Review Tenhi – Kauan

Trolle, Elfen und andere Fabelwesen sind gemeinhin recht scheue Gesellen, die sich üblicherweise selten in menschliche Gesellschaft wagen. Hier und da soll es aber doch vorkommen, dass das eine oder andere Exemplar aus den dichten finnischen Wäldern herausgestolpert und sich in ein Tonstudio verirrt. Zwar finden sich in der Musik TENHIs (das finnische Wort für Seher) keinerlei Parallelen zur Mythen- und Sagenwelt. Vielmehr sind die Texte als Tribut an die Schönheit der Natur ihrer finnischen Heimat zu verstehen, aber dennoch mag der Vergleich so abwegig nicht sein, denn selbst im Musikerland Suomi ist es nicht alltäglich, dass man eine solche Perle entdeckt.

Zwei Adjektive, die die Musik TENHIs kennzeichnen seien der Wichtigkeit halber direkt zu Beginn erwähnt. Minimalistisch ist das eine, denn selbst das verhältnismäßig schnelle „Revontulet“ (Northern Lights) kommt mit recht wenig Instrumenteneinsatz und gänzlich ohne Text aus und erzählt dennoch in düsteren Bildern von dichten Wäldern und plätschernden Bächen, die in einen der 187.888 Seen, an dessen schilfigem Rand ein einsames Ruderboot liegt, münden. Flöte, Piano, Violine, akustische Gitarren, dezentes Schlagzeug und ein an vielen Stellen kaum mehr als gehauchter Gesang sind für die minimalistische Umsetzung des Konzepts ebenso wichtig wie für das Träumerische, welches das zweite Standbein darstellt. Eine musikalische Aufforderung, mit offenen Augen davon zu schweifen und sich ganz in einer Welt zu verlieren, die man in dieser Form wohl nie betreten wird.

Es fällt auf der anderen Seite allerdings schwer, den Fokus auf einzelne Songs zu lenken, wenn man dem einzelnen Lied die Homogenität des Ganzen gegenüberstellt. Dennoch sei ein Versuch gewagt. Das eröffnende „Näkin Laulu“ (The Chant Of Näkki) ist ein Paradebeispiel für den Minimalismus. Gerade einmal acht Zeilen Text sind für ein siebenminütiges Hörerlebnis notwendig, wobei eine geradezu als eingängig zu bezeichnende Akustikgitarre natürlich einen riesigen Teil beiträgt. Schön auch, dass der Bassgitarre soviel Platz eingeräumt wird, zwischendurch führt der Viersaiter praktisch im Alleingang durch den Song und er tut es mit Bravour. Dann übernimmt wieder das Piano und lässt eine knisternde Atmosphäre entstehen, in die ein nach einer unverhinderlichen Steigerung wieder das Thema einbricht. Das Ergebnis ist ein unheimlich natürliches Stück Musik, in dem man die Tropfen praktisch plätschern hört, wie es wohl nur Friedrich Smetana bei seinem zugegebenermaßen unvergleichlichen Stück Heimatliebe „Vltava“ (Die Moldau) geschafft hat.

Wer es statt verträumt lieber intensiver mag, hört bei „Huonen“ (Morrow) rein, welches im Mittelpart einen absoluten Gänsehautschweißausbruchsmoment parat hält. Auch wer des Finnischen nicht mächtig ist – ich wage die kühne Prognose, dass dies die Mehrzahl sein könnte – kann sich spätestens nach zwei Durchläufen nicht mehr entziehen und singt aus inbrünstiger Kehle „Sarasteen Koitaella, Taivaanlaki Ylle Kumartum“ (Ambience Of Looming Light Bends Over). Leider wird diese wundervolle Stelle nur einmal dargeboten, aber auch der sich anschließende und das Lied beendende Akustikgitarrenpart kann sich wahrlich hören lassen. Das fixe „Revontulet“ wurde bereits angesprochen und obwohl jedes der acht Lieder eine eigene Erwähnung verdient hätte, möchte ich nur noch zu „Hallavedet“ (The Glacial Waters) ein paar Worte verlieren, denn wenn man überhaupt ein Highlight benennen müsste, würde die Wahl wohl auf diesen Song fallen. Hier wird das Konzept TENHIs bereits so gut wie perfektioniert (wir sprechen wohl gemerkt von einem Debütalbum!). Es ist einfach wunderbar, wie sich viele individuelle Teile zu einem alles überragenden Ganzen verbinden: Violinenklänge, Flötenmelodien, Akustikgitarren, sich-sehnender Gesang, Stimmung, Atmosphäre, Bildersprache – hier stimmt einfach alles.

Ja, es ist irgendwie schade, dass Trolle und Elfen nur so selten ihre heimischen Gefilde verlassen, denn solche Werke, die einen adhoc den Alltag vergessen lassen, hätte man auch gerne öfter. Auch wenn die Gefahr bestände, dass sich diese stimmungsvolle Musik irgendwann abnutzt, möchte man doch regelmäßig damit bedient werden, um im stillen Kämmerlein seine ganz persönliche Reise in die Urwälder der finnischen Weiten anzutreten. Einzig das etwas langatmige, aber keinesfalls langweilige Klavierstück „Suoto“ (Duft) am Ende von „Kauan“ sorgt für ein ganz kleines bisschen Missstimmung. Zwar ist das Lied nicht schlecht, passt aber irgendwie nicht zum Rest, da ihm bei allem Schwermut etwas die Leichtigkeit der anderen Lieder fehlt. TENHI spielen Volksmusik, aber es ist eine Volksmusik fernab von künstlerischen Schwerverbrechern wie DJ Ötzi, Micky Krause oder Hinz und Kunz. Ja, Finne müsste man sein. Wer einen Blick über den Tellerrand werfen möchte, fängt am Besten hier an.

Wertung: 9 / 10

Publiziert am von Jan Müller

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