Interview mit Julien Rour Chanut von Hangman’s Chair

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Ihr neues Album „A Loner“ hat sie zum Branchen-Major Nuclear Blast gebracht, in ihrer Heimat Frankreich touren sie nun mit Alcest und auf dem diesjährigen Roadburn Festival werden sie gleich zwei Special-Sets darbieten – es scheint, als sei die Zeit für HANGMAN’S CHAIR gekommen. Gitarrist Julien Rour Chanut erklärt im Interview, wann er Einsamkeit genießt, warum HANGMAN’S CHAIR von Kontrasten leben und wie Killing Joke „A Loner“ beeinflusst haben.

Wie läuft es mit Corona in Frankreich im Moment? Sind bei euch Konzerte schon wieder ohne weiteres möglich?
Ja, alle Veranstaltungsorte in Frankreich sind schon seit dem 16. Februar ohne Einschränkungen geöffnet. Leider mussten wir zuvor einige Shows unserer Tour mit Alcest wegen dieser Einschränkungen absagen.

Wie sehen eure Konzertpläne zu eurem neuen Album „A Loner“ aus?
Tatsächlich haben wir bereits mit dem ersten Teil unserer Tour begonnen … es ging Ende Februar los. Meistens spielen wir an Wochenenden, immer drei bis vier Shows am Stück, bis zum Sommer. Momentan proben wir für den ersten Teil der Tour zu proben, vor allem für die zwei Special-Sets auf dem Roadburn Festival. Dann werden wir eine Menge Festivals spielen, wie Hellfest, Summer Breeze, Brutal Assault, Alcatraz … und wir planen für den Herbst einige Support-Shows in Europa.

HANGMAN'S CHAIR; ®LEO-KS
HANGMAN’S CHAIR; ®LEO-KS

Das Album wurde über Nuclear Blast veröffentlicht, zu denen ihr von Music Fear Satan gewechselt seid. Vielleicht ist es noch zu früh für diese Frage, aber: Wo siehst du die Unterschiede zwischen einem Nischenlabel und einem Metal-Major für euch als Band?
Wir haben uns bei Music Fear Satan in all den Jahren sehr wohl gefühlt, aber wir fanden, dass es für uns an der Zeit war, international tätig zu werden, und wir wussten, dass Nuclear Blast interessiert war. Wir waren bereits seit unserem Album „This Is Not Supposed To Be Positive“ (2015) mit ihnen im Kontakt, und 2020, als das französische Büro eröffnet wurde, wurde es real. Für uns war das also eine Gelegenheit, die wir nicht verstreichen lassen konnten. Sie lassen uns alle künstlerischen Freiheiten und mischen sich nie ein, es ist eine Win-Win-Situation. Und ihr Team steht immer hinter uns. Anfangs hatten wir Angst, dass wir zwischen all den großen Bands untergehen, aber das ist nicht der Fall, sie unterstützen uns gut.

Nach „Banlieue Triste“ nun „A Loner“. Eure Albumtitel klingen immer verdammt düster und deprimierend – aber ich glaube, dass im Gegensatz zum Depressive Black Metal bei euch am Ende doch eine positive Botschaft dahinter steckt. Liege ich da richtig?
„A Loner“ erzählt von Einsamkeit, aber Einsamkeit als Heilmittel, als Heilmittel gegen Depressionen zum Beispiel. Also ja, wir stehen immer zwischen Dunkelheit und Licht. Ich denke, dieser Kontrast ist ein Hauptkonzept in der Musik von HANGMAN’S CHAIR. So gesehen ist das eigentlich sogar, worum es bei dieser Band geht. Die Gesangsstimme kombiniert mit den harten Gitarren … wir mögen es auch, wenn die Songs zwischen Dur und Moll hin und her wechseln.
Der Kontrast zwischen unserem Artwork und unserer Musik, genau wie das „Loner“-Video, ist nicht das, was Metalheads zu sehen gewohnt sind. Wir wollen einfach unsere Realität zeigen und wie wir die Welt sehen. Sogar in unseren Texten kombinieren wir metaphorische Bilder mit wirklich bodenständigen Themen.

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Du hast das Video zu „Loner“ gerade angesprochen, eine nicht-fiktionale Dokumentation über „isolierte“ Menschen – mitten in der Pandemie. Bezieht ihr euch direkt auf die Situation des Lockdown oder auch auf Einsamkeit als allgemeines gesellschaftliches Problem?
Es geht nicht um die Pandemie … das „Loner“-Video dreht sich eher um die vier Ausgestoßenen, die manchmal abgeschnitten von der Masse leben, mit der Außenwelt kämpfen und mit ihren Alltagssorgen zu kämpfen haben. Aber sie sind trotzdem stolz auf ihr Leben und freuen sich, dass sie die Möglichkeit haben, dies zum Ausdruck zu bringen.

Bist du selbst jemand, der gerne ab und zu alleine ist, oder bist du eher der soziale Typ, der alleine schnell den Lagerkoller bekommt?
Ich bin definitiv gerne allein, seit ich ein Kind bin. Aber wie du schon sagtest, von Zeit zu Zeit und wenn ich es möchte oder brauche. Wenn ich Musik hören, einen Film sehen, ein Buch lesen oder einfach nur meditieren möchte.

Wie bist du mit der Pandemie und der Lockdown-Situation umgegangen – als Privatperson, aber auch als Künstler: Haben dich die Kontaktreduzierungen eher inspiriert oder kreativ gehemmt?
Für mich war der Lockdown sehr positiv, sogar für meine psychische Gesundheit. Ich habe mir die Pause gegönnt, die ich so lange gebraucht habe, ohne sie mir zu nehmen. Was die Band anbelangt, mussten wir unsere Gewohnheiten ändern. Dass wir nicht in unseren Proberaum gehen konnten, war eine Qual, und wir haben diesmal anders gearbeitet, was wirklich inspirierend war, da es eine neue Situation war.

HANGMAN'S CHAIR; ®LEO-KS
HANGMAN’S CHAIR; ®LEO-KS

War die Pandemie der Auslöser für dieses Albumkonzept, oder hattet ihr es schon länger im Kopf und es passt einfach nur zufällig so gut zu den letzten zwei Jahren?
Das Konzept für „Loner“ hatte ich schon lange vor der Pandemie. Ich habe harte Zeiten durchgemacht, die mich in eine Depression getrieben haben, ungefähr zwei Jahre bevor der Covid uns getroffen hat. Damals kam mir das Thema Einsamkeit und Selbstisolation in den Sinn. Es ist echt seltsam, dass es ein paar Monate später, bedingt durch die Lockdown-Situation, plötzlich für alle galt.

Ihr habt auch ein Video zu „Cold & Distant“ gedreht, hier war die französische Schauspielerin Béatrice Dalle beteiligt. Was war die Grundidee für diesen Clip und wie seid ihr auf Béatrice Dalle gekommen?
Wir kannten den Videoregisseur Oscar Bizarre bereits, er hat auch bei unserem Clip zu „Who Wants To Die Old“ Regie geführt, der vor „Cold & Distant“ gedreht wurde. Als wir an diesem ersten Video arbeiteten, fragten wir ihn, ob Béatrice Dalle nicht Lust hätte, in unserem zweiten Videoclip mitzuspielen, da er ein enger Freund von ihr ist. Für uns war das ein Scherz, da wir es für nicht realisierbar hielten. Aber er hat uns ernsthaft geantwortet, ja ich kann sie fragen, sie ist ein Metalhead und sie könnte HANGMAN’S CHAIR mögen. Er hat sie gefragt und sie hat ja gesagt, so einfach ist das! Dann haben wir unsere Pläne geändert und beschlossen, „Cold & Distant“ als unsere erste Single zu veröffentlichen. Die Grundidee hinter diesem Clip war, sie zu filmen, wie sie vier Versionen von sich selbst spielt, um ihre Verrücktheit und ihr unglaubliches schauspielerisches Talent auszuschöpfen.

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Generell sind Videos dank Youtube etc. heute so sehr Teil von Musik wie zuletzt zu Zeiten des linearen Musikfernsehens. Abgesehen von ihrem Werbewert, wie wichtig sind Musikvideos für euch als weitere künstlerische Ebene?
Wir legen großen Wert auf alle Aspekte von HANGMAN’S CHAIR, von der Musik über den Sound und die Produktion bis hin zum Albumcover, dem Merch und natürlich den Videos. Wir wollen, dass die Videos genauso wichtig sind wie der Rest und wir wollen sie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir wollen, dass sie jedes Mal etwas Besonderes sind. Deshalb ziehen wir Leute wie Kendy Ty oder Oscar Bizarre hinzu.

Hangman's Chair - A Loner - ArtworkAuch das Cover könnte kaum kälter und trauriger sein – ein alter Mann, wahrscheinlich nicht nur erschöpft von seinem Tag, in schwarz-weiß, dazu kalte Neonschrift in noch kälterem Türkis … dabei klingt eure Musik vom Sound her so warm und freundlich. Ist dieser künstlich – oder eben künstlerisch – erzeugte Kontrast der Reiz eurer Kunst?
Wie ich oben schon sagte, sind Kontraste die Basis von HANGMAN’S CHAIR. Wir lieben diese Kontraste, und zwar in jedem Aspekt des Lebens. Für mich und Mehdi als die beiden Gründungsmitglieder und Gründer von HANGMAN’S CHAIR ist das sehr wichtig. Wir sind seit 30 Jahren befreundet, wir haben uns im Alter von zwölf Jahren in der Schule kennengelernt und sind bis heute befreundet, obwohl wir völlig unterschiedlich sind, fast gegensätzlich. Aber genau das macht uns so komplementär. Ich sehe es nicht als Dualität, die Band braucht diese beiden Seiten vielmehr. 

Musikalisch habt ihr euch mit diesem Album noch einmal deutlich weiterentwickelt – man erkennt natürlich immer noch HANGMAN’S CHAIR, aber ihr seid weit weg vom Stoner-Rock der Anfangstage und auch vom (härteren) Doom der letzten Alben und seid nun in deutlich prog-rockigeren Sphären unterwegs. Siehst du das auch so, und wenn ja: Wie erklärst du diese Entwicklung?
Mit jedem Album versuchen wir uns weiterzuentwickeln … wir wollen, dass HANGMAN’S CHAIR jedes mal anders ist. Nicht in der Substanz, aber in der Form. Unser Sound hat sich weiterentwickelt, wir haben eine Produktion gewählt, die heller, harscher und weniger verzerrt ist, mit mehr Ambient-Vibes. Für dieses Album wollten wir etwas mit weniger Bass, vielleicht auch weniger „doomig“.
Ich weiß nicht, ob wir jetzt mehr Prog-Rock sind, weil ich dieses Genre nicht wirklich höre … aber während der Arbeit an „A Loner“ war ich musikalisch und textlich sehr von „From The Lions Mouth“ von The Sound beeinflusst. Ich suchte nach dieser Einfachheit in den Strukturen der Songs, auch im Gitarrensound … wie ich schon sagte: Weniger ist mehr. Und die Texte von Adrian Borland haben meine Seele wirklich berührt, als ich harte Zeiten durchlebte, sie haben mir sehr geholfen. Bei meinem Gitarrensound hatte ich den Quicksand-Sound des Albums „Slip“ im Kopf: Fast ein Crunch-Sound mit sehr vielen Mitten, was sich komplett von meinem Gitarrensound auf dem vorherigen Album unterscheidet. Und für meine Gitarreneffekte habe ich mir viel „Brighter Than A Thousand Suns“ von Killing Joke angehört: Dieser hallige, chorige Gitarrensound war genau das, was ich erreichen wollte.

In Frankreich seid ihr mit Alcest auf Tour, die selbst aus dem Black Metal kommen, aber auch einen deutlichen musikalischen Wechsel vollzogen haben. Trotzdem überrascht mich die Kombination ein wenig. Warum findet ihr diese Konstellation passend?
Für uns war es ein gutes Match, man findet in beiden Bands den gleichen Sinn für Melodie und Sensibilität. Und als wir Neige zum ersten Mal trafen, gab es einen gegenseitigen Respekt, eine gute Verbundenheit zwischen uns und Ähnlichkeiten. Leider sind die meisten Termine von Alcest abgesagt worden, nur ein paar in Frankreich wurden verschoben.

Zeit zu träumen: Mit welcher Band würdest du am liebsten touren?
Type O Negative.

Bleibt zu hoffen, dass Konzerte nun wieder dauerhaft möglich sind! Danke für das Interview. Zum Abschluss unser traditionelles Brainstorming:
Das letzte Album, das du dir angehört hast:
„FDT“ von Freeze Corleone, französischer Rap.
„Frühling in Paris“: Das musste ich googeln. (lacht) Ich höre kein Rammstein.
Black Metal:
„Lords Of Chaos“, das Buch von Michael Moynihan.
Wenn „A Loner“ ein Auto wäre – welcher Typ?
Es wäre ein Paar Air Max, ich habe keinen Führerschein.
Streaming:
Faulheit. Und ich bin faul.
HANGMAN’S CHAIR in zehn Jahren: 
Ich glaube nicht an die Zukunft.

Nochmals vielen Dank für deine Zeit. Die letzten Worte gehören dir!
Vielen Dank für die Unterstützung!

Publiziert am von

Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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