Review Chthonic – Mirror Of Retribution

Kurze Info für alle, die mit Bands mit (wenn auch nur teilweise) politischen Texten nichts anfangen können: Kocht was Leckeres, besucht die Freundin oder geht an die frische Luft – bei CHTHONIC, benannt nach dem griechischen Gott der Unterwelt, seid ihr nämlich falsch. 1995 in Taiwan gegründet, haben sich CHTHONIC [gesprochen: thon-ick] zum mittlerweile populärsten Metal-Export der west-pazifischen Insel gemausert. Während einer Europatour mit Ensiferum 2007 und der Teilnahme am US-amerikanischen Ozzfest (als erste asiatische Band überhaupt) machten sich die Taiwanesen international einen Namen und schickten ihr in weiten Kreisen heiß ersehntes Album „Seediq Bale“ auf eine Reise um die Welt. Nun wird mit „Mirror Of Retribution“ eine neue Scheibe entfesselt.

Inhaltlich widmet sich die Band, die Anfang des Jahres vom Dalai Lama nach Indien eingeladen wurde, weitestgehend wieder geschichtlich-kulturellen (und damit auch teilweise politischen) Themen und deren Helden und Tragödien. Das auf dem aktuellen Langspieler vorherrschende Thema findet seinen Anfang in eben jenem „Mirror Of Retribution“ (dt.: Spiegel der Vergeltung) – dem taiwanesischen und orientalischen Glauben nach ist dieser Spiegel das erste, worauf man in der Hölle treffen wird. Vor diesem Spiegel wird man mit allen bösen Dingen, die man selbst oder die eigenen Verwandten Zeit ihres Lebens getan haben, konfrontiert. Jede Seele muss diesen Gang vollziehen, ehe sie vom Geisterkönig auf das Level der Hölle geschickt wird, das man verdient. In der orientalischen Hölle gibt es 10 solcher Geisterkönige, 18 verschiedene Höllenebenen und Hunderte weitere Unterebenen, so dass es Millionen von Jahren dauert, für seine Sünden zu büßen. Die Idee hinter „Mirror Of Retribution“ ist nun also, diese Philosophie der Hölle zu erklären, die alle Asiaten – ob in China, Singapur, Taiwan oder Vietnam – teilen und so genügend Stoff für ein gut durchdachtes Konzeptalbum liefert.

Musikalisch untermalt werden die Geschichten ums Höllenfeuer in Form vom Intro „Autoscopy“ schon von der ersten Sekunde an. Was sehr atmosphärisch startet, geht über zum Klang lodernder Flammen und entsetzlicher Schmerzensschreie und endet mit einem nahtlosen Übergang zum tobenden „Blooming Blades“. Frontmann Freddy Lim lässt nichts auf seine keifende Stimme kommen und legt in bester Black Metal-Manier los, bis die Stimmbänder reißen. Eben dieses markante Gekeife in Kombination mit bedachtem Synthesizer-Einsatz, gepaart mit der erstklassigen Gitarrenarbeit von Jesse Liu verleiht diesem Song – und auch dem Rest der Scheibe – eine beachtliche Portion Bombast. Hin und wieder scheint durch die hochtrabenden Gitarrenläufe oder Melodielinien ein dezenter Hauch Cradle Of Filth, die ohne Frage zu einem der Haupteinflüsse der Asiaten zählen. Gleichzeitig klingen CHTHONIC aber um Längen frischer, leidenschaftlicher und intensiver als die Filzläuse es in den letzten Jahren waren. Das Niveau wird auch bei „Venom In My Veins“, dem rumpelnden „The Aroused“ und dem grenz-genialen „Sing-Ling Temple“ gehalten. Besonders letzterer weiß mit der greifbaren Melancholie, den perfekt ins Gesamtbild eingefügten Interludes, den Stimmeffekten und nicht zuletzt der Erhu (traditionelles chinesisches Streichinstrument) restlos zu überzeugen und mausert sich zum, meiner Meinung nach, besten Track der gesamten Scheibe. Besonders atmosphärisch wird es auch noch einmal mit „1947“. In diesem Jahr wurde ein Volksaufstand in Taiwan blutig niedergeschlagen, eine der schwärzesten Stunde in der Geschichte des Landes eingeleitet. Hiermit beweisen CHTHONIC ein Mal mehr, dass sie wie kaum eine andere Band dieses Sektors in der Lage sind, mit ihrer Musik glasklare Bilder vorm inneren Auge des Hörers zu erzeugen – wie eben auch beim genannten Instrumental „1947“, das die Erhu- und Keyboard-Leitmelodie der vorangegangenen Songs aufnimmt und weiterführt. Besonders mit dem geschichtlichen Hintergrundwissen werden diese 04:18 Minuten zu einer wahren Gänsehautparade.
Bevor die Scheibe jedoch ihr Ende findet, bekommen die Hörer mit „Unlimited Taiwan“ noch einen Bonus-Track geboten, der 2007 auch schon als Single erschien, um die gleichnamige taiwanesische Bewegung zu unterstützen – ein fulminanter und absolut würdiger Abschluss für ein Album, das noch für einigen Gesprächsstoff sorgen wird.

CHTHONIC haben Klasse, Spielfreude, unglaubliches Talent, ein Gespür für die richtigen Arrangements und Melodien und ein klares Ziel vor Augen. „Mirror Of Retribution“ ist – wie eingangs schon erwähnt – ihr bisher atmosphärischstes und in meinen Augen auch bestes Werk geworden. Ihre besten Momente haben CHTHONIC immer dann, wenn die Erhu zum Einsatz kommt und mit einem Mal mehr Energie freisetzt, als manche Bands gerade so in fünf Alben zusammenbekommen. Auf diese Trademarks könnten sich die Taiwanesen in Zukunft vielleicht noch ein klein wenig mehr konzentrieren, ohne gleich zu sehr in Richtung Folk abzutriften. Dann steht dem Quintett alles offen. Für „Mirror Of Retribution“ gibt es jedenfalls eine uneingeschränkte Kaufempfehlung für Freunde des melodischen Black Metals – auch für Quereinsteiger geeignet!

Wertung: 9 / 10

Geschrieben am 6. April 2013 von Metal1.info

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