Review Anathema – Judgement

Das Ende des ausgehenden Jahrtausends markierte gleichermaßen eine Phase des aufbrechenden Individuums in die unbekannte und furchteinflößende Welt der Postmoderne als auch den x-ten Selbstfindungsprozess der britischen Death-Doom-Gothic-Alternative-Rock-…-…-Band ANATHEMA. Es werden fleißig Musiker ausgetauscht, in der Mehrheit wechseln sie einfach zu den Landsmännern Cradle Of Filth oder kommen gerne auch von dort. Ob nun ein Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Situation und dem Album “Judgement” besteht, kann ich freilich nicht zu 100 % sagen, auffällig ist aber, dass die lyrischen Themen einen weiteren Höhepunkt in Sachen persönlicher Bezug erreichen.

Bezüglich meiner Meinung zum Vorgänger “Alternative 4” habe ich Volkes Stimme schon an anderer Stelle in ausreichendem Maß empfangen, dennoch bleibe ich dabei, dass dieses Album zwischen “Eternity” und “Judgement” ein zwischenzeitlicher Tiefpunkt gewesen ist. Warum? Nun, “Eternity”, da sind sich die meisten einig, lässt sich in seiner emotionalen Schönheit einfach nicht mehr toppen und auch “Judgement” hat wesentlich mehr Höhepunkte als Ausfälle zu bieten. Doch um es gleich vorweg zu sagen, es gibt sie – ganz im Gegensatz zu “Eternity”. Insgesamt setzt sich der Trend fort und die Songs werden noch langsamer, ruhiger und in der Mehrzahl der Fälle auch zerbrechlicher, was vielleicht ein Grund dafür sein mag, dass man diese Scheibe zunächst erstmal etwas vorsichtiger angeht. Wenn ich ganz ehrlich bin, einen wirklich Ausbruch in Sachen Kraft und Macht kann ich gar nicht ausmachen, die Briten packen uns an anderer Stelle, dafür aber teilweise sehr heftig. Bereits der Opener “Deep” hat einen Doppelrefrain zu bieten, von dem tausende Nachahmer ihr Leben lang träumen dürften. Hier ist es einwandfrei der Gesang, der die bittersüßen Emotionen erzeugt. Erstaunlich: so traurig viele Songs auch klingen, nie hat man das Gefühl, dass hier depressiv gearbeitet wird. Eine sehr ehrliche Liebeserklärung an die Melancholie, aus welcher der Hörer unglaublich viel positive Kraft schöpfen kann. Ganz anders ist die Aufmachung bei “Make It Right (F.F.S.)”, hier lädt ein wunderbares Keyboard zum Träumen ein, hier tritt der Gesang beinahe in den Hintergrund, auch wenn nach wie vor Vincents Stimme einfach großartig ist. Dieses Attribut passt aber auch bestens auf Lee Douglas, welche die beiden Lieder “Parisienne Moonlight” und “Don`t Look Too Far” mit ihrem Gesang veredelt. Interessanterweise stammen beide Songs vom Neu- bzw. Wieder-Anathemisten John Douglas, gerade er als Schlagzeuger schrieb also die beiden Balladen. Aber was solls, er hat es schließlich gut gemacht.

Den unverzichtbaren Pink-Floyd-Song will ich auch noch erwähnen. Es ist ja nun nicht so, als wenn die britischen Ur-Kiffer nicht generell Pate gestanden hätten, aber die psychomäßigen Gitarreneffekte in “Emotional Winter” kamen scheinbar irgendwie durch die Zeit aus den 60er Jahren. Aber nun, bevor die Herrschaften noch eitler werden, als man ihnen ohnehin schon nachsagt, will ich den Kritiker dann auch mal auspacken. “Judgement” hat sehr viele sehr gute Lieder, viele Momente, an denen man sich auch nach Jahren noch erfreuen kann, aber zwei Dinge fehlen. Zum einen der herausstechende Megahit wie beispielsweise “Suicide Veil” auf “Eternity”, zum anderen leidet “Judgement” darunter, dass sich doch der eine oder andere mittelprächtige Song verirrt hat. Dies betrifft vor allem das Ende des Albums, hier nimmt die Qualität insgesamt doch etwas ab. Außerdem bleibt meiner Meinung nach der Titeltrack etwas hinter den hohen Erwartungen zurück. Klar ist es kein schlechtes Lied, aber irgendwie hätte man sich gewünscht, dass dieser spezielle Song doch ein ganz spezielles Feeling garantiert. Nun ja, einen Strick kann man da wohl niemandem draus drehen, aber hier verbergen sich einfach die Unterschiede zum Jahrtausendwerk.

Sound- und artworktechnisch gibt es nichts auszusetzen, dass Schattenbild der Band in der Mitte des Booklets ist sogar sehr cool geworden, die Portraitbilder gefallen mir nicht ganz so gut, aber man soll ja die Musik hören und nicht etliche Male das Booklet anschauen. Besser als “Alternative 4” und das ausgesprochen sperrige “A Fine Day To Exit” sowieso, reicht “Judgement” aber deutlich nicht an die hohen Maßstäbe von “Eternity” heran, mit welchem sich die Herren wohl bis in alle Ewigkeit (!) messen müssen. Trotz allem sollte der anspruchsvolle Hörer diese CD sein Eigen nennen.

Wertung: 8 / 10

Publiziert am von Jan Müller

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