Review Enchant – Blink of an Eye

So mancher Enchant-Fan wird vor Freude an die Decke springen, wenn er sich “Blink of an Eye”, den neuen Longplayer der US-Prog Rock-Band, anhört. Warum? Nun, die Erklärung dafür ist einfach. Enchant versäumten es nach ihrem unglaublichen Debütalbum „A Blueprint of the World“ leider, ihre Fans mit etwas Vergleichbarem zu beglücken; stattdessen brachten sie mit „Wounded“ ein qualitativ hochwertiges, aber sehr schwieriges und Grunge-angehauchtes Album raus, das nicht allernorts Anklang fand. Nach einem Zwischenhoch in Gestalt des Albums „Break“ führte man mit „Juggling 9 or Dropping 10“ das Grunge-Konzept konsequent fort. Mit letzterem Album zahlte die Band einen hohen Tribut: Drumgenie Paul Craddick und Keyboarder Michael Geimer stiegen aus, weil sie mit der Ausrichtung der Band nicht länger klarkamen (was ich beiden nach einem Blick auf das Debütalbum nicht wirklich verdenken kann…). Das sechste Album „Blink of an Eye“, ganz grob zu beschreiben als Kreuzung aus der Atmosphäre des Debüts und der Härte von „Break“, gefiel wieder praktisch allen Anhängern der Band, auch wenn der Erfolg in gewisser Weise teuer erkauft wurde.
Die seit 1995 andauernde melancholische Phase, die sich im Enchant´schen Songwriting doch mehr als deutlich niedergeschlagen hat, scheint überwunden. Die Zeit der schwermütigen Songs und problembelasteten Lyrics ist vorbei, auf „Blink of an Eye“ herrschen erneut positive, erhebende Melodien voller Power und Enthusiasmus vor. Die Songs sind im Schnitt wieder etwas länger als auf den beiden Alternative-insprierten Vorgängeralben und kommen zumeist ohne Umschweife zur Sache, von allzu simplen Hooklines à la „Black Eyes & Broken Glass“ hat man sich auch verabschiedet, alles Zeichen der unermesslichen Kreativität, die in der Band steckt. Auffällig ist auch, dass das Gaspedal für Enchant-Verhältnisse enorm stark durchgetreten wird, was der Atmosphäre der Songs sehr zuträglich ist.
In gewisser Hinsicht findet eine Rückkehr zu den musikalischen Wurzeln statt. Gitarrist und nun fast alleiniger Songschreiber Doug Ott kann sich nach der Mehrfachbelastung (Gitarre und teilweise Bass und Keyboard!) auf dem letzten Album nun wieder fast ausschließlich seinem Stamminstrument widmen, und tut dies besser als je zuvor. Die stark verzerrten Grunge-Akkorde, die besonders auf dem Vorgängeralbum Überhand nahmen, weichen kraftvollen Rock-Riffs, abwechslungsreich gestalteten Leads und den besten (und schnellsten) Soli, die er je gespielt hat.
Ed Platt feiert nach seinem kurzen Gastspiel auf „Juggling 9 or Dropping 10“ seine Vollzeit-Rückkehr zur Band und begeistert mit seinen alten Tugenden: wunderschöne melodische, warme Basslines, mit einem gelegentlichen kurzen Solo zwischendrin. Der Bass wurde bei Enchant noch nie so songdienlich und gleichzeitig effektiv eingesetzt! Selbiges gilt für das Keyboard, das in Ermangelung eines Nachfolgers für Michael Geimer immer noch von Doug Ott selbst gespielt wird (Live-Keyboarder Phil Bennett spielt in einigen Songs zusätzliche Keyboards). Unaufdringliche, subtile Klänge sorgen für schöne Untermalung, die Gitarre steht jedoch eindeutig im Vordergrund.
Als Ersatz für Paul Craddick verpflichtete man den 26-jährigen Sean Flanegan (ehemals Dali´s Dilemma), der seine Arbeit am Drumkit absolut solide und mit Elan verrichtet, zwar etwas anders als sein Vorgänger, aber sehr, sehr gut. Zu Goldkehle Ted Leonard muss man keine Worte mehr verlieren, er wird von Album zu Album besser und gefühlvoller!

Bereits der Opener „Under Fire“, der auf wahren Geschichte eines Vietnam-Veteranen erzählt und mich auf den Geschmack von Enchant gebracht hat, zeigt den neuen Stil der Band aufs Eindrucksvollste. Nach dem coolen Keyboard-und-Bass-Intro löst das überraschend metallische Riffing nach „Break“ erneut Hoffnungen oder Ängste aus, dass sich Enchant endgültig dem Metal verschrieben haben. Die Akustik-Klänge im Chorus und die hymnischen Leads im Schlussteil zerstreuen diese Gedanken jedoch recht bald. Ted Leonards sich in seiner Energie stetig steigernder Gesang ist wirklich erwähnenswert.
Das folgende „Monday“ ist schon sehr viel relaxter, erneut teilweise akustisch gehalten und mit tollen melodischen Leads. Ebenfalls gefallen die warmen Bassklänge und der interessante Drumbeat.
„Seeds of Hate“ kommt ohne langwierige Intros aus und setzt von Beginn an auf einen kraftvollen Groove. Der Song ist durch sphärische Keyboards, abwechselnd bluesig-verspieltes und metallisches Riffing und ein cooles Bassolo abwechslungsreich gestaltet. Der mitreißende Refrain und ein völlig durchgedrehtes Gitarrensolo machen das Stück meiner Meinung nach zu einem der besten auf dem Album.

„Flat Line“ schlägt etwa in die selbe Kerbe; turbulente Passagen (klasse Keyboardläufe zu Beginn!) wechseln sich mit ruhigeren ab. Erneut gibt es fantastische Soli zu hören, aber insgesamt ist der Song längst nicht so spektakulär wie „Seeds of Hate“ und gehört zu den schwächeren Stücken auf der LP.
Weiter geht es mit dem getragenen „Follow the Sun“, für das Doug Ott wieder zum Bass greift. Zu Beginn tragen Keyboard und Akustikgitarre den Song, der später ganz zaghaft, mit Schlagzeug und E-Gitarre, in eine emotionsgeladene Ballade umschlägt und nach einem tollen Solo so endet, wie er angefangen hat. Schönes Stück!
Das knapp achtminütige „Ultimate Gift“ ist eine weitere (Liebes-) Ballade und in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung des 94er-Tracks „Acquaintance“; achtet mal auf die letzten Textzeilen! Wo jener Song allerdings von einer eher unglücklichen Liebe erzählt, ist „Ultimate Gift“ eine Ode an Dougs Frau Robin, und der musikalischen Gestaltung nach zu urteilen, muss er sie wohl sehr lieben (;-)). Der Song ist eigentlich sehr ruhig, lebt aber von zahlreichen „Gefühlsausbrüchen“ Ted Leonards, die ihn zu einer unglaublich schönen Überballade machen.

Bei „My Everafter“ handelt es sich auch um eines meiner Lieblingsstücke des Albums. Nach dem kurzen Keyboard-Intro geht es mit einem genialen Riff, das für mich eindeutig von Dream Theaters „Metropolis Pt.1“ inspiriert ist, zackig weiter. Die E-Gitarre steht hier jedoch eher im Hintergrund, viele sanfte, von Bass und Keyboard getragene Passagen bestimmen das Bild des Songs, der Refrain ist unglaublich geil, für mich der beste des ganzen Albums! Die zweite Hälfte besteht aus zwei langen Solopassagen; die erste enthält ein wahnsinniges Duell zwischen Doug Ott an der Gitarre und Phil Bennett am Keyboard und ein knackiges Bassolo und mündet schließlich über das Metropolis-Riff erneut in den Chorus. Die zweite Solosektion beendet den Song ähnlich stark. Genialer Song!
„Invisible“ kann da trotz der schönen Melodie naturgemäß nicht ganz mithalten, aber die bewegenden Lyrics über das Leben eines Obdachlosen aus der Feder Ted Leonards sollen zu Recht erwähnt werden. „So keep pretending not to see me, I´ll keep pretending not to care…” Typische Enchant-Lyrics, sehr einfach verständlich und dennoch sehr aussagekräftig.

Die normale Version der Scheibe endet mit dem kurzen „Despicable“, das besonders im Refrain und durch Seans geradliniges Power-Drumming wieder etwas härter und ungeschliffener klingt als die vorherigen Songs. Ted singt sich in seine bekannte soulige „vokale Ekstase“ (die Passage ab 2:01 ist großartig), seine Performance regt absolut zum Mitsingen an! Bei 2:46 beginnt mit einem schroffen Hard Rock-Riff eine der treibendsten Passagen des Albums. Kurz, aber sehr wirkungsvoll.
Allerdings sollte trotzdem niemand die normale Version kaufen, denn auf der Special Edition (die übrigens toll aufgemacht ist) ist noch das siebeneinhalbminütig unbeschreiblich geile Monster-Instrumental „Prognosis“ enthalten, welche das Digipak zur ersten Bürgerpflicht eines jeden Enchant-Fans macht und neben Dream Theaters „Erotomania“ mein Lieblings-Instrumentalstück darstellt. Von Beginn an wird unglaublich energetisch und flott drauf los gespielt, starke Riffs und völlig geile Soli jeder Couleur, ob Gitarre, Keyboard oder Bass, überall! Und immer wieder diese unnachahmliche Melodie, die einen als Hörer kaum zur Ruhe kommen lässt. Gegen Ende merkt man der Band ihrer Spielfreude förmlich an, der Song endet einige Mal scheinbar, nur um dann plötzlich wieder aufgegriffen zu werden. Diese göttliche Achterbahnfahrt durch ein musikalisches Wunderland endet nach 451 Sekunden mit einer kleinen Drumeinlage. Völliger Wahnsinn, unbedingt das Digipak kaufen!

Fazit: Enchant haben das Tal der Tränen, um es mal so zu formulieren, mit ihren sechsten Longplayer „Blink of an Eye“ verlassen. Die melancholische Grunge-Schiene war nach „Juggling 9 or Dropping 10“ in kreativer Hinsicht definitiv bis in letzte ausgereizt, und der erforderliche Stilwechsel wird mit dem neuen Opus mehr als zufriedenstellend vollzogen. Eine munter aufspielende Band, vor Energie sprühende, eingängige Melodien, mitreißende Refrains, abartig starke Soli und ein wie immer gefühlvoller Ted Leonard ergeben in ihrer Schnittmenge dieses Album, das sich perfekt als musikalische Untermalung für die schönen Stunden des Lebens eignet.
Warum ich trotzdem keine höhere Note geben? Nun, das Debütalbum bleibt bis dato unerreicht, und als Anhänger des alten, komplexeren verfrickelteren Enchant-Stil gebe ich auch dem 97er-Geheimtipp „Time Lost“ den Vorzug. „Blink of an Eye“ ist jedoch verdammt dicht dran. Gute neun Punkte!

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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