Review Ayreon – The Dream Sequencer

Prog-Crossover-Genie Arjen Lucassen hätte nach der moderat erfolgreichen Space-Oper „Into the Electric Castle“ (Top 40 in seinem Heimatland Holland) einfach auf Nummer Sicher gehen können und ein Album ähnlicher Machart einspielen können. Doch da der Terminus „stagnieren“ nicht in seinem Wortschatz enthalten ist, beschloss er stattdessen, die beiden entgegengesetzten Pole seines Stils auszuloten und das Ergebnis auf zwei separat veröffentlichten Teilen eines großen Konzeptwerks mit dem Namen „The Universal Migrator“ festzuhalten. „The Dream Sequencer“ bedient dabei die melodische, sphärische Prog Rock-Seite seines musikalischen Spektrums, während „Flight of the Migrator“ am besten als metallisch vertonter Weltall-Trip zu beschreiben ist. Und da nun auch die Ayreon im Hangar von InsideOut Music geparkt ist, gibt es beide Alben seit kurzem im Doppelpack mit extra informativem Booklet zu einem vernünftigen Preis zu kaufen.

Im Mittelpunkt der beide Alben umspannenden Geschichte steht der letzte überlebende Kolonist auf dem Planeten Mars irgendwann im 22. Jahrhundert. Während um ihn herum alles zusammenbricht, befindet sich der Kolonist auf dem Weg zu einer Erholung spendenden Maschine namens „Dream Sequencer“, um dort seine letzten verbleibenden Stunden zu verbringen. Dieser soll ihn mit auf eine geistige Reise durch verschiedene Stationen der Zeit und seines eigenen Lebens mitnehmen… jeder der elf Tracks (minus Intro sowie Outro) steht für eine solche Episode und wird, im Gegensatz zu den dialoglastigen Tracks des Vorgängers, meist von einem einzigen Sänger vorgetragen.
Die Schar an Stimmbandakrobaten ist nicht minder vielfältig und hochkarätig als sie es bei „Into the Electric Castle“ war. Zu Tiamat-Grabesstimme Johan Edlund und seinem weiblichen Gothic-Gegenstück Floor Jansen (After Forever) gesellen sich alte Bekannte wie Edward Reekers und Damian Wilson und weniger berühmte Gesichter: Lana Lane, Mouse und die erst sechzehnjährige Jacqueline Govaert. Einen großen Coup hat Lucassen außerdem gelandet, indem er Spock’s Beard-Mastermind Neal Morse überzeugen konnte, dem Finale des Albums seine charismatische Stimme zu schenken. Als zusätzliche Instrumentalisten sind dieses Mal nur die Keyboarder Erik Norlander und Stammgast Clive Nolan sowie Drummer Rob Snijders, der hier den genialen Ed Warby vertritt, an Bord, für den Rest trug Arjen wie gewohnt selbst Sorge.

Wie bereits eingangs erwähnt deckt „The Dream Sequencer“ vor allem das softe, spacige Ende von Lucassens Spektrum ab. Entsprechend selten wird die Gitarre in voll verzerrter Form eingesetzt, es dominieren melodische, oft auch akustische oder bluesig unverzerrte Gitarrenklänge und großflächige Analog-Synthesizer, die bei Bedarf noch Gesellschaft von einem Klavier oder sonstigen Instrumenten bekommen. Auch mit einigen elektronischen Zutaten (Sequencer- und Drumloops) wie auf „Actual Fantasy“ wurde hier und da gewerkelt.
Die Komposition sind langgezogen, in sich homogen und streifen in ihren ruhigsten Momenten beinahe das Ambient-Genre; ergo darf man keine wilden Instrumental-Sprints erwarten, auch das Schlagzeug gibt sich ganz rhythmusorientiert, verzichtet fast völlig auf Fills, ist bei einigen Stücken sogar überhaupt nicht vorhanden! Bei „The Dream Sequencer“ geht es um üppig texturierte Klangbilder, die man in aller Ruhe und idealerweise unterm Kopfhörer auskosten sollte.

Die fünfminütige Ouvertüre umreisst das musikalische Terrain des Albums bereits recht präzise. Nach einem kurzen erzählenden Intro wird hier Space Rock in bester Pink Floyd-Tradition geboten: ein cleanes Gitarrensolo à la „Shine on you Crazy Diamond“ und ziellos umherschwirrende Synthie-Fitzel umspülen den Hörer wie eine warme Flut und bereiten ihn auf seine Reise durch Raum und Zeit vor. Zum Ende hin verdichten sich die Klänge zum ersten Song: „My House on Mars“ führt den Kolonisten zurück in seine eigene, trostlose Kindheit auf dem Planeten Mars. Johan Edlund setzt die sentimentalen Lyrics mittels einer selbstgeschriebenen Vocalline wirklich exzellent um und bekommt im etwas kraftvolleren Refrain sogar noch Gesellschaft von Floor Jansen. Instrumental dominiert hier ein kalter Industrial-Beat, weswegen die warmen Gitarren- und Fanfaren-Leads, die in Refrain und Bridge das Ruder an sich reißen, ihre Wirkung auch nicht verfehlen und gleich für eine prächtige Gänsehaut sorgen.
„2084“ markiert den Zeitpunkt, an dem der prophezeihte Krieg alles Leben auf der Erde dahinrafft – übrigens hat Arjen im Booklet des Reissues ein interessantes Vorwort verfasst, in dem er zahlreiche Querverbindungen zwischen seinen Alben spinnt. Der Protagonist wird dieses Mal vertreten von Lana Lane, und da liegt auch gleich der Schwachpunkt des Tracks: eine schlechte Stimme hat sie nicht (auch wenn sie sich von den meisten ihrer Kolleginnen kaum unterscheidet), doch solche Dramatik und Emotion wie im letzten Song will mit ihr, vom destruktiven Finale abgesehen, nicht so recht aufkommen.

Ganz anders Kapitel 4. „One Small Step“ versetzt den Kolonisten ins Jahr 1969 und in die Gestalt eines kleinen, von Träumen, das Weltall zu bereisen, erfüllten Jungen, der am Fernsehschirm die Mondlandung miterlebt. Ayreon-Veteran Edward Reekers ist mit seiner sanften Stimme wohl die perfekte Besetzung, die nostalgischen, detailreichen Lyrics zu intonieren. Kombiniert mit der warmen, akustiklastigen muskalischen Gestaltung des Tracks und dem von mächtigen Gospelchören (hier klingt Lana Lane richtig gut!) getragenen Refrain entsteht bereits zum zweiten Mal wohlige Kaminfeuer-Atmosphäre. Das edelste Gitarrensolo des Album wird da zur bloßen Staffage degradiert.
„The Shooting Company of Captain Frans B. Cocq“ behandelt ein etwas absurdes Kapitel der Geschichte, besticht aber durch seine musikalische Gestaltung. Durch die gewohnten, sanften (und eingängigen!) Melodien schimmern von Zeit zu Zeit schwermütige Zwischentöne in Gestalt düsterer Chöre oder eines psychedelisch klingenden Klaviers durch. Dazu trägt auch Sänger Mouse bei, der eigentlich für den Part des Hippies auf „Into the Electric Castle“ eingeplant war (hat auch ein ähnliches Organ wie Lucassen) und, oftmals verzerrt oder in mehreren Schichten singend, eine gute, wenn auch nicht „große“ Performance bietet. Interessant ist auch der Kontrast, den die irgendwie traurig wirkende Musik und die pathetischen Lyrics bilden.
„Dragon on the Sea“, angesiedelt in der Zeit von Sir Francis Drake, gehört mit seinen unverwechselbaren Akustikklängen und breiten Synthieteppichen eher zur bombastischen Sorte. Lana Lane präsentiert sich bei ihrem zweiten Auftritt stärker als bei „2084“, bleibt aber alles in allem der gesanglich blasse Schwachpunkt auf einem Album, auf dem den Vocals trotz der langen Instrumentalpassagen sehr viel Gewicht zukommt.

Zur Auflockerung folgen zwei kleinere, beinahe poppige Songs. Das liebliche „Temple of the Cat“ lebt vor allem von Jacqueline Govaerts Gesangleistung – glücklicherweise hat sie alles andere als eine typische Kinderstimme, sondern ein volles, warmes Timbre. Besonders der letzte Refrain gefällt mir gut. Das überaus eingängige „Carried by the Wind“ bietet ein Wiedersehen mit Ayreon, dem blinden Minnesänger vom Album „The Final Experiment“. Gegen Ende des Stücks kommt der Verdacht auf, dass der Junge aus „One Small Step“ und später der Marskolonist selbst die Reinkarnation dieser Schlüsselfigur des Lucassen-Universums sein könnte.
„And the Druids Turn to Stone“, ein interessantes Kapitel über die Entstehung von Stonehenge, könnte man fast für eine Edel-Rockballade der Achtziger Jahre halten: unverzerrte Gitarre, subtile Mellotronuntermalung. Wenn da nicht Damian Wilson wäre, der sich einmal mehr die Seele aus dem Leib singt und damit für die intensivsten und bewegensten Minuten des Albums sorgt. Meiner bescheidenen Meinung nach das unangefochtene Highlight der Scheibe!
Mit dem Schlusstrack „The First Man on Earth“ ist der Kolonist im Dream Sequencer am Beginn der Menschheitsgeschichte angelangt. Dank Neal Morses Beteiligung am Songwriting kann man sowohl in den Lyrics als auch in der Musik selbst einige Beard-Trademarks ausmachen… zusätzlich zu den gewohnten Instrumenten sind hier noch Streicher und Flötenklänge zu vernehmen, alles zusammengehalten vom ansteckenden Refrain. Mit diesem sehnsüchtigen Blick in die Vergangenheit und einem zutiefst melancholischen Outro („The Dream Sequencer Reprise“) endet der erste Teil der kosmischen Reise, deren zweite Hälfte dann auf „Flight of the Migrator“ erzählt wird.

Fazit: Dass „The Dream Sequencer“ es keinesfalls mit dem Meisterstück „Into the Electric Castle“ aufnehmen kann, dürfte bereits im Text durchgedrungen sein. Dafür ist das Album in gesanglicher Hinsicht zu inkonsistent, außerdem bleibt von dem einen oder anderen Track im Endeffekt zu wenig haften. Die guten Momente allerdings (v.a. „My House on Mars“, „One Small Step“ und „And the Druids Turn to Stone“) sind besonders aufgrund der Vocals großartig, und schließlich stecken auch die Werke, die Arjen mal eben zwischen Tür und Angel einspielt, immer noch einen Großteil der sonstigen Prog-Releases locker weg.

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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