April 2012

Review Anathema – Weather Systems

Oh Mann, ist das ein unglaublich großartiges Album geworden. Auch wenn man ANATHEMA trotz einer ziemliche Dürreperiode um die Jahrtausendwende mit ungewisser Bandzukunft immer einen ganz großen Wurf zutrauen muss, mit einem Meisterwerk wie „Weather Systems“ hätte ich niemals gerechnet. Im Vergleich zum (sehr guten) Vorgänger „We`re Here Because We`re Here“ ist das nicht einfach nur ein Schritt nach vorne, das ist ein Sprung in eine andere Dimension. Selten hat mich eine CD nach nur wenigen Durchläufen so begeistert und erfreut stelle ich mit jedem Durchlauf fest, dass die Lieder noch viel großartiger sind, als ich noch vor einigen Momenten geglaubt habe. „Weather Systems“ verzaubert von den ersten zarten Akustikakkorden bis zum Verhallen des letzten Tones auf der ganzen Linie.

Ohne es zu wollen, habe ich das Fazit wohl gerade etwas vorweg genommen. Das tut mir leid. Aber wer die neue Scheibe der britischen Düster-Rocker in den Player wirft, wird schnell verstehen, was da in mir vorgegangen ist. Die Lobeshymnen konnten einfach nicht warten, sie mussten raus wie der Fünfjährige am Geburtstag sofort zu den Geschenken stürmt, auch wenn ihm im Hinterkopf schwant, dass das nicht der Etikette entspricht. Nur zwei Jahre haben die Cavanagh-Brüder mit ihren zahlreichen Mitstreitern gebraucht, um das neunte Studioalbum einzuspielen. Das zeigt, wie mühelos sie sich die Hits aus dem Ärmel geschüttelt haben. So besticht „Weather Systems“ nicht nur mit den perfektesten 55 Minuten der letzten Jahre, sondern mit einer Atmosphäre, die ganz voller Natürlichkeit daherkommt. Natürlich war ANATHEMA schon immer eine Band, die ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hat, das hat sich über mehr als 20 Jahre und beinahe ebenso vielen Stilwechseln nicht geändert. Und so laden sie auch diesmal wieder zu einer emotionalen Achterbahnfahrt der Weltklasse ein.

Achterbahnfahrt trifft die Sache wohl gar nicht so richtig, denn dies würde zunächst einmal eine gewisse Geschwindigkeit implizieren. Von Tempo zu reden, verbietet sich aber fast, denn „Weather Systems“ ist alles, nur an keiner einzigen Stelle schnell. Neun Songs, neun Balladen – so lautet die einfache Formel, auf die man es bringen kann. Ebenso spricht unwahr, wer das Wort „Härte“ in den Mund nimmt. Gerne behaupten Bands ja, sie spielten nicht schnell, aber trotzdem hart. Nun, das mag für Samael gelten, für Six Feet Under und sogar für Opeth auf ihrem Akustikalbum, aber sicherlich nicht für ANATHEMA 2012. Dies sollen keine Entschuldigungen sein, es soll nur kein falscher Eindruck aufkommen, „Weather Systems“ ist ein Balladenalbum und sollte nie etwas anderes sein. Ein Glück, denn auch wenn einige der größten Bandhits sicher nicht diesem Spektrum zuzuordnen sind, waren die Briten oftmals dann am besten, wenn sie sich ganz auf die Gefühlsebene begeben haben.

Etwas ungewöhnlich startet das Album mit einem Doppelsong, „Untouchable“ gibt es in zwei Teilen, welche sofort ins Ohr gehen, wobei mir der zweite Teil aber noch ein Stück besser gefällt. Dies liegt an einer phantastischen Darbietung von Gesangsfee Lee Douglas, welche als Gast schon auf früheren Alben dabei war (seit dem Vorgänger ist sie fest in der Band). Hier bekommt sie so viel Raum wie nie zuvor und damit macht man alles richtig. Die Stimme ist zum Weinen schön, zerbrechlich, schüchtern und trotzdem voll erotischem Selbstvertrauen, sie nimmt den Hörer im Alleingang gefangen. Ob solo oder im Duett, von der Dame wollen wir dringend mehr hören! Aber auch der Rest der Truppe läuft zu ganz großer Form auf, Vincent singt und schmachtet, vielmehr schmachtet er eigentlich nur, dass es eine wahre Freude ist. Entsprechend liegt der musikalische Hauptfokus beinahe schon bei den Tasteninstrumenten, das Klavier ist allgegenwärtig und hat der Gitarre im Prinzip den Rang abgelaufen, dazu passen natürlich ganz wunderbar die tollen Streicherarrangements, die wie selbstverständlich, die wie verständnisvolle Eltern die anderen Instrumente an die Hand nehmen und durch die Musik führen, ohne jemals aufdringlich oder vordergründig zu agieren. Ein Beispiel par excellence findet aich am Ende des Neuneinhalbminüters „The Strom Before The Calm“, welches zu einem der ganz großen Momente gerechnet werden muss.

Ihrer eigenen Schöpfung setzen ANATHEMA die Krone aber noch etwas später selber auf. „The Lost Child“ ist wohl der perfekte Song in diesem Genre. Stimmig von vorne bis hinten, ein Höhepunkt jagt den nächsten, sieben Minuten, die wie im Flug vergehen und beliebig oft neu gestartet werden können, das Lied wird nicht langweilig, noch offenbart es irgendeine Schwäche. Schon der soundtrackartige Beginn packt den Hörer ganz tief im Inneren, die fragilen Klavierakkorde, die durch die Strophe führen, begeistern ebenso wie der Refrain, in welchem die Melodie ziemlich an den Blackfield-Klassiker „The End Of The World“ erinnert. Und immer, wenn man denkt, es geht nicht besser, es geht nicht emotionaler, packen sie noch einen drauf. Ich lüge und übertreibe nicht, wenn ich anmerke, dass eine derartige Steigerung, die sich anschließt, wohl nur von Sigur Ros jemals erreicht worden ist, atmosphärisch ist man sich da auch gar nicht mal unähnlich. Wie soll dieses Lied jemals getoppt werden?

„Weather Systems“ ist eine CD für die Ewigkeit. Vergleiche mit dem Jahrtausendalbum „Eternity“ sind berechtigt und der einzige Grund, warum dieser Meilenstein wenn auch nur um Haaresbreite, aber dennoch verfehlt wird, ist die leidenschaftliche Sturm-und-Drang-Attitüde, die „Eternity“ innewohnt. Qualitativ stehen sich beide Scheiben in nichts nach und so tut jeder, aber auch wirklich jeder, der nur einen Funken Interesse an emotionaler Musik hat, gut daran, „Weather Systems“ besser gestern als heute und erst recht morgen zu kaufen. Gigantisch!!!

Wertung: 10 / 10

Publiziert am von Jan Müller

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