Review Enchant – The Great Divide

Sage und schreibe elf Jahre mussten wir auf ein neues Album der amerikanischen Progrocker ENCHANT warten. Zwischendurch sah es gar so aus, als würde es nie wieder eine neue Platte der Band geben. Dabei war die lange Auszeit nie geplant – die Jungs wurden einfach vom Leben überrollt: Sie ließen sich scheiden, heirateten, gründeten Familien oder nahmen neue Jobs an. Während Sänger Ted Leonard in der Zwischenzeit bei Spock’s Beard, Affector und Thought Chamber hinter dem Mikro stand und als Tourmusiker bei Transatlantic von sich Reden machte, konzentrierte sich Bandchef Douglas A. Ott auf die Produktion lokaler Bands in seiner Heimat Kalifornien.

„The Great Divide“ heißt die neue Platte; ein Titel, der angesichts der unfreiwilligen Pause passender nicht sein könnte. Lyrisch präsentieren sich ENCHANT nachdenklich und finden wunderbar einfache, aber sehr berührende Worte zu Themen, mit denen sich jeder früher oder später einmal auseinandersetzt: Vergänglichkeit, Reue, Spiritualität, Liebe und verpasste Gelegenheiten. Auch wenn ENCHANT textlich immer schon eine melancholische Schlagseite hatten, ist das Älterwerden definitiv nicht spurlos an ihnen vorübergegangen. Dass sie derart offen und ehrlich darüber singen, macht den größten Reiz der Scheibe aus.

Im Vergleich zu den vorhergehenden Alben klingen die Jungs anno 2014 keyboardlastiger, wärmer und gesetzter – an der einen oder anderen Ecke lugt glatt der (neo-)proggige Sound des 1993er Debüts „Blueprint Of The World“ hervor. Die Songs sind mit durchschnittlich sieben Minuten Spielzeit wieder etwas länger geworden und Ted Leonard singt jetzt öfter in tieferen Lagen – klarer und weniger kratzig. Die Band hat es geschafft, ihre eigene Identität zu bewahren und doch neuartig zu klingen. Die kleinen Verschiebungen im Soundgefüge lassen die Musik frisch und luftig wirken und sind darauf zurückzuführen, dass laut Bandchef Ott die einzelnen Mitglieder mehr Einfluss beim Songwriting hatten als bisher. Insbesondere Keyboarder Bill Jenkins überzeugt mit geschmackvollen Arrangements sowie tollen Soli und Sounds.

Das Album lässt sich ganz hervorragend nebenbei hören, eignet sich aber auch zum tiefen Eintauchen. Vom packenden Opener „Circles“ ausgehend entwickelt die Scheibe eine tolle Dramaturgie, die schließlich im brillanten Abschlusstrack „Here And Now“ ihren musikalischen und emotionalen Höhepunkt findet. Mit diesem Song haben sich ENCHANT ein kleines Denkmal gesetzt, in dem Text und Musik eine unheimlich dichte und packende Verbindung eingehen. Umrandet von Douglas A. Otts mitreißendem Gitarrenspiel bringt Ted Leonard in diesem Tränenzieher die Message des Albums auf den Punkt und wendet sich in einem herzzerreißenden Appell direkt an die Hörer:

Where did all the time go?
Only seems like yesterday. […]

You have to say you’re gonna fight it,
you have to live with no regrets,
you have to savor every moment,
appreciate the time you get,
you’ve got to soak up all the memories,
you have to make the seconds last
you’ve got to live in the here and now,
our time ticks by so fast“ […]

„I forgot to say I love you,
I forgot to say I care,
thought we have tomorrow,
but life can be unfair.
Our time is oh so fleeting,
our time is just so brief,
how I long for yesterday,
instead of all this grief.“

[Enchant – Here And Now, Lyrics: Douglas A. Ott]

„The Great Divide“ ist wie ein Wiedersehen mit einem guten Freund, den man lange nicht mehr gesehen hat. Anfangs ist man noch nervös, ob die Chemie wohl stimmen wird, am Ende hat man die Gewissheit, dass ENCHANT nichts von ihrer Unterhaltsamkeit, Tiefe und Ehrlichkeit verloren haben. Ganz im Gegenteil: „The Great Divide“ zeugt von großer Reife. Musikalisch und textlich. Ein Anwärter auf das Album des Jahres!

Die Special Edition des Albums enthält übrigens nicht nur den instrumentalen Bonustrack „Prognosticator“, sondern auch eine zusätzliche Best-Of-CD mit zehn remasterten Songs aus dem Backkatalog der Band. Sehr empfehlenswert!

Wertung: 9.5 / 10

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2 Kommentare zu “Enchant – The Great Divide

  1. Also ich finde diese Form von Prog so wahnsinnig ehrlich! Da klingt eben nicht alles vom ersten Ton an geleckt und ausgefeilt bis ins Detail. Die Jungs haben einfach Spaß an gutem Prog-Rock, was man jeder Note abspüren kann. Sehr schön!

  2. „Ein Bekannter wird dir zustimmen, doch ein Freund wird mit dir streiten.“ Russisches Sprichwort

    Ein guter Freund, vor allem einer, den man 10 Jahre nicht gesehen hat, hat die Eigenschaft, dass man nicht alles vorbehaltlos gutheißen muss, was er getan hat und tut, um ihn zu mögen. So geht es mir ein bisschen mit der neuen Enchant.
    Sie wird es vermutlich nicht in meine Top 3 der Band schaffen, die bis auf Weiteres von „Blueprint…“, „Break“ und „Blink…“ belegt wird. Sie können immer noch keine Endings programmieren, wobei sie dieses Mal immerhin das Fadeout-Klischee weitestgehend umschiffen konnten. So manche Zeile, insbesondere die aus der Feder von Doug Ott, ist nicht gerade höchste Lyrik. Und das Titelstück ist bestimmt nicht ihr bester Song, selbst wenn die Band das glaubt.
    Ist aber alles egal. Ich freue mich einfach, dass Enchant wieder da sind und ihre guten Seiten genauso wenig abgelegt haben wie ihre schlechten. Der Sound ist vor allem auf Vinyl herrlich, zumal kein „professioneller“ Produzent am Werke war. Jedes Gitarrensolo ist geiler als das vorherige… tut mir Leid, aber so ist es. Allgemein quillt die ganze Platte über vor sicherem Geschmack und Klasse – eine Sache, die man ganz bestimmt nicht von jedem Prog-Album behaupten kann.

    Favoriten: „Prognosticator“ (ein Instrumental mit Songwriting!), „Here And Now“ (10:1, dass dieser Song auf der nächsten Tour das reguläre Set beenden wird) und „All Mixed Up“. Immer wieder „All Mixed Up“. Ich gehe kaputt, so großartig ist dieser Song.

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