Review Rush – Hemispheres

Wenn man sich mal anschaut, wieviel Erfolg Rush in ihrer rund dreißigjährigen Karriere hatten, möchte man nicht meinen, dass ihre ersten beiden Alben gerne als bloßes Led Zeppelin-Plagiat abgeurteilt wurden. Erst 1976, mit dem Album „2112“ fanden sie ihren Stil, ihre unvergleichliche Mischung aus Prog Rock und grundehrlichem, nicht zwanghaft um Anspruch bemühtem Hardrock. Das 1977 erschienene „A Farewell to Kings“ markierte mit zwei Longtracks (von insgesamt sechs) den Beginn ihrer wichtigsten, da experimentellsten Schaffensphase, während „Hemispheres“, das sechste Studioalbum des kanadischen Dreigestirns, noch einen Schritt weiterging und nur vier Tracks aufwies, darunter einen Neunminüter und einen abendfüllenden Longtrack à la „2112“.
Allzu wilde stilistische Sprünge sind freilich nicht auszumachen, stattdessen überzeugen Rush mit ihrer bewährten Mischung aus bodenständigen, durchaus puristischen Rocksounds und Artrock-typischen Attributen wie unorthodoxen Songstrukturen und ungeheurer technischer Perfektion. Geddy Lees elfenhafte Stimme prägt die vier Songs ebenso wie Alex Lifesons erdige Gitarre und die dieses Mal eher spärlich eingesetzten Keyboards. Am herausstechendsten ist jedoch, wie immer bei Rush, die Arbeit des kongenialen Rhythmusgespanns Lee/Peart, das die unnachahmlich griffigen Melodien und Refrains der Stücke auf ein Fundament aus hochkomplexen, aber nie aufdringlichen Bassgrooves und dem überirdischen Drumming des „Professors“ Neil Peart stellt. Die fast schon als legendär zu bezeichnende Produktion von Stammgast Terry Brown garantiert, dass jedem Instrument genau der Raum zukommt, der ihm zusteht.

Wie schon seine beiden Vorgänger beginnt das 36-minütige Album mit dem Titeltrack (kompletter Titel: „Cygnus X-1 Book II: Hemispheres“), wie unschwer zu erkennen die Fortführung und der Abschluss der Geschichte, die mit dem Klassiker „Cygnus X-1“ begann, textlich und konzeptionell eines der faszinierendsten Stücke überhaupt. Neil Pearts teilweise von Ayn Rands futuristischen Werken inspirierte Lyrics behandeln das Buhlen der Gottheiten Apollo und Dionysos, die metaphorisch die zwei Gehirnhälften des Menschen verkörpern (daher auch der Albumtitel sowie das brillante Artwork von Hugh Syme), um die Gunst der Menschen, und der ziellos durch das Weltall treibende Astronaut aus „Cygnus X-1“ mittendrin. Im Grunde gibt es also absolut nichts zu bekritteln, wäre die musikalische Umsetzung der ersten drei Teile nicht etwas repetitiv.
Während Apollo („Bringer of Wisdom“) und Dionysus („Bringer of Love“) ihre Wege zum vollkommenen Glück vorstellen und es anschließend zum offenen Konkurrenzkampf der beiden Lebensphilosophien kommt, werden größtenteils immergleiche, ziemlich monotone Riffs wiedergekäut, so dass von nervenzerreißenden Spannungsbögen, wie es sie im Vorgänger zuhauf gab, leider keine Rede sein kann. Wirkliches Longtrack-Feeling kommt erst ab Minute 12 auf, mit einem psychedelisch-atmosphärischen Part („Cygnus – Bringer of Balance“), der in ein furios-verspieltes Finale überleitet, bevor eine verträumte Akustikpassage mit liebenswert naiver Botschaft das Stück als eine Art Epilog abschließt. Rein musikalisch wie gesagt bis kurz vor Schluss wenig prickelnd, doch an dieser Art, eine Geschichte mit einem Longtrack zu erzählen, sollte sich jede Prog-Band ein Beispiel nehmen.

Weiter geht es mit dem kurzen Song „Circumstances“, der ohne aufgesetzte Zwangsprogressivität einfach knappe vier Minuten lang mit herrlichen Melodien rockt und sich nur durch die keyboardlastige Mittelsektion und das komplexe Rhythmusfundament als Prog Rock zu erkennen gibt. Dass der Refrain teilweise auf Französisch (!) gesungen ist, sollte man vielleicht auch erwähnen, kommt ja nun auch nicht alle Tage vor…
Das etwas längere „The Trees“ ist ein wahrer Rush-Evergreen, und zwar zurecht, denn die drei Kanadier schaffen es hier selbst auf weniger als fünf Minuten, zwischen einem mittelalterlich klingenden Intro und einem idyllischen Mittelteil, eine Geschichte, die Züge einer modernen Fabel aufweist, zu erzählen. Klasse!
Vollendet wird das Album von einem neunminütigen Instrumental mit dem klangvollen Namen „La Villa Strangiato“ (sowie dem augenzwinkernden Untertitel „An Exercise in Self-Indulgence“ und herrlich albernen Kapitelnamen), das Rush noch einmal von ihrer verspieltesten Seite zeigt. Nach einem Beginn mit spanischer Gitarre („Buenos Nochas, Mein Froinds!“) steigert man sich langsam über das mitreißende „Strangiato theme“ zu einem großen Mittelteil, der natürlich standesgemäß von einem bunten Allerlei an Soli und Breaks geprägt ist. Lee, Lifeson und Peart kokettieren gewissermaßen mit der Selbstverliebtheit, die man den Machern progressiver Musik ohnehin stets vorwirft, warum also nicht dazu stehen? Nach einer doppelten Reprise zweier Motive des Stücks ist dann nach neuneinhalb Minuten auch Schluss. „La Villa Strangiato“ ist jedoch nicht nur witzig (so man den Humor der Band teilt), sondern auch eines der stilprägendsten Rock-Instrumentals überhaupt. Wer schon immer wissen wollte, woher zeitgenössische Prog-Bands wie Enchant ihre Inspiration für Instrumentals und Soli hernehmen, der sollte sich dringend mit Rush beschäftigen!

Fazit: Wer sich bei Rush einhören will, kann eigentlich mit keinem Album, das das Triumvirat in der zweiten Hälfte der fruchtbaren Siebziger Jahre herausgebracht hat, etwas falsch machen. Wie auch „2112“ und „A Farewell to Kings“ ist „Hemispheres“ mit zwei eingängigen Rocksongs, einem Frickel-Marathon und einem filmreifen Epos sehr ausgewogen und bis auf dezente Längen in der ersten Hälfte des Titelstück qualitativ konstant. Ich würde einem Rush-Einsteiger wegen der Übersongs „Xanadu“ und „Cygnus X-1“ zwar eher zum Kauf von „A Farewell to Kings“ raten, aber auch „Hemispheres“ kann man wärmstens weiterempfehlen. Die erwähnten Schwächen haben zwar leichte Abzüge in der B-Note zur Folge, aber achteinhalb Punkte auf der Rush-Skala kann man immer noch guten Gewissens geben.

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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