertbesuch weniger wie einen Kinobesuch behandeln, sondern eher wie einen Urlaub: Sie nehmen sich frei, sie reisen in eine andere Stadt, sie kaufen Flugtickets, Zugtickets, Hotels, was auch immer. Das ist eine ganz andere Erfahrung als „Oh, hey, Chef, ich muss los. Ich gehe auf ein Konzert.“ Und dann gehst du zum Konzert und kommst nach Hause und es ist vorbei. Bei dieser Kluft kann man als Band meiner Größe nicht als Headliner auf Tour gehen und erwarten, dass man überhaupt mit Geld nach Hause kommt. Bei unserer US-Tournee hatten wir einen durchschnittlichen Zuschauerrückgang von 30 Prozent zwischen unserer Headliner-Tournee 2019 und unserer Tournee 2022. Aber in einigen Städten waren es 80 Prozent! In Chicago, wo wir sonst 400 Tickets verkaufen, haben wir 80 verkauft. Das ist es, was ich meine …

Daniel Graves im Interview (Screenshot)

Ich habe dir gesagt, dass ich ehrlich sein würde, wenn es um Dinge geht, die nicht so gut gelaufen sind. Auf unserer Amerika-Tournee habe ich eine Menge Geld verloren. Unsere Europatournee im Frühjahr lief großartig – jeden Abend waren zwischen zweihundert und siebenhundert Leute da. Aber am Ende habe ich 145 Euro verdient – obwohl wir keinen Bus bekommen haben, obwohl wir versucht haben, so billig wie möglich zu fahren, obwohl ich Joey und Constance und meine ganze Crew unterbezahlt habe und so weiter. Die Merch-Verkäufe sind nicht mit eingerechnet, aber die ganze Maschine. Das ist das Problem. Normalerweise macht man mit einer sechs-, siebenwöchigen Tournee ein paar tausend Dollar – mindestens. Aber das hat sich verschoben. Und da ist noch etwas. Während dieser Zeit sind meine Spotify-Zahlen gesunken und meine Patreon-Unterstützer sind zurückgegangen, weil ich mich nicht online präsentiere oder mich um meine Unterstützer kümmere, so wie ich es normalerweise tue, wenn ich zu Hause bin. Ich verdiene also kein Geld. Ich wachse nicht, und ich verliere Spotify-Hörer und Patreon-Unterstützer.

Ich bin einfach an einem Punkt, an dem ich die Touren, die ich mache, strategischer angehen muss. Ich habe es also absolut ernst gemeint, dass ich in absehbarer Zeit keine Headliner-Touren mehr machen werde, es sei denn, die Band wird sehr, sehr groß und ich kann so etwas wie das Zenith alleine ausverkaufen. Dann können wir diese Diskussion wieder führen. Aber im Moment ergibt es für mich keinen Sinn. Ich werde also auf Tournee gehen, wenn ich für eine Band wie Lindemann eröffnen kann, wo ich die unmittelbaren Ergebnisse dieser Investition von Zeit und Geld und solchen Dingen sehen kann. Aber ansonsten bringt es mir nichts. Die Side-Shows sind ja quasi schon da, das hat uns nicht mehr Geld gekostet, das hat uns Geld eingebracht. Das ist der Unterschied zwischen den „Winter Goth“-Shows und der Tournee, die wir im Frühjahr gemacht haben … wir sind schon unterwegs, wir können ein paar Nebenauftritte machen und ein bisschen zusätzliches Geld verdienen, anstatt auf Tournee zu gehen und alles zu bezahlen, alle Unkosten im Voraus, nur um mit 145 Euro nach Hause zu kommen.

„Wenn es kein Wachstum gibt und kein Geld …
was tue ich dann hier?“

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Daniel Graves mit AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München

Wie ist das im Vergleich dazu mit den Support-Shows für Lindemann? Ich meine, du wirst wahrscheinlich nicht einmal eine Gage dafür bekommen … wie sieht es da mit deinen Verkaufszahlen und Streaming-Zahlen und so weiter aus? Hast du hier einen positiven Einfluss gesehen?
Ja. Ja, ja. Fantastisch! Und zwar sofort! Neue Patreon-Unterstützer, dreimal so viele Spotify-Hörer in diesem Monat. Wir haben vielleicht 20 Shirts pro Abend bei Lindemann verkauft, was großartig ist. Bei der letzten Tour hatten wir Glück, wenn wir zwei oder drei Shirts verkauft haben. Also, wie ich schon sagte, der Enthusiasmus, die Stimmung, alles … es gab einen deutlichen Unterschied zwischen 2020 und 2023. Am Ende habe ich mit der Lindemann-Tournee kein Geld verdient. Als alles budgetiert war, habe ich sogar Geld verloren. Aber es gab einen sichtbaren Zuwachs. Ich habe kein Problem damit, Geld zu verlieren, wenn es Wachstum gibt. Aber wenn es kein Wachstum gibt und kein Geld … was tue ich dann hier? Ich verschwende wertvolle Zeit … ich könnte Zeit mit meiner Familie verbringen, ich könnte neue Musik im Studio schreiben, an Patreon-Sachen arbeiten. Es gibt eine Million anderer Dinge, die ich tun könnte. Ich denke, das wird die Realität für viele Bands sein, die so groß sind wie AESTHETIC PERFECTION, innerhalb der nächsten paar Jahre. Ich weiß, dass viele meiner Kollegen sagen: Nein, nein, nein, wir werden weiter touren. Aber ich denke, dass das in den nächsten drei, vier Jahren oder so nicht mehr zu stemmen sein wird, und deshalb versuche ich das zu tun, was jüngere Bands tun. Ich weiß nicht, ob du neue Bands verfolgst – die gehen überhaupt nicht auf die Bühne, bis sie groß genug sind, um für eine Band wie My Chemical Romance zu eröffnen. Vielleicht sagt dir Kim Dracula etwas, dieser Junge aus Australien, der online super-groß geworden ist, bis er so populär war, dass er als Opener für My Chemical Romance in Arenen spielen durfte, auf seiner ersten Tour überhaupt. Man muss hier strategisch vorgehen.

Das ist ein interessanter Gedanke, aber ich finde es auch schade … wenn jeder so vorgeht, wird die gesamte Clubkultur sterben. Würdest du also sagen, dass es für jüngere Bands der richtige Weg ist, ihre Zeit in den sozialen Medien zu verbringen, um sich selbst zu promoten, anstatt im Proberaum an ihren Fähigkeiten zu arbeiten und Gigs zu spielen, um berühmt zu werden?
Ich finde es lustig, dass du „spielen, um berühmt zu werden“ sagst. Ich würde tatsächlich sagen: Jetzt heißt es „berühmt werden, um zu spielen“. (lacht) Da geht auf jeden Fall etwas verloren, denn man muss rausgehen und in den Clubs spielen und schlecht sein, bis man gut wird. Niemand steht einfach zum ersten Mal auf der Bühne und ist großartig. So läuft das einfach nicht. Ich mache mir also Sorgen, dass die zukünftigen Bands nicht so gut auf diese großen Gelegenheiten vorbereitet sein werden wie eine Band, die darauf hingearbeitet hat. Aber schau dir Spiritbox an, die das auch so gemacht haben: Ich glaube, sie haben nur ein paar Shows in Deutschland gespielt, bevor sie richtig berühmt wurden … und dann haben sie einfach gewartet, bis ihre erste richtige Tour mit Limp Bizkit kam. Aber das sind gestandene Musiker, die schon seit Jahren mit Iwrestledabearonce auf Tour sind. Sie wussten also, was sie taten, sie waren bereit. Die jüngeren Kids vielleicht nicht so sehr. Wir werden sehen … Die Zeit wird zeigen, wie das alles funktioniert. Ich glaube, ich bin jetzt in einer Position, in der ich weiß, wie es ist, live zu spielen. Ich habe das Gefühl, dass ich zumindest gut bin in dem, was ich tue. Wenn ich also eine Weile pausiere und die Band wachsen lasse, werde ich mich hoffentlich daran erinnern, wie man es macht, wenn sich die nächste Gelegenheit ergibt. Ich werde vorbereitet sein!

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Daniel Graves mit AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München

Ein weiterer interessanter Gedanke von dir war, dass die Leute nicht mehr zu Konzerten gehen, sondern zu „Events“, die sie wie einen Urlaub planen und entsprechend finanzieren. Wie ist es dazu gekommen und wann hat es begonnen?
Ich glaube, das war schon vor dem COVID so, aber COVID hat diesen Wandel beschleunigt. Es scheint so zu sein, dass die jüngeren Generationen nicht so sehr am Nachtleben interessiert sind, wie wir es waren. Für Leute in unserem Alter – ich weiß nicht, wie alt du bist, ich bin 40 – war das Ausgehen, die Nightlife-Kultur ein Teil unserer Jugenderfahrungen. Aber ich glaube, mit dem Aufkommen von Home Entertainment und Medien ist die Ausgehkultur in den Hintergrund getreten. Die Jüngeren bleiben lieber zu Hause und spielen Videospiele, schauen Netflix und chatten auf Discord, als in einen Nachtclub zu gehen und sich zu betrinken und zu tanzen und was auch immer wir in grauer Vorzeit gemacht haben. (lacht) Es ist also definitiv eine kulturelle Sache. Ich wäre nicht überrascht, wenn die nächste Generation, die nach ihnen kommt, sich wieder mehr für das Nachtleben interessiert, denn jeder langweilt sich, wenn er die ganze Zeit zu Hause bleibt. Ich jedenfalls schon. Ich denke, das ist zum Teil der Grund dafür. Und auch, weil die Musikfans in der Regel älter werden. Die meisten Leute, die bei den Lindemann-Shows waren, sind in unserem Alter oder älter. Das heißt, sie haben bessere Jobs und mehr Geld übrig. Sie können es sich leisten, in andere Städte zu reisen, um diese Shows zu sehen und so weiter. Es ist nicht wie bei dem Jugendlichen, der 20 Dollar zusammenkratzt, um zu einer Punk-Show zu gehen. Das ist eine ganz andere Wirtschaftslage.

„Die Leute scheinen von Jahr zu Jahr
höhere Erwartungen zu haben.“

Daniel Graves im Interview (Screenshot)

Ja, ich glaube auch, dass Geld hier eine große Rolle spielt. Als ich als Teenager anfing, auf Konzerte zu gehen, kosteten mittelgroße Shows maximal 15 bis 20 Euro. Und jetzt haben sich die Preise mindestens verdoppelt, so dass 30 bis 50 Euro der Normalfall sind. Ich glaube nicht, dass sich das jeder Teenager leisten kann. Das ist also definitiv ein Punkt. Andererseits teile ich nicht ganz die Meinung, dass die jüngere Generation das Interesse am Nachtleben oder an Konzerten im Allgemeinen verliert. Wenn man sich Bands wie Sleep Token oder die Lorna Shore oder was auch immer anschaut: Diese neuen Bands haben ein ziemlich junges Publikum und die Leute sind verrückt nach diesen Bands …
Sie haben ein gewisses Maß an jüngerem Publikum, was zu 100% stimmt. Aber ich denke, insgesamt geht der Trend dahin, dass jüngere Leute weniger ausgehen. Zumindest in den USA scheinen die Statistiken darauf hinzudeuten, dass junge Leute kein Interesse an Bars, Clubs, Alkoholkonsum oder ähnlichem haben. Sie interessieren sich viel mehr für Videospiele und dergleichen. Ich weiß nicht, ob es hier in Europa anders ist. Gerade in Deutschland gibt es natürlich eine sehr, sehr starke Live-Musikszene. Ich habe das Gefühl, dass ihr davon viel weniger betroffen seid als die USA.

Wie auch immer, ich frage mich immer, warum die Leute lieber zu den großen, teuren Konzerten gehen. Was hältst du von der Theorie, dass kleinere Clubshows nicht mehr interessant sind, weil man sie auf Instagram und so weiter nicht gut aussehen lassen kann? Geht es vielleicht nicht mehr um die Musik, sondern mehr um die Show?
Ja, ich denke, die Produktion spielt eine große Rolle. Die Leute scheinen von Jahr zu Jahr höhere Erwartungen zu haben. Jedes Jahr heißt es: Wie können wir das noch toppen? Ich denke, du triffst mit deiner Aussage über Istagram einen guten Punkt. Was sieht in deiner Instagram-Story am besten aus? Eine Band in einem winzigen Club oder die riesige Produktion oder Leute, die mit Kuchen und Fischen werfen? (lacht) Das Spektakel zählt, Mann! Das ist definitiv ein großes Verkaufsargument, denke ich.

Ja, das ist wirklich schade, denn ich denke, der Fokus verschiebt sich weg von der Kunst und der Musik hin zum großen Spektakel …
Ja, aber es gibt immer noch Bands, die das strikt ablehnen. Bands wie Turnstyle und Knocked Loose. Oder Fever 333, die sind super roh, die scheren sich einen Dreck um das Image oder so, die wollen einfach nur spielen. Es gibt immer noch ein Bedürfnis danach, denke ich. Es ist komisch, das zu sagen, wo ich doch eine elektronische Band habe, aber ich liebe wirklich große Musikalität. Mich persönlich interessiert vor allem, wie eine Show klingt. Ich mag die spielerischen Aspekte mehr als alles andere.

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Daniel Graves mit AESTHETIC PERFECTION 2023 in München

In diesem Zusammenhang – einerseits bezogen auf den finanziellen Aspekt von Konzerten, andererseits auf den Wandel in der Wahrnehmung der Fans, von einem Konzert zu einem Event, bei dem man alles kaufen kann – möchte ich mit dir über ein anderes Thema sprechen, nämlich Tickets für besondere „Erlebnisse“ … VIP-Tickets, M&G-Tickets und dergleichen. Ihr macht das mit AESTHETC PERFECTION auch, auf eine recht durchdachte Art und Weise, würde ich sagen. Trotzdem ist es ziemlich teuer. Vielleicht können wir darüber sprechen, wie es sich anfühlt, Geld für ein Meet & Greet zu nehmen?
Ich denke, es ist wichtig zu erwähnen, dass es bei unseren VIP-Erlebnissen wirklich um die Show und das Erlebnis geht. Es geht nicht darum, uns zu treffen. Die VIP-Sache auf der Frühjahrstournee war eine Show in der Show. Wir haben Songs akustisch vorgetragen, die wir bei der Show nicht gespielt haben, und die Leute haben besondere Fanartikel bekommen. Ich habe kein moralisches Problem damit, von den Leuten Geld zu nehmen, wenn ich ihnen etwas Reales und Greifbares gebe. Wenn ich eine Show veranstalte oder Fanartikel verschenke, habe ich kein Problem damit, dafür Geld zu nehmen. Ich berechne nichts dafür, dass die Leute mich treffen oder Fotos machen. Deshalb stehe ich nach jeder Show ein oder zwei Stunden da und mache Fotos mit allen und signiere alles, was sie wollen. Und zwar nach jeder Show. Ich habe es nach jeder Lindemann-Show gemacht. Ich mache das nach jeder Headlinershow … Ich stehe da, bis die Security die Leute rausschmeißt. Ich finde es schade, wenn „Meet and Greet“ bedeutet, dass jemand für einen Händedruck und ein Autogramm bezahlen muss. Das scheint mir ein bisschen unfair zu sein. Aber ich verstehe auch aus der Sicht des Künstlers, dass es sehr schwierig ist, den Bus, das Catering und die Hotels zu bezahlen. Die Kosten sind einfach explodiert. Und das ist tatsächlich eine der wenigen Möglichkeiten für eine Band, diese Kosten auszugleichen und sicherzustellen, dass die Tournee überhaupt stattfindet. Für uns war es so, dass diese VIP-Erlebnisse die Tournee gerettet haben. Ohne sie wären wir wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, die Tour zu machen. Ich verstehe, dass das eine komplizierte Debatte ist. Und ich denke, dass eine Band, die so etwas anbietet, weil sie es tun muss, sicherstellen muss, dass das, was sie anbietet, absolut fair und das Geld wert ist, das sie von den Leuten verlangt… anstatt einfach nur zu sagen: „Okay, gebt mir Geld, hier ist dein Bild, und jetzt verschwinde.”

„Für mich ist meine Community unglaublich wichtig.“

Daniel Graves im Interview (Screenshot)

Aber ich möchte behaupten, dass es leider nicht der Standard ist, dass es so liebevoll gemacht wird, wie ihr es macht. Ich verstehe die Relevanz für kleinere Bands … aber je kleiner die Bands sind, desto mehr kommen sie, wie du sagst, einfach nach der Show raus und unterschreiben sowieso alles. Was mich an der Sache stört, ist, dass es vor allem die großen Bands anbieten, und die machen es oft nicht gerade fanfreundlich. Manchmal weiß man vorher nicht einmal, ob man die gesamte Band trifft – und dafür zahlt man ein paar hundert Dollar. Ganz zu schweigen von Abzocke wie „Early Entrance“-Tickets und dergleichen, die nicht einmal ein Meet&Greet beinhalten …
Ja, wenn das so ist, dass man für ein Gruppenfoto Hunderte von Euro bezahlen muss … Ich persönlich würde mich nicht wohl dabei fühlen, meiner Community so etwas anzubieten. Für mich ist meine Community unglaublich wichtig. Ich möchte, dass sie wissen, dass ich jeden Dollar, jeden Penny, jeden Euro, jeden Peso, was auch immer sie in mich und meine Kunst und meine Shows investieren, zu schätzen weiß. Das ist also nichts, womit ich mich persönlich wohl fühlen würde. Und selbst wenn AESTHETIC PERFECTION an den Punkt kommen sollte, an dem wir das Zenith alleine ausverkaufen, würde ich so etwas nie tun. Ich würde immer versuchen, es so fair wie möglich zu gestalten, damit die Leute wenigstens ein Foto und eine Unterschrift bekommen. Das ist derselbe Grund, warum meine gesamte Musik zum „Bezahl, was du willst“-Tarif auf Bandcamp ist. Es ist mir egal, ob die Leute meine Musik klauen oder umsonst bekommen. Ich verstehe, dass manche Leute einfach nicht in der finanziellen Lage sind, für Musik zu bezahlen. Aber jeder braucht Musik, um sich zu helfen … okay, nicht jeder braucht Musik, aber ich habe das Gefühl, dass Kunst generell ein guter Weg für Leute ist, miteinander in Verbindung zu treten und ich glaube, Kunst gibt den Leuten eine Stimme, die nicht wissen, wie sie ihre eigenenen Gefühle selbst artikulieren können.  Und wenn ich ihnen diese kleine Geste anbieten kann, wie, „hier, nimm es, wenn du es brauchst“ … ich glaube, das bedeutet den Menschen sehr viel. Wenn ich so etwas tun kann, egal, was es ist, werde ich es auf jeden Fall tun. Ich nehme das Geld der Leute nicht leichtfertig. Für mich ist es wichtig, dass alles so fair und hochwertig wie möglich ist.

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Daniel Graves mit AP 2023 in München

Das ist ein toller Ansatz, finde ich. Mehr Leute sollten so über dieses Thema nachdenken …
Es ist wirklich lustig: Ich habe das „Pay what you want“-Ding nicht als Gimmick gestartet, oder um Geld zu verdienen. Aber eine interessante Folge davon, dass man sich nicht um sich selbst, sondern um andere Menschen kümmert, ist, dass man auf lange Sicht tatsächlich davon profitiert. Sobald ich also meine Musik auf Bandcamp zum „pay what you want“-Modell angeboten habe, habe ich angefangen, viel mehr Geld auf Bandcamp zu verdienen. Weißt du, warum? Weil zwei Drittel oder drei Viertel der Leute die Musik umsonst nehmen. Aber die Leute, die das Geld haben, und die Leute, die diese Geste zu schätzen wissen, die geben mir 20 Dollar für einen Song. Das ist es, was es für mich bedeutet, eine Gemeinschaft aufzubauen und nicht nur eine Fangemeinde. Man baut sich ein Publikum auf, bei dem man das Gefühl hat, dass man eine echte Verbindung zu ihnen hat. Der Begriff „Gemeinschaft“ ist wohl das beste Wort. Und wenn du sie dann unterstützt, unterstützen sie dich.

„Meine wahre Leidenschaft ist es,
im Studio etwas zu erschaffen“

Wenn es so funktioniert, ist das großartig. Ich denke, das ist der Weg, den die Bands heutzutage einschlagen sollten. Dein letztes Album ist, glaube ich, anderthalb Jahre alt, aber du hast danach noch zwei Singles veröffentlicht. Habt ihr schon mehr Musik aufgenommen?
Wir haben den Song „Summer Goth“ im Sommer letzten Jahres veröffentlicht und dann kurz vor der Lindemann-Tour kam „Toxic“. Und dann bringe ich am 16. Februar den Industrial „Club Remix“ von „Toxic“ heraus. Am 15. März kommt die neue Single „Monochrome“, am 12. April dann meine Zusammenarbeit mit dem Alternative-Rapper Sinister. Und dann werde ich „Summer Goth“ in einer anderen Version wiederveröffentlichen, glaube ich. Anschließend habe ich noch, glaube ich, fünf oder sechs weitere Singles, an denen ich arbeite. Ich werde also dieses Jahr wirklich, wirklich, wirklich produktiv sein. Ich habe tonnenweise neue Musik, die ich mit der Welt teilen möchte. Ich bin nicht auf Tour, ich habe endlich die Zeit, all diese coolen künstlerischen Sachen zu machen, die mir wirklich am wichtigsten sind. Es ist nicht so, dass ich es hasse, live zu spielen, ich liebe den Kontakt mit dem Publikum. Aber meine wahre Leidenschaft ist es, Zuhause und im Studio etwas zu erschaffen. Da ich dieses Jahr nicht auf Tournee bin, habe ich endlich die Gelegenheit, mich hinzusetzen und all die Sachen fertigzustellen, an denen ich gearbeitet habe, und ich bin so aufgeregt. Also werde ich euch dieses Jahr regelrecht überschütten.

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Das klingt großartig. Aber wirst du auch ein Album machen oder nur Singles veröffentlichen?
Ich werde hauptsächlich Singles machen, aber ich denke über ein größeres EP-Projekt mit drei Songs nach. Und wenn das passiert, werde ich es, denke ich, in den nächsten drei Wochen ankündigen. Ich muss nur sicherstellen, dass die Finanzen und die Logistik dafür stimmen. Aber das ist wirklich eine Art Herzensprojekt, ich würde es machen, weil ich es liebe, nicht, weil es wirtschaftlich wirklich Sinn macht. Singles sind im Moment einfach das Maß aller Dinge. Die Leute können immer nur einen Song auf einmal verdauen. Es ist zu viel verlangt zu sagen: Hey, könnt ihr euch zehn neue Songs anhören? Die Leute fragen sich: „Bist du verrückt? Eine Stunde meiner Zeit? Nein, ich gebe dir fünf Minuten für einen Song!“ (lacht) Ich würde gerne wieder ein Album machen, und vielleicht ist das am Horizont zu sehen. Aber im Moment denke ich, dass Singles der Weg sein werden. Aber ich möchte wirklich diese Drei-Song-EP machen. Ich habe diese große Vision dafür, Musikvideos und so weiter. Ich denke, ich kann das schaffen – mehr Infos dazu hoffentlich bald.

Klingt großartig. Wenn du den Drang verspürst, es zu tun, dann tu es! Du hast die „Summer Goth“-Single mit Sebastian Svaland von Pain beziehungsweise aus der alten Lindemann-Besetzung aufgenommen. Also gibt es kein böses Blut zwischen der neuen Besetzung aus dem AESTHETIC-PERFECTION-Camp und der alten Lindemann-Besetzung?
Nein, es ist alles sehr, sehr positiv. Wir haben sie alle gesehen, ich war letzten Winter mit Lindemann in Mexiko. Die Pain-Jungs waren da und wir haben alle zusammen abgehangen und es war großartig. Und Sebastian, weißt du, er ist einfach … Ich benutze das Wort Genie nicht sehr oft, aber dieser Typ ist ein absolutes Genie. Er ist einfach so gut und so locker … Ich bin so dankbar, dass er weiterhin mit mir arbeitet. Wir haben jetzt, glaube ich, sieben Songs zusammen gemacht. Also, ja, ich werde Sebastian weiterhin anrufen, wann immer er Zeit für mich hat.

Also werden wir in Zukunft mehr Kollaborationen hören?
Oh, ja, absolut. Ich habe bereits einen Song mit ihm, der fast fertig ist. Ich werde also weitermachen.

AESTHETIC PERFECTION im Mai 2023 in München
Daniel Graves mit AESTHETIC PERFECTION 2023 in München

Ich bin mit meinen Fragen durch, vielen Dank für deine Zeit. Ich würde dieses Interview gerne mit einem kurzen Brainstorming beenden:
Clowns:
Unheimlich! Ich habe keine Angst vor Clowns, also ich finde sie nicht gruselig oder so. Ich verstehe nur nicht, warum man ein Clown sein will? Das ist mir einfach unheimlich. Aber ich schminke mich und gehe auf die Bühne und unterhalte die Leute … insofern bin ich ja selbst ein Clown.
Die Gothic-Szene: Stagnierend. Es gibt so viel wirklich Cooles in der schwarzen Musikszene. Aber ich habe das Gefühl, dass es zumindest in der europäischen Szene nicht mehr so viel Pioniergeist und Aufgeschlossenheit gibt wie noch vor 20, 30 Jahren. Wir haben die großartige Möglichkeit, vorwärts zu denken und verschiedene Sachen auszuprobieren und den Pfaden der Bands zu folgen, die dieses Genre geschaffen haben, Bands wie Skinny Puppy, Ministry, Thrill Kill Cult … diese Bands haben einfach immer wieder völlig neue Dinge gemacht. Und die Leute fanden das gut und liebten die Experimente und die Vielfalt. Aber jetzt ist das alles so homogenisiert und so auf Nostalgie ausgerichtet. Jeder will nur noch Retro-Musik machen. Ich verstehe das nicht. Diese Musik sollte doch zukunftsorientiert sein. Konzentrieren wir uns also auf die Zukunft und nicht auf die Vergangenheit!
Combichrist: „This Shit Will Fuck You Up“! (lacht) Andy macht immer noch Banger. Alles Gute für Combichrist!

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Österreich: „Servus!“ (lacht) Ich liebe es hier. Ich liebe das Essen, ich liebe die Menschen. Der Dialekt ist ein bisschen schwierig, aber du bist ja aus Bayern, also dürfte dir das ziemlich vertraut sein. Der oberösterreichische und der bayerische Dialekt sind sich ja sehr ähnlich – manchmal habe ich Schwierigkeiten, die beiden zu unterscheiden. Wenn ich also in Bayern bin oder so, dann denke ich: Oh, wow, ich verstehe alle! Das ist großartig!
Donald Trump: Verrückt. Die ganze amerikanische politische Situation ist einfach … ein Chaos. Ich bin so froh, dass ich nicht dort bin, um ehrlich zu sein (lacht). Ich meine, natürlich bin ich US-Bürger, also muss ich wählen. Aber, Mann, es ist verrückt. Und jedes Mal, wenn ich die Nachrichten einschalte und sehe, was alles passiert, bin ich so dankbar, dass ich nicht dort bin. Versteh mich nicht falsch … Österreich, Mann, wir haben unsere eigene wilde Politik. Das ist klar. Und die ganze Sache mit Sebastian Kurz, das war auch … es ist ja nicht so, dass es hier in Europa an Verrückten mangelt. Aber ich habe das Gefühl, dass es trotzdem viel stabiler ist.
AESTHETIC PERFECTION in zehn Jahren: 50 Jahre alt! Nein, okay … eigentlich wird die Band in zehn Jahren … Ich bin im März 41 Jahre alt geworden, also gibt es AESTHETIC PERFECTION jetzt 24 Jahre, weil ich sie gegründet habe, als ich 17 war. Das bedeutet, dass die Band dann 34 Jahre alt sein wird. Um ehrlich zu sein, kann ich gar nicht glauben, dass es schon so lange geht. Ich habe diese Band in meinem Schlafzimmer im Haus meiner Mutter gegründet und hatte keine Ahnung, dass sie mich hierher bringen würde. Denn mein ganzes Leben dreht sich um diese Band.
Der gesamte Verlauf meines persönlichen Lebens ist auf diese Band zurückzuführen. Ich weiß nicht, ob du das Musikfestival Wave-Gotik-Treffen kennst? Ich habe dort 2005 meine Frau kennengelernt, weil ich dort gespielt habe. Sie hat sich einen Dreck um Musik oder Amerikaner oder so gekümmert … aber irgendwie fand sie mich ganz okay. (lacht) Aber ja, diese Band hat im Grunde mein ganzes Leben bestimmt. Und es ist eine sehr surreale Erfahrung. Aber ich bin sehr, sehr dankbar dafür. Wenn ich also in zehn Jahren noch hier bin, werden auch AESTHETIC PERFECTION in zehn Jahren noch hier sein. Und ich werde weitermachen.

Sehr gut. Ich wünsche dir dafür alles Gute. Vielen Dank für deine Zeit und das interessante Gespräch!
Ich weiß es zu schätzen, dass du dir die Zeit genommen hast und mit mir reden wolltest. Es ist immer eine Ehre zu wissen, dass die Menschen in den Medien mich interessant finden. Ich bin also sehr, sehr dankbar. Es war mir ein Vergnügen!

Daniel Graves und Moritz Grütz (Metal1.info) nach dem Interview (Screenshot)

Publiziert am von

Dieses Interview wurde per Telefon/Videocall geführt.

Ein Kommentar zu “Aesthetic Perfection

  1. also in meiner Gegend spielen auch weiter lokale und kleinere Bands für <20€…man muss nur hingehen. aber da ist dann oft kaum was los während Stadionkonzerte unabhängig vom Preis ausverkauft sind. der Kunde will es also so

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