Review Big Big Train – English Electric Part I

Ohne Frage: Der Preis für die längste Besetzungs- und Instrumentenliste geht dieses Jahr wohl an BIG BIG TRAIN. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass vier der fünf Bandmitglieder als Multi-Instrumentalisten auftreten, sondern auch, dass die Combo quasi ein ganzes Orchester an Zusatzmusikern für die Aufnahmen von „English Electric Part I“ rekrutiert hat.

In Prog-Kreisen sind BIG BIG TRAIN spätestens seit der Veröffentlichung ihres 2009er Albums „The Underfall Yard“ ein Geheimtipp für alle Freunde des symphonischen Wohlklangs. Und auch ihr neues, bereits siebtes Werk „English Electric Part I“ besticht durch detailverliebte Arrangements, liebevolle Instrumentierung und romatisch-melancholische Retroprog-Atmosphäre. Würden Genesis noch heute Musik machen und wären sie nie in die Kommerzfalle getappt, würden sie sich vermutlich fast so anhören wie BIG BIG TRAIN. Dass Sänger David Longdon wie eine Mischung aus Peter Gabriel und Phil Collins klingt, dürfte also kein Zufall sein. Genesis hatten ihn sogar als Sänger für ihr Abschiedsalbum „Calling All Stations“ vorgesehen, sich dann aber doch für Ray Wilson entschieden. Andererseits weckt Longdons weiches Timbre auch Erinnerungen an Bartosz Kossowicz, Sänger der polnischen Artrocker Quidam.

Wie der Titel „English Electric Part I“ schon sagt, ist die Platte der erste Teil eines zweiteiligen Konzepts. Part II soll Anfang 2013 erscheinen. Textlich behandelt die Band die Geschichte der englischen Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts und verarbeitet diese in größtenteils sieben bis neun Minuten langen Mini-Epen. Nur zwei Tracks, „Uncle Jack“ und „Upton Heath“, fallen kürzer aus. Dabei hebt sich „Uncle Jack“ klar vom Rest des Materials ab: Es besticht durch eine beinahe niedliche, auf jeden Fall sehr fröhliche Melodie, die gekonnt mit Banjo, Flöte und Handclaps untermalt wird. Sicher gewöhnungsbedürftig, aber erfrischend anders und irgendwie auch schön.

Die langen Songs sind alle sehr ordentlich gemacht, können aber trotz schöner Melodien nicht so recht eigenen Charakter entwickeln und sich im Kopf festsetzen. Hier ziehen BIG BIG TRAIN gegenüber dem ebenfalls kürzlich veröffentlichten Debüt von I And Thou, das musikalisch die gleiche Zielgruppe ansprechen dürfte, klar den Kürzeren – und das, obwohl sie mit einer vielseitigeren Instrumentierung als I And Thou arbeiten. Erst im siebten Song „A Boy In Darkness“ schafft es die Band, ein wenig die Handbremse zu lösen und beherzt drauflos zu rocken. Ganz klar das Highlight des Albums. Davor präsentiert man stilsicheren, blitzsauber gespielten britischen Prog, der aber irgendwie zu handzahm und schlichtweg zu nett ist.

Und so wirken die 58 Minuten von „English Electric Part I“ letztendlich doch etwas langatmig. Daran können auch namhafte Prog-Größen wie Andy Tillison (The Tangent), Martin Orford (IQ) und Nick d’Virgilio (ex-Spock’s Beard) nichts ändern. Letztgenannter ist übrigens jetzt festes Mitglied in der Band.

Anspieltipp: „A Boy In Darkness“

Wertung: 7 / 10

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