Interview mit FS von Nucleus Torn

Auch wenn Bandboss FS es niemals zugeben würde: NUCLEUS TORN ist im Bereich der avantgardistischen Rockmusik längst zur Underground-Legende avanciert. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens hat sich FS nun dazu entschieden, eine zehnjährige musikalische Schaffenspause einzulegen. Mit METAL1.info spricht er über den Entstehungsprozess seines Album-Doppels „Street Lights Fail“/“Neon Light Eternal“, Inspiration und unüberwindbare Qualitätsansprüche.

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Hallo FS! Danke, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Alles gut bei dir?
Meine Lieben, hier NT_Nr.1 im Klartext-Modus. Anschnallen!

Mit „Neon Light Eternal“ ist nun der zweite Teil des Album-Doppels mit „Street Lights Fail“ erschienen. Ist mit den beiden Alben jetzt wirklich alles gesagt?
Aber sicher. Anfang und Ende. Alpha und Omega. „Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ kontrastieren und ergänzen einander. Es hat schlicht keinen Platz mehr in diesem kleinen musikalischen Kosmos. Zuerst müsste sich NUCLEUS TORN einen neuen Raum erschaffen, bevor es weiter gehen könnte.

„Street Lights Fail“ nucleus torn neon light eternalund „Neon Light Eternal“ liegt ein übergreifendes Konzept zugrunde. Worum geht es inhaltlich?
Um Kultur. Um Spiritualität. Um den ganz normalen kleinen alltäglichen Wahnsinn in der westlichen Welt. Um die Konflikte, denen man unweigerlich ausgesetzt wird. Um Entfremdung. Um das Gefüh
l, ein ausgestorbenes Tier in einer Welt der Untoten zu sein. Gleichzeitig aber auch um die Momente völliger Gewissheit, Zuneigung und Vertrauen. Und um die Spannungen, die sich aus dieser Gemengelage ergeben. Billige Gesellschafts- und Konsumkritik liegt mir fern, also drücke ich meine Irritation künstlerisch aus.

Musikalisch habt ihr euch gegenüber den Vorgänger-Alben nicht allzusehr verändert. Trotz der Verwendung vieler Instrumente aus dem Folk- und Klassik-Bereich fehlt den Alben die Wärme und Mystik früherer Werke. Zufall oder bewusste Kurskorrektur?
“Fehlt“? „Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ fehlt gar nichts. Die Alben sind perfekt. Unsere aktuelle Musik ist spiritueller denn je, ehrlicher und authentischer. Jeglicher eskapistische Schrott wurde über Bord geworfen.

Zu deiner Frage: Es handelt sich zu 100% um eine bewusste Entscheidung. Deine Worte bestätigen insofern, dass wir das Konzept erfolgreich umgesetzt haben. Ein Instrument kann nach einem Instrument klingen. Es kann aber auch wie ein Geist klingen oder wie eine Illusion oder wie eine Naturgewalt. Es war an der Zeit, diese weniger offensichtliche Seite unseres Klangspektrums zu erforschen. Inhaltlich gab es gute Gründe dafür.

Apropos: Wenn du Lust auf warme und sonnige Musik hast – meine Güte, das schreibe ich für ein Metal-Portal – , empfehle ich dir, „A Promise of Sunlight“ zu hören – eine aktuelle EP, die auf der Werkschau „Blowing Up The Entire World“ zu finden ist. Dann weißt du, wohin ich künstlerisch nicht gehen wollte. Zwar ist das Resultat ebenfalls schön geworden, aber diese Songs hätten mich nicht genügend motiviert, nach „Golden Age“ noch einmal ein Album aufzunehmen. Zu sehr waren sie im Klangraum der früheren Alben positioniert. Mehr vom Selben? Niemals bei NUCLEUS TORN.

Wie haben die Fans auf diesen Wechsel der Grundstimmung reagiert?
Wir haben keine Fans. Wir haben lediglich Kunden, denen wir ermöglichen, gegen ein gewisses Entgelt unsere Musik zu hören. Wir verlangen darüber hinaus nichts von unseren Hörern, gleichzeitig soll niemand etwas von uns erwarten.

Konkret: Wir haben in dieser Hinsicht keinerlei Feedback gekriegt. Es gibt nur ein paar wenige Leute, die unsere Musik hören. Die kommen damit schon klar. Vielleicht schätzen sie NUCLEUS TORN auch gerade deshalb, weil wir stets fordern und fördern. Wenn ihnen unser Angebot nicht gefällt, sind sie reif und selbständig genug, um uns in Ruhe zu lassen und sich woanders zu bedienen.

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Im Pressetext zu „Street Lights Fail“ heißt es: „Wenn NUCLEUS TORN von jemandem in Erinnerung behalten wird, dann bitte mit diesen beiden Alben.“ Wieso? Sind eure ersten Werke qualitativ nicht mindestens ebenbürtig?

Wieso so schüchtern? Du darfst die frühen Alben gerne lieber mögen. Du könntest deine Zeit wahrlich schlechter investieren.

„Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ sind dennoch besser. Sie zeigen Abgründe. Sie spenden Trost. Songwriting, Performance, Produktion, Layout und Design: NUCLEUS TORN sind am Ziel und Höhepunkt angelangt. Das Resultat entspricht meiner Vorstellung und enttäuscht mich nicht. Von den früheren Alben kann ich das nicht behaupten. Je nach Tagesform schaffe ich es nicht, mir auch nur wenige Minuten davon anzuhören.

Auf „Street Lights Fail“ durfte Anna Murphy (Eluveitie, Lethe) erstmals alle Vocals auf einem NUCLEUS-TORN-Album übernehmen. Wie kam es dazu?
anna murphyOb es ein „Dürfen“ war, musst du Anna fragen. Zumindest musste ich sie nicht zwingen.

Wieso? Das hat konzeptionelle Gründe. „Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ verlangen nach einer einzigen Stimme. Es steht eine einzelne Person im Mittelpunkt, um die ein Sturm tobt. Es ist ein langer Monolog – oder anders betrachtet ein Dialog zwischen Musik und Gesang.

Auf personeller Ebene bedingte dies ganz gewiss einschneidende Veränderungen im Vergleich zu den früheren Alben. Ich war und bin überzeugt, dass Maria und Patrick ihren Zenith auf „Andromeda Awaiting“ und „Golden Age“ erreicht hatten. „Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ waren größere Herausforderungen. Anna hat sowohl das nötige Talent als auch die nötige Rastlosigkeit. Um derartig fragile Musik und Texte würdig umzusetzen, braucht es neben großem musikalischen Einfühlungsvermögen und spontaner Kreativität vor Allem  ein gesundes künstlerisches Selbstbewusstsein. Anna weiß, wann etwas gut ist. Und sie ist nicht zufrieden, bevor sie ihre Ziele erreicht hat. Bei unserer Zusammenarbeit stellen sich kaum je Fragen.

Es ist hinlänglich bekannt, dass NUCLEUS TORN deine künstlerische Spielwiese ist und du quasi als alleiniger Songwriter fungierst. Wie viel Raum bleibt da für deine Mitmusiker, eigene Ideen einzubringen?
NUCLEUS TORN braucht keine devot-debilen Bimbos, sondern selbstständige und engagierte kreative Leute. Zu einem großen Teil haben Anna und Alain ihre Parts selber arrangiert. Grundsätzlich wollen wir alle einfach nur das bestmögliche Album machen und ich wähle die entsprechenden Leute aus – und sie mich. Klar, ein paar von Alains Drumideen habe ich über den Haufen geworfen. Bei vielen anderen dagegen hat mich Alain überzeugt, in eine andere Richtung zu gehen als von mir vorgesehen. Wir haben uns ausgetauscht, haben ausprobiert, angehört, diskutiert – menschliche Interaktion! Ich finde es absolut lächerlich, wenn sich „Rock-Songwriter“ einbilden, ihrem Drummer vorgeben zu müssen, wann er welches Becken zu spielen hat. Detailversessenheit in billiger Drei-Akkorde-Musik – einfach nur peinlich!

Zurück zum Thema. Das Gleiche gilt in Bezug auf die Gesangslinien. Fast alle von Annas Parts sind aus Improvisationen entstanden. Zwar bin ich primär für den analytischen Teil zuständig (Auswahl, Editieren und sonstiges Bearbeiten der Improvisationen), der entscheidende Teil der kreativen Arbeit wurde in dieser Hinsicht aber von Anna geleistet. Grundsätzlich waren ihre Improvisationen hervorragend. Ebenfalls war sie zufrieden mit den von mir daraus erstellten Linien. Anlass zum Diskutieren gaben bestenfalls einzelne Töne.

Anna hat übrigens mehrere Anläufe gewagt, selber Musik für NUCLEUS TORN zu schreiben, hat mir das Material aber nie präsentiert. Ich gehe davon aus, dass sie es nicht passend fand und es lieber für andere Projekte verwendete. Sie hat einen herausragenden künstlerischen Instinkt, deshalb habe ich nie nachgefragt. Ich vertraue ihr voll und ganz – und umgekehrt.

nucleus-torn-street-lights-failDeine Kompositionen sind sehr abgefahren und eklektizistisch. Sie leben in erster Linie von ihren scharfen Kontrasten. Hast du nicht manchmal Angst, deine Hörer zu sehr zu verschrecken?
Oh, wen will man heute mit Musik schon noch erschrecken oder gar verschrecken… Meines Wissens ist noch nie jemand genötigt worden, NUCLEUS TORN zu hören. Beispielsweise werden nur wenige Leute in meinem Bekanntenkreis von mir auf meine Musik aufmerksam gemacht. Alle anderen konfrontieren sich also bewusst mit unseren Klängen und sind selbst schuld, wenn sie sich mit den entsprechenden Nebenwirkungen überfordern.

Ich selber halte meine Musik eigentlich immer für zu banal und vorhersehbar. Wenn ich könnte, würde ich Rockmusik noch viel stärker radikalisieren. Und schlussendlich abschaffen. Es gibt keinen Grund, auch nur noch eine einzige herkömmliche Rockplatte zu schreiben, aufzunehmen und zu veröffentlichen. Rockmusik ist alt und dement. Die sechziger und siebziger Jahre waren diesbezüglich das goldene Zeitalter des Türenöffnens, des mutigen Eroberns von neuen Territorien. Rockmusik war am spannendsten, als die neuen künstlerischen Ausdrucksfelder erschlossen wurden. Kennen wir das heute im Bereich, den man grosso modo als Rockmusik bezeichnen könnte? Nein. Rockmusik ist Rückmusik. Ich habe mit NUCLEUS TORN angestrebt, ein paar der offensichtlichen Lücken zu füllen, die sich mir in diesem ganzen Genre angeboten haben. Gesagt, getan. Ich gehöre also zu jenen Musikern, die die Türen schließen, Klagelieder anstimmen, die Erde aufs Grab schütten.

Du hast angekündigt, dir nun eine zehnjährige musikalische Schaffenspause zu gönnen. Warum, und warum gleich zehn Jahre? Gehen dir Motivation oder die Inspiration aus?
Weniger als zehn Jahre wären zu wenig konsequent. Was wären schon fünf Jahre? Es sind ja schon dreieinhalb Jahre vorbei, seit ich das Songwriting für „Street Lights Fail“, „Neon Light Eternal“, „A Promise Of Sunlight“ und „Waywaters“ (eine weitere EP: „Blowing Up“ kaufen!) beendet habe. Ein Neustart beziehungsweise eine Neuorientierung braucht Zeit.

Meine ursprüngliche Motivation ist spurlos verschwunden (siehe oben). Ich bin vielmehr Totengräber als Geburtshelfer der Rockmusik. Inspiration: dito. Ich weiß genau, auf welchem Niveau eine weitere Platte von mir sein müsste. Ich weiß, wie unrealistisch meine Vorstellungen mittlerweile sind. Und ich weiß, wie sich Inspiration anfühlt. Inspiration lässt mich bis vier Uhr arbeiten, voller Ideen ins Bett gehen und weckt mich um 6 Uhr euphorisiert auf. Inspiration lässt mich das neben all meinen anderen Verpflichtungen über Monate hinweg durchhalten. Inspiration sorgt dafür, dass die Frage nach den richtigen Ideen gar nicht erst aufkommt. Sie sind einfach da. Ist aber keine Inspiration vorhanden, leistet man Fabrikarbeit. Diese ist nicht weniger konstruktiv, aber härter. Dazu bin ich im Moment nicht im Stande, weil mir eine klare künstlerische Perspektive fehlt.

Was planst du in dieser langen Zeit mit der Zeit zu machen, die du dann nicht mehr in die Band investierst?
Das fragst du einen berufstätigen Mann Mitte 30 mit Familie?!? Die Frage sollte vielmehr lauten, wie ich es geschafft habe, „Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ fertig zu stellen, den ganzen E-Mail-Verkehr zu bewältigen, Kulturfördergelder zu beantragen, Interviews zu beantworten und sogar ein durchgeknalltes, selbstverliebtes Projekt wie „Blowing Up The Entire World“ umzusetzen. Bei etablierten Bands arbeitet ein ganzes Team von Profis daran. Ich habe alles selbst gemacht und Prophecy die Dateien fix und fertig abgeliefert: Musik, DVD-Authoring, Layout. Nicht vergessen: NUCLEUS TORN arbeiten defizitär. Alleine in“Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ stecken je ca. 50.000 Euro Aufwand – primär in Form von Zeit. Ich gehe also davon aus, dass ich zur Zeit einfach mal ein bisschen mehr schlafe pro Nacht. Andererseits spiele ich noch mehr Musik aus vergangenen Jahrhunderten. Mein Fokus liegt aktuell auf barocker Musik, beispielsweise auf den Goldberg-Variationen.

Trägst du NUCLEUS TORN damit endgültig zu Grabe oder dürfen die Fans ab sofort den Countdown bis 2025 herunterzählen?
Ich würde nicht mit einer Rückkehr rechnen. Es würde mich verwundern, wenn Musik entsteht, die meinen neuen Qualitätsansprüchen genügt. Falls doch, will ich mir die entsprechenden Türen offen halten.

Was wirst du mit musikalischen Ideen machen, die dir in dieser Zeit kommen? Meinst du, du kannst dich wirklich dagegen verwehren, sie festzuhalten und vielleicht doch zu veröffentlichen?
Auf jeden Fall. Ich bin eine sehr konsequente Person. Wäre ich das nicht, hätte ich die bisherigen Alben nicht fertigstellen können. Ebenfalls schaffe ich es sehr wohl, für mindestens ein paar Jahre keine neuen Platten zu machen. Ich habe seit Sommer 2012 keine Sekunde neuer Musik geschrieben und habe es nie bereut. Im Gegenteil: Ich bin froh, dass mich die Ideen endlich mal in Ruhe lassen.

Das Konzept, selber Rockmusik zu schreiben und zu veröffentlichen, ist meines Erachtens mit jedem Jahr mehr überholt. Es gibt bereits „alles“, und „alles“ ist jederzeit überall kostenlos verfügbar. Ich bin schlicht nicht eitel und verblendet genug, mir (oder dir) vorzumachen, dass ich noch einen signifikanten Beitrag zu diesem Musiksektor leisten könnte. Ich finde es absurd genug, mir einzubilden, dass sich jemand für meine hier dargelegten Gedanken interessieren sollte. Dennoch: Ich weiß von ein paar Leuten, für die „Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ eine gewisse Bedeutung haben. Was will ich mehr?

Wenn du jetnucleus torn nihilzt auf 18 Jahre NUCLEUS TORN zurückschaust: Woran erinnerst du dich am liebsten zurück? Gibt es bestimmte Ereignisse in der Bandgeschichte, die dir als besondere Highlights im Gedächtnis geblieben sind?
Band… Naja, ich habe mir mal sagen lassen, dass sich dies in Promo-Texten besser lesen würde. Egal, ich bleibe beim Thema. Mein persönliches Highlight waren Mix und Mastering von „Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“. Es gab kaum etwas zu tun. Ein paar kleine Anpassungen hier und da und das Resultat klang umwerfend. Generell habe ich fast nur gute Erinnerungen an den ganzen kreativen und produktionstechnischen Entstehungsprozess bei diesen beiden Alben. Die Euphorie beim Songwriting und beim Einspielen waren für mich bis zuletzt spürbar und sind es noch heute. Wie erwähnt halte ich „Street Lights Fail“ und „Neon Light Eternal“ für tröstende Musik. Wenn du mich aber nach den früheren Werken fragst, erinnere ich mich primär an eine stetige latente Unzufriedenheit mit dem Erreichten. Dies ist kein Grund zum Jammern. Nur so macht man Fortschritte.

Abgesehen davon: Es hat sich 2006 toll angefühlt, unzählige Bestellungen für das in Eigenregie veröffentlichte Debut „Nihil“ zu kriegen. Ich ging davon aus, jahrelang auf meinen 500 CDs sitzen zu bleiben, und dann traf nach zwei Tagen die erste Bestellung von 50 Stück aus Japan ein. Nach sechs Wochen war die Erstauflage vergriffen und ich konnte mich voll und ganz den nächsten Projekten widmen.

Zum Abschluss möchte ich mit dir gerne noch das traditionelle Metal1-Brainstorming spielen. Dabei nenne ich dir Begriffe, zu denen du bitte kurz und bündig deine ersten Gedanken äußerst.

Mainstream-Pop: Ich habe keinen Bezug dazu.
Helene Fischer: dito.
Folklore: Kultur oder Kitsch? Es gibt beides.
Avantgarde: Hm, ein schönes Wort, das viel oder gar nichts bedeuten kann.
Deutschland: Ich liebe den Schwarzwald, jedes Jahr wieder. Mit oder ohne Familie wunderschön. Und: Prophecy Productions
Lieblingsalbum: Heute: Talk Talk – Laughing Stock.

Publiziert am von Nico Schwappacher

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