Review All:My:Faults – neo.NoiR

Ein lansam stampfender elektronischer Beat eröffnet den ersten Song auf neo.Noir, dem neuesten Werk der Darmstädter ALL:MY:FAULTS. Darüber bewegt sich Steves markante Stimme zunächst im Sprechgesang, später dann, wenn „Gesenktes Haupt//Geschlossene Augen“ auch musikalisch zulegt, mit wütenden Schreien. Verwirrt? Ich hoffe es. Doch der Opener ist keineswegs repräsentativ für das Gesamtwerk – das ist keiner der Songs. Aber dazu später mehr. Was ist das überhaupt für eine Band, die euch ein eifriger Redakteur da wieder aufs Auge drücken möchte?

Wo die Geschichte eigentlich begonnen hat, lässt sich nicht so einfach nachvollziehen, aber wohin sie führte, ist klar ersichtlich: Lange vor Radiohead und Reznor entschloss man sich, den Longplayer „Secrets“ und auch die vorausgegangene EP „The Anger Manifest“ unter Creative-Commons-Lizenz unentgeltlich im Internet verfügbar zu machen. Der überwältigende Erfolg und die positive Resonanz auf dieses Experiment führten dazu, dass unter dem Banner des neu gegründeten Netlabels afmusic auch das neue Album entgegen allen Konventionen ausschließlich im Netz vertrieben werden sollte. Am 25.01.08 war es dann auch soweit und der interessierte Musikliebhaber hat die Wahl zwischen einer wiederum CC-lizenzierten Version zum freien Download und einer Version in hochqualitativer MP3-Qualität oder im verlustfreien flac-Format mit Bonustrack für nur 5 Euronen.Doch nicht nur hinsichtlich des Vertriebsweges beschreiten ALL:MY:FAULTS neue Wege, sondern auch musikalisch will sich einfach keine Schublade finden, die bereit wäre, sich neo.NoiR einzuverleiben. So ziehen mich nach dem ungewöhnlichen, aber sehr intensiven, Opener verzerrte Kinderstimmen hinein in „Can you hear these footsteps coming upstairs at night?“ – nicht der einzige lange Titel -, welches ruhig mit cleaner Gitarre beginnt und dann mutiert. Wozu? Zu einem komplexen Monster, das – Redewendungen sei Dank – mehr ist als die Summe seiner Teile. Gedämpfte Stakkatto-Riffs mischen sich mit den Melodien der Lead-Gitarre, dezenter, aber pointiert eingesetzter Elektronik und natürlich Steves variablem Organ.

Obwohl die weiteren Songs sich derselben Mittel bedienen, überzeugen die komplexen Arrangements, die bald ins Ohr gehenden Melodien und Steves Stimmvariabilität, indem sie dennoch jeden Song anders klingen lassen. Mal mit metallischer Schlagseite, mal industrieller, („One and other stab wounds destroying a life“) und wer den Bonustrack sein eigen nennen darf und einfach mal laufen lässt, stößt auf nochmals gänzlich unbekannte musikalische Gefilde. Genau diese Vielfalt macht es so schwer, das Gehörte in Worte zu fassen. Selbst wenn ich jeden Song haarklein beschreiben könnte, würde es nicht helfen. Solch schwere Musik muss wirken und wachsen.

Die Einzelteile aus Hardcore, Metal, Industrial, Synth-Pop, Gothic-Rock und anderen Genres verbinden sich auf neo.NoiR zu etwas völlig neuem, unbeschreiblichem. Postmoderne Musik in Perfektion sozusagen. Ein komplexes Meisterstück reiht sich an das andere, keines gleicht – ähnelt vielleicht nur – dem Vorigen, und es dauert schon seine paar Durchläufe, bis man ansatzweise durchblickt. Puristen oder Menschen, die nach leichter Musik für nebenher suchen, sollten also besser die Finger von ALL:MY:FAULTS lassen. Alle anderen, die bereit sind, sich auf ein ungewohntes – und aufmerksames – Hörerlebnis einzulassen, dürfen sich an Songs mit langen Namen, viel Inhalt und beeindruckender Verpackung erfreuen.

Allein die Kollaboration mit dem japanischen Cyperpunk-Künstler Kenji Siratori, das an japanische Industrial-Acts erinnernde „Crashed into a spiralworld“, oder die 2007er-Neuinterpretation eines A:M:F-Klassikers „Alles ist gesagt“ rechtfertigen zumindest den kostenlosen Download und ganz sicher den Kauf. Außerdem gibt es als besonderes Schmankerl für jeden zahlenden Kunden nach 150 verkauften Alben eine gepresste, echte, materielle CD inklusive Booklet gegen Portoerstattung nach Hause. Wer da nicht mal ein Ohr riskiert, ist selber Schuld.

Wertung: 9.5 / 10

Geschrieben am 6. April 2013 von Metal1.info

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert