Das Humppa-Phänomen

Kolumne_2016

Tatort Wacken 2003 – Mein Kumpel und ich hören von unserem Zelt aus seltsame Klänge aus Richtung CD-Player vom Nachbarpavillon… nach einigen Augenblicken folgt die Erkenntnis: Das klingt wie „Join Me“ von HIM, aber was zur Hölle haben diese Spinner daraus gemacht? Diese Sprache… ist das finnisch? Dieser Musikstil… Polka? Entgeisterte Blicke werden ausgetauscht.

Tatort meine Geburtstagsparty, wenige Wochen später – Ein Bekannter legt eine CD auf. Die selben aberwitzigen Klänge, diesmal kann ich schwören, dass es wie „Hunting High And Low“ von Stratovarius klingt, ebenso seltsam verwurstet wie bei dem prägenden Wacken-Erlebnis. Nun frage ich besagten Bekannten: Was bitte ist das? Es ist „Eläkeläiset“ (sprich: „Elakelaisett“, zu deutsch: Rentner), eine finnische (wie sollte es auch anders sein) Band, die bekannte Metalklassiker, Rocksongs und Popstücke der letzten Jahrzehnte in „Humppa“ verwandelt.

„Humppa“ – diese finnische Abart der Polka weiß mittlerweile tausende Metaller in ganz Europa zu begeistern. Der ultimative Beweis dafür ist der gigantische Andrang beim Eläkeläiset-Gig auf dem W:O:A 2004. Die vier Rentner sorgten auf der Partystage, an einem Tisch voller Bierflaschen, die immer leerer wurden, sitzend, für einen unglaublichen Trubel, wie es kaum eine zweite Band schaffte. Nach dem Auftritt waren überall auf dem Festivalgelände und den Campingplätzen lautstarke „Humppa“-Rufe zu hören, die gute Chancen haben die gute alte „Helga“ abzulösen.
Was ist dran an „Humppa“? Wieso fasziniert diese Musik, die hauptsächlich aus einem bekloppten Gerüst aus tänzelndem Akkordeon, Monoton-Bass, Kinderkeyboard, Minimal-Schlagzeug, Offbeat-Gitarre und bierseligem Gegröhle besteht, bereichert durch zahlreiche Gastinstrumente und alles zwischen Mid- und Uptempo gelegen, eine so große Zahl von Metalheads? Wenn man heute einen Gleichgesinnten fragt: „Kennst du Eläkeläiset?“, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit eine Antwort wie: „Was, diese finnischen Polkaspinner? Na klar! Die sind geil!“

Aber warum? Musikalische Genialität kann man der Truppe, die derzeit aus Onni Varis, Lassi Kinnunen, Petteri Halonen, Martti Varis und Kristian Voutilainen besteht, kaum zusprechen. Lyrischen Anspruch – sofern man die Texte überhaupt versteht – erst recht nicht. Durch Befragung zahlreicher Landsmänner erfuhr ich, dass es in jedem Text um nichts Anderes als den Genuss von alkoholischen Getränken, Geschlechtsverkehr oder die Denunzierung von Personen des öffentlichen Lebens geht.

Aber zweifelsohne klingt Eläkeläiset unglaublich ansprechend. Die Rhythmen gehen sofort in Mark und Bein und lösen einfach Bewegung aus. Mitsingen kann man auch irgendwie, denn die gecoverten Songs erkennt früher oder später jeder. Sei es nun „Whiskey In The Jar“, „Wind Of Change“*, „Smoke On The Water“, „Breaking The Law“, „Enter Sandman“ oder „Run To The Hills“… auch wenn der Text geändert wurde, in nahezu jedem Refrain steckt mindestens einmal das Wort „Humppa“, oder Passagen mit dem archetypischen finnischen „Lai lala lai lai lai“-Gegröhle – für jeden Gröhlwütigen ist etwas dabei.
Aber ist das alles? Was fasziniert uns so daran? Drückt Humppa die finnische Trink- und Feierlaune so gut aus? Muss so die Abwechslung von den sonst so harten Tönen des Metals klingen, haben wir – ob Stahlschwinger, Schwarzseher oder Knüppler – allesamt ein Defizit, eine Mangelerscheinung, die nur durch Humppa befriedigt wird?
Ein Stück Wahrheit steckt sicherlich in dieser überspitzten Frage. Humppa macht süchtig, sehr süchtig.

Sind Eläkeläiset noch witzig, wo sie auch eigene Songs schreiben? Aber volle Granate, auch wenn sicherlich das Interesse von uns Langhaarfraktion daran geringer ist. Neue Einflüsse? Die zahlreichen Gastinstrumente bereichern den Sound enorm und sorgen für weitere Lacher. Neues lyrisches Konzept? Finnen würden sich dran stören, wir Resteuropäer wohl kaum. Durch die direkte Verschmelzung von Humppa und Metal durch einige überaus populäre finnische Bands, allen voran Finntroll, wird uns sicherlich diese Musik, die wir so lieben, längerfristig erhalten bleiben. Humppa ist sicherlich kein Trend, der wieder abebbt, Humppa ist Lebensphilosophie. In diesem Sinne: Humppa tai kuole – Humppa oder Sterben!

* Nur live gespielt, da das spießige Scorpions-Management eine Veröffentlichung des Covers untersagt.

Geschrieben am 29. August 2004 von Metal1.info