Review Symphony X – The Odyssey

Bei jedem Symphony X-Review, das ich bisher geschrieben habe, habe ich öfter als einmal betont, dass diese Band sich sehr gut drauf versteht, einen konstanten Evolutionsprozess durchzumachen, ohne ihre Fans durch allzu krasse Stilbrüche zu strapazieren… nun, mit ihrem sechsten Longplayer hat es das Prog Metal-Quintett aus New Jersey zum ersten Mal geschafft, gefährlich in die Nähe eines solchen Stilbruchs zu rücken.
Was sich auf dem Vorgängeralbum „V – The New Mythology Suite“ mit brachialen Rifforgien wie „Evolution ( The Grand Design )“ oder „Cataclysm / The Bird-Serpent War“ zaghaft angekündigt hatte, wird auf dem neuesten Opus endgültig in die Tat umgesetzt: Bandleader und Gitarrist Michael Romeo reisst das Ruder vollends an sich und lebt seine musikalischen Triebe ungeniert aus. Im Klartext heisst das, dass die opulenten Bombast-Prog-Metal-Epen des vorhergehenden Alben zumindest teilweise der Vergangenheit angehören; auf „The Odyssey“ wird gethrasht, was das Zeug hält! Die 5 Kurztracks sind allesamt knüppelhart geraten, stark verzerrte und hochkomplizierte Riffs, die unter Garantie nicht beim ersten Mal haften bleiben, stapeln sich neben geradlinigem Power-Drumming, erdrückenden Bassteppichen und, man höre und staune, verdammt rauhem und agressivem Gesang von Sängerknabe Russell Allen bis unter die Decke. Da ist es nur natürlich, dass Mike Pinnellas bekannte neo-barocke Keyboardklänge bis auf subtile Untermalung und heftige Soli etwas auf der Strecke bleiben.

Vielleicht male ich auch nur den Teufel etwas zu sehr an die Wand, schließlich haben Symphony X mit ihrem 97er-Killeralbum „The Divine Wings of Tragedy“ schonmal einen ähnlichen musikalischen Wandel vollführt, und damals hat´s schließlich auch funktioniert. Gut, der Thrash-Faktor war nicht ganz so hoch, und die Keyboards waren noch etwas präsenter, aber das Grundkonzept von „The Divine Wings…“ lässt sich auch anno 2002 auf „The Odyssey“ ganz leicht wiedererkennen: Erneut stehen 5 kurze Tracks, die ohne große Umschweife zur Sache kommen, einigen ( in diesem Falle 3 ) längeren, vielschichtigen Epen gegenüber, und nach einigen Durchläufen, wenn man den Schock aufgrund der Extraportion Härte überwunden hat und auch die kürzeren Tracks zünden, stellt man als gegenüber Änderungen offener Hörer doch zutiefst befriedigt fest, dass sich die anfänglichen Ängste als unbegründet erwiesen haben.
Dennoch dürften während besagter erster Durchläufe die Longtracks die Hauptanlaufstelle des Hörers sein, da diese dank bombastischer Inszenierung sofort das typische Symphony X-Flair versprühen, welches die Thrash-Granaten erst nach mehrmaligem Hören offenbaren. Dort gibt es dann auch wieder massenhaft harmonische Keyboard-Klänge zu genießen, die sich auch glücklicherweise nicht im Geringsten mit dem ungeschliffenen Riffing beißen, ganz im Gegenteil. Zusätzlich wurden auch die klassischen Elemente, die bereits auf den beiden Vorgängern zu finden waren, erneut etwas weiter vorangetrieben, mehr dazu später.
Auf den zweiten Blick jedoch bringt sich Pinnella auch in den kurzen Songs wunderbar ein, einige seiner Soli dort gehen, was den Frickel-Wert angeht, schon fast in Richtung Jordan Rudess!
Kurz gesagt, man sollte das Album nicht gleich nach den ersten Takten des Openers in die Ecke schmeissen, weil man mit dem ungewohnten Minimalismus und der gesteigerten Härte (ich habe für dieses Album irgendwo sogar die Genrebezeichnung „Death Metal“ gelesen…) nicht klarkommt. Die Platte verdient zahlreiche Durchläufe und hat sie auch bitter nötig, um objektiv bewertet werden zu können!

So, da das nun gesagt ist, kann ich ja mit der Songbesprechung beginnen…
Der Opener „Inferno (Unleash the Fire)“ ist, wie erwartet, einmal mehr ein reinrassiger Uptempo-Kracher geworden, mit ungeheuer vertrackten, hohen Legato-Riffs zu Beginn, einer enorm voluminösen Bassline von Mike Lepond und einem absolut livetauglichen Chorus.
Das folgende, düstere „Wicked“, mein persönlicher Liebling unter den kurzen Stücken, kommt im schleppendem Midtempo daher; der durch das Pantera-eske Riffing kreierte Groove, der mich etwas an „Straight to Hell“ von Rage erinnert, ist einfach unglaublich! Außerdem gefallen hier die abwechslungsreiche Solo-Sektion (Mike Lepond zeigt Joey DeMaio, wie ein Bassolo auszusehen hat, und selbst Russell Allen soliert gewissermaßen ein wenig) und erneut der Refrain. Auch dieser Song dürfte live seine Wirkung nicht verfehlen.

Weiter geht es mit dem kurzen und unkomplizierten „Incantations of the Apprentice“, das mit seinen ungewöhnlichen Drums-und-Gesang-only-Passagen interessant arrangiert ist und durch und durch geniale Riffs birgt, besonders die düstere Bridge ( „And as they spoke…“ ) gefällt mir in diesem Punkt sehr gut. Spätestens hier lässt sich die Struktur von „The Divine Wings…“ erkennen, „Inferno“ entspricht „Of Sins and Shadows“, „Wicked“ entspricht „Sea of Lies“ und so weiter.
Dementsprechend folgt mit dem Achtminüter „Accolade II“ die obligatorische Hymne und eine direkte Weiterentwicklung des 97er-Supertracks, in die einige Melodiefetzen und Textzeilen aus dem Vorgänger eingeflochten wurden. Nach dem tollen harmonischen, mit Klavier und Streichern besetzten Intro geht es mit fettem Riffing weiter, der pathetische Refrain löst, besonders beim dritten Mal, Gänsehaut aus, außerdem verbirgt sich im Mittelteil ein fantastisches Gitarrensolo. Toller Song!

Das Edgar Allan Poe-inspirierte und dementsprechend düstere „King of Terrors“ treibt den Thrash-Wahn auf die Spitze, der Song ist auf das Nötigste reduziert, neben den ultraharten Riffs und einem völlig durchgedrehten Keyboardsolo bleibt nicht viel übrig. Klar der sperrigste Track des Albums, der definitiv einige Runden im Player drehen muss, um zu gefallen.
Das kurze „The Turning“ bietet zwar erneut tolle Riffs, ist aber insgesamt ein wenig nichtssagend, besonders der Refrain ist leider etwas unspektakulär. Der einzige Schwachpunkt des Albums, soviel kann ich jetzt schon sagen.
Der Longtrack „Awakenings“ auf der 7 ist wiederum mein persönlicher Anspieltipp. Innovativ, vielseitig, mit viel Power. Nach einem Intro geht es im Stil einer Ballade, mit Klavierklängen und sanften Vocals weiter, später entwickelt sich der Song plötzlich zu einem vielschichtigen und dramatischen Prog-Kracher mit einem unglaublich treibenden Chorus und einer extrem abwechslungsreichen Solo-Sektion (vor allem die Keyboardsoli sind klasse!).

So, nochmal durchschnaufen, denn nun ist es Zeit für Symphony Xs bisher ambitioniertestes Stück, den 24-minütigen Titeltrack des Albums. Textlich natürlich auf dem gleichnamigen Homerischen Epos basierend, beschreibt der Song in 7 unterschiedlich instrumentierten Kapiteln 7 Episoden aus Odysseus´ Irrfahrten. Den Anfang macht eine vollständig orchestrierte Ouvertüre, ein klasse Brückenschlag zwischen Metal und echter klassischer Musik, vom klimpernden Neo-Barock hat man sich etwas entfernt. „Journey to Ithaca“ beginnt mit wunderschönen Akustikgitarren-Klängen und ungewöhnlich souligem Gesang von Russell Allen und geht dann über in eine kraftvolle, verschachtelte Passage voller atemberaubender Soli (meine Lieblingsstelle beginnt bei 7:40), meiner Meinung nach der beste Teil des Songs. Teil 3, „The Eye“, ist dem Zyklopen Polyphem gewidmet und passt sich dem Sound des Albums an, will heissen, kommt im harten Riffgewand und mit agressiven Vocals daher.
„Circe (Daughter of the Sun)“ erzählt die Geschichte eben jener Zauberin, dieser Teil ist wieder etwas hymnischer und balladesker. „Sirens“ ist ein relativ kurzes und erneut ziemlich hartes Zwischenspiel, bevor mit dem Instrumental „Scylla & Charybdis“ wieder opernhafte Sphären durchstreift werden. Im großen Finale „The Fate of the Suitors / Champion of Ithaca“ wechseln sich keyboardlastige Parts mit härteren Passagen ab, der von galoppierenden Riffs unterfütterte Chorus sorgt erneut für Gänsehaut. Den Abschluss bildet die Reprise einer wunderschönen Passage aus Kapitel 2.
Meine Meinung: Große Teile formen einen großen Song. „The Odyssey“ kann zwar nicht ganz an den Übersong „The Divine Wings of Tragedy“ heranreichen, da sich im Mittelteil ein paar ganz kleine Längen bemerkbar machen, aber alles in allem habe ich selten einen derart unterhaltsamen und kurzweiligen Song dieser Länge gehört.

„The Odyssey“ setzt einen tollen Schlusspunkt unter das Album, auf der Limited Edition ist als Bonustrack noch eine etwas aufgemotzte Version von „Masquerade“ vom selbstbetitelten Debütalbum der Band enthalten. Russell Allen ist mindestens 3 Klassen besser als sein Vorgänger Rod Tyler, und das kernigere Riffing sowie das verlängerte Klassik-Intro stehen dem Stück sehr gut zu Gesicht.

Fazit: Für meine Verhältnisse ist die deutliche Annäherung an gitarrendominierten Thrash Metal mit „The Odyssey“ gelungen, nur befürchte ich, dass der Stilbruch besonders den Gelegenheitsfans übel aufstoßen dürfte (Hardcore-Fans wie ich sind hingegen Wachs in den Händen der Jungens ;-)). Objektiv betrachtet enthält das Album nur einen echten Schwachpunkt, der aufgrund seiner geringen Länge auch kaum ins Gewicht fällt. Die restlichen Songs, allen voran die drei Longtracks, zünden mehr oder weniger früh, aber dafür auch gewaltig. Also definitiv ein hochklassiges Album; dem Vergleich mit „The Divine Wings of Tragedy“ oder „V – The New Mythology Suite“ hält es zwar nicht stand, da es weder die Klassikerdichte des ersteren noch die Komplettheit des letzteren bietet, aber die restlichen Symphony X-Langrillen lässt es alle hinter sich

Wertung: 9 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

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