Festivalbericht: Tanzt! 2012

17.11.2012 München, Backstage


„Wer tanzt, stirbt nicht.“
Dieser Spruch zierte viele Jahre das Band-Shirt von Saltatio Mortis. Wie vielfältig interpretierbar dieses Motto ist, beweist das TANZT!-Festival in seiner sechsten Auflage. Zum ersten Mal findet die Veranstaltung in München statt und ist prompt erstmals ausverkauft. Das Line-Up gerät dabei international wie nie zuvor: Mit Musica Immortalis, Furor Gallico, Troll Bends Fir, Folkstone, Vroudenspil und Ignis Fatuu stehen sechs Bands aus drei Ländern auf dem Billing – teilweise sogar exklusiv. Folgen solche Ein-Tages-Events normalerweise einer klassischen Klimax von Opener bis Headliner, so erlebt das 6. TANZT! seine Höhepunkte (wie in den letzten Jahren) im Mittelteil.


Nach etwas zähem Einlass und rund fünfzehnminütiger Verspätung eröffnen die Münchner MUSICA IMMORTALIS den Konzertabend mit ihrem klassischem Folk-Rock. Zuletzt hatte man die Gruppe im Vorprogramm von Nachtgeschrei in der bayerischen Landeshauptstadt gesehen, wo sie einen brauchbaren Eindruck hinterließen. Die Klänge mittelalterlicher Lieder und Instrumente treffen bei den Lokalmatadoren auf recht simpel gestrickte Rockelemente. Dieses Konstrukt wird dabei von insgesamt zwei männlichen und einer weiblichen Sangesstimme zusammengehalten, die sich auch beim Tanzt! allesamt als solide herauskristallisierten. Sackpfeifen, Schalmeien, Flöten, Davul, Gitarren und Schlagzeug bieten indes das Bett für Eigenkompositionen, die sich größtenteils mit den sieben Todsünden wie „Gier“, „Hass“ oder „Wollust“ beschäftigen. Zwischendurch präsentieren MUSICA IMMORTALIS eine flotte Interpretation des traditionellen „Ai Vis Lo Lop“ mit Fokus auf Sprachgesang. Während der Auftritt im vorderen Teil der Halle direkt vor der Bühne durchaus in Ordnung geht, versackt der Sound im hinteren Teil völlig. Nach rund 25 Minuten endet die Show schließlich recht abrupt und trotz überraschend lauten „Zugabe!“-Rufen aus den ersten Reihen verlassen die Musiker anschließend die Bühne ohne ein weiteres Stück. Ein unglückliches Ende unter unglücklichen Umständen.

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Und wenig glücklich ging es weiter: Nachdem sich die leichte Aufregung rund um das abrupte Ende bei Musica Immortalis gelegt hat, betritt Veranstalter Michael Sackermann die Bühne, um die anwesenden Zuschauer um etwas Geduld zu bitten. Die beiden Reisebusse aus Italien haben mit technischen Problemen zu kämpfen und natürlich wollen die italienischen Fans besonders ihre Helden live und in Farbe sehen, so dass der Zeitplan endgültig hinfällig ist, als FUROR GALLICO schließlich die Bühne betreten. Und ein Blick in die Gesichter des Publikums verrät, dass nur die wenigsten diese Art von brachialem Folkmetal auf dem Radar hat. Mit Schminke im Gesicht und im Schottenrock zelebrieren die Mailänder das, was man hierzulande am ehesten von Eluveitie und Co. kennt. Dabei werden sie besonders von ihren italienischen Anhängern frenetisch gefeiert. So bilden sich schnell erste Mosh und Circle Pits. Obwohl sich englische und italienische Kompositionen bei FUROR GALLICO die Waage halten, punkten die Musiker vordergründig durch ihren musikalischen Ausdruck als die sprachliche Grundlage. Die kompositorische Basis ist auf dem Erstlingswerk „Furor Gallico“ (noch) nicht zu breit gefächert, so dass sich bald ein recht einheitliches Soundbild rund um die Growls von Sänger Davide Cicalese und die dazu passenden harten Gitarrenriffs bildet. Die weiblichen Parts an Geige und Harfe sind dadurch oft nicht mehr als kleine Randerscheinungen, die im allgemeinen Sound der Südeuropäer zu oft untergehen. Dennoch gelingt es FUROR GALLICO mit viel Enthusiamus und Hingabe, die anfangs skeptische Menge zumindest auf die folgenden beiden Acts einzustimmen.

Denn der italienische Folkmetal von Furor Gallico war erst der Anfang: Als nächstes feiert München zusammen mit TROLL BENDS FIR etwas verspätet das russische (Rock)Oktoberfest. Wie bei Furor Gallico bleiben zwar die meisten Textbausteine fernab von „Bier“ (in „Beer Mantra“) und „Oktoberfest“ (im gleichnamigen Song) ein in diesem Falle russisches Geheimnis, doch mit Hilfe von kunterbunt und schwungvoll arrangierter Geige, Gitarre und Schlagzeug gelingt es dem Quartett blitzschnell, für Feierlaune zu sorgen – und diese konstant aufrecht zu erhalten. Der Folk-Rock-Humppa-Metal funktioniert von der ersten Sekunde und im Gegensatz zu Eläkeläiset oder Korpiklaani haben TROLL BENDS FIR im Laufe des Auftritts wenig mit mangelndem Abwechslungsreichtum oder Leerlauf zu kämpfen. Zwar wirkt die feiernde und tosende Menge gegen Ende hin etwas gesättigt, doch die finnisch-russischen Kompositionen sind sowohl nüchtern als auch mit ein bis drei Bier im Blut gleichermaßen überzeugend. Ob auf russisch oder finnisch, der Alkoholgenuss kann gleichsam erfolgreich und euphorisch ohne jede Textbotschaft besungen werden. Nicht zuletzt durch einen überaus charismatischen und stimmgewaltigen Troll am Mikro, der wahlweise durch Jetras Stimme oder Flötenspiel ergänzt wird. Mit drei Alben und einer EP im Gepäck müssen die Osteuropäer den Vergleich zu vielen bekannteren und gleichzeitig in die Jahre gekommenen Szenegrößen keinesfalls scheuen. Auf dem Tanzt! 2012 avancieren TROLL BENDS FIR so zu den heimlichen Gewinnern des Abends. In Deutschland hat der musikalische Eroberungszug des Humppa-Folk mit dem Tanzt! 2012 und dem Festival Mediaval 2010 wohl erst begonnen.

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Was nun folgt, ist das, was das TANZT! bereits im Vorjahr zu etwas Besonderem machte: Doch dieses Mal sind es nicht nur die italienischen Feierbiester, durch die der FOLKSTONE-Auftritt zum Höhepunkt des Abends avanciert, sondern auch die dazugehörige Musik, die spätestens seit dem 2012er Werk „Il Confine“ fernab von Menschenmassen rund um die Bühne für sich sprechen kann. Mit teils bis zu vier Dudelsäcken marschieren die Songs mit unbändiger Power, ohne dabei überflüssigerweise Sackpfeifenspuren zu doppeln oder zu marktlastig zu werden. FOLKSTONE präsentieren modernen Folkrock in Reinkultur, wie man ihn weder von In Extremo noch von Subway to Sally oder Saltatio Mortis anno 2012 hört. Dies hier ist die Musik für alle verlorenen Mittelalterseelen, die sich wehmütig an die frühen Scheiben der heutigen Szenegrößen erinnern und noch einmal spüren wollen, wie brachial-melodiös Dudelsackmusik mit E-Gitarren und Schlagzeug klingen kann. Dazu knien sich Sänger Lore und seine Truppe mit aller Macht in ihre Show: So zerrt der Fronter an seinem T-Shirt, blickt flehend mit Mikro in der Hand Richtung Decke und geht immer wieder auf Tuchfühlung mit den ersten Reihen – so werden selbst die durchweg italienischen Texte wie z.B. das hochemotionale „Non Saro‘ Mai“ für alle Nichtmuttersprachler fühlbar. Nur einmal gibt Lore sein Mikro aus der Hand und Sackpfeifenspielerin Roby übernimmt für einen Song das Zentrum der Bühne, um ebenfalls stimmgewaltig gebührend gefeiert zu werden – nicht nur von ihren angereisten Landsmännern und -frauen. Bei der Bandhymne „Folkstone“ kann gegen Ende die gesamte Menge mitsingen und als sich schließlich beim instrumentalen Rausschmeißer „In Taberna“ alle Musiker auf der Bühne mit Fans, Technikern und Fotografen mischen, ist ein musikalisches Ausrufezeichen der Güteklasse A gesetzt, wie man es von keiner einheimischen Band auf diese Art und Weise in diesem Jahr gehört hat. Auch für aufstrebende Newcomer aus deutschen Landen sind FOLKSTONE der Maßstab in Sachen modernem Folkrock, der lebt und bebt. Grazie mille!

So schnell wie die Italiener aufgetaucht sind, so schnell sind sie auch wieder verschwunden. Folglich eröffnen VROUDENSPIL im sechsten Jahr bei ihrem Haus- und Hoffestival ihren gewohnten Semiheadliner-Auftritt vor etwas lichtereren Reihen. Mit dem aktuellen Album „Tote Narren“ nimmt die Combo direkt „Kurs aufs Leben“ und lädt früh zum Mitsingen und Mitschunkeln ein. Die Entwicklung der Szenenewcomer ist bei jedem Auftritt bemerkenswert: Neben neuen Bühnenklamotten wie denen von Sänger Ratz von der Planke hat sich der Seewolf am Akkordeon inzwischen zusammen mit den sechs übrigen Freibeutern ordentlich eingegroovt. Die regelmäßigen Besetzungswechsel am Akkordeon scheinen der Formation keinesfalls geschadet zu haben und so fühlt sich das Septett bei ihrem Debüt auf der kleinen Hallenbühne innerhalb kürzester Zeit pudelwohl – angetrieben von einem frenetischen Publikum, welches sogar allerlei Textstellen beherrscht.

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Der Münchner/Rosenheimer Freibeuter-Folk mit Stücken wie der zweistimmig-traditionellen „Spielmannsweise“, dem beschwingten „Lebenselixier“ nebst Mitsingrefrain und der obligatorischen Bandhymne „Meute toter Narren“ funktioniert vor heimischem Publikum hervorragend: So tanzen die Anwesenden schließlich die von Sänger Ratz selbstbetitelte „Wall Of Spring“ und freuen sich über zwei neue Stücke vom dritten VROUDENSPIL-Album „Pulverdampf“, welches im April 2013 erscheinen wird. Eines dieser beiden Stücke wurde sogar extra für das TANZT! geschrieben und praktischerweise direkt so benannt. Stilistisch scheinen sich die Musiker weiterhin auf bekannten Pfaden zu bewegen, doch für ein finales Urteil ist es noch erheblich zu früh. In München feiern VROUDENSPIL mit ihrem gewohnten Abschlusssong „Ein unwichtiger Bösehold“ charismatisch und charmant einen gebührenden Abschluss für einen Auftritt, der wieder einmal beweist, dass die Piratenthematik noch genügend Potential bietet und auch dem TANZT! geradezu heimisch ist. Arrr!


Und genau damit hätte der Tanz(t)marathon enden können und um kurz vor 0 Uhr (mit rund einstündiger Verspätung) vielleicht auch enden sollen. Doch mit IGNIS FATUU steht der Headliner noch parat. Und für die Nürnberger ist das Festival nicht nur ein Auftritt unter vielen, sondern auch das Debüt des neuen Sängers P.G. (Ex-Merlons Lichter). Kurz vor dem TANZT! wurde der Wechsel offiziell bestätigt. So harren trotz deutlich vorgerückter Stunde etliche Festivalbesucher bis zum Ende der Show aus. Und Ignis machen es ihnen nicht leicht, denn als einzige Band des Abends leiden die Newcomer unter furchtbarem Sound und Licht. Besonders drastisch wirkt sich dies auf die Leistung von Nochsänger Alex aus, der völlig exponiert Ton um Ton versägt. Doch damit nicht genug: Während seine Bandkollegen rund um Ausnahmegitarrist Peter Pathos noch versuchen, mit den widrigen Umständen bestmöglich umzugehen und so wenigstens „Wolfzeit“ ein wenig retten, ergötzt sich der Frontmann auf seinen letzten Bühnenminuten in ausufernden Ansagen ohne Sinn und Verstand.

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Entsprechend erreicht die Stimmung während des Headliners beinahe ihren Tiefpunkt. An den Arrangements von Songs wie „Wörterschmied“ oder „Spielmann“ liegt dies nicht, denn diese funktionieren nicht nur auf CD tadellos, sondern zählten ebenso auf dem TANZT! 2010 zu den Highlights des gesamten Festivals. Doch die Vorzeichen haben sich gedreht und so schlägt anno 2012 ein anderer Hammer auf die Trommelfelle der Anwesenden hernieder. Und dieser bereitet mehr Schmerz als Freude. Selbst Irene als weibliches Gegenstück kann an der Sangesleistung wenig retten. Mit „Nordwind“ neigt sich die Ära Alex am Mikro bei IGNIS FATUU schließlich dem Ende zu und der Frontmann richtet noch einige recht wirre Worte über die Gründe seines Ausstiegs an das größtenteils teilnahmslose Publikum. Zum Schluss gerät sogar die Mikrofonübergabe an P.G. mehr als nur unglücklich, da gleichzeitig ein Techniker am Sängermikro werkelt. Der Neusänger hangelt sich verbal zunächst etwas umständlich zu den drei Songs, die er zum Abschluss des TANZT! zusammen mit seinen neuen Bandkollegen debütiert. Auch den übrigen Ignissen merkt man die Nervosität an, wohl u.a. dadurch dass das restliche Publikum nicht sonderlich empfänglich aussieht . Und auch der Sängerwechsel erweist sich (zunächst) als Rohrkrepierer: Zwar versucht P.G. deutlich eher auf die Reaktionen der Zuhörer einzugehen als sein Vorgänger, doch spätestens bei den ganz hohen Tönen in Songs wie „Wenn alle Worte schweigen“ lässt ihn die Technik völlig im Stich. Für Mai 2013 kündigen IGNIS FATUU schließlich ein neues Album an. Und vermutlich wird man erst danach ein finales Urteil über die Veränderungen sprechen können. Der Ersteindruck fällt dennoch extrem ernüchternd aus.

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Dies trifft glücklicherweise nicht auf das TANZT! an sich zu: So wird für den 23. November 2013 bereits die siebte Ausgabe offiziell angekündigt, dann im benachbarten Backstage Werk mit über der doppelten Kapazität. Ein Wiedersehen mit Bands wie Ignis Fatuu oder Musica Immortalis dürfte dabei ausgeschlossen sein. Dafür empfahlen sich alle internationalen Vertreter für erneute Engagements. Furor Gallico ist dabei eine ähnliche Entwicklung wie Folkstone zuzutrauen, nur noch eine Spur metallischer.
Abgesehen von den Hauptacts sorgten die THE REAL MOTHERFOLKERS im Backstage Club für musikalisches Kurzweil zwischen den einzelnen Kapellen. Dazu gab es dort verschiedene mittelalterliche Markstände mit allerlei Kleidung, Schmuck und sonstigen Accesoires. So war selbst fernab der Musik für ein ordentliches Rahmenprogramm in den Verschnaufpausen gesorgt.

Publiziert am von und Uschi Joas

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