Review Tool – Fear Inoculum

Wir schreiben das Jahr 2019. 13 Jahre sind seit dem letzten TOOL-Album vergangen. 13 Jahre, in denen sich eine komplett neue Generation von jungen Metalhörern entwickelt hat. Eine Generation, die sich nicht mehr bewusst an das letzte Release der legendären Band um Maynard James Keenan, „10.000 Days“, erinnern kann – weil sie damals noch so jung war, dass Metal und Rock, besser gesagt: Musik im allgemeinen, höchstens eine untergeordnete Rolle im Leben gespielt hat. Und die sich wundert, dass es da draußen immer noch Menschen gibt, die trotz der langen Zeit ernsthaft daran geglaubt hat, dass ein neues Album kommen wird – irgendwann. Aber was lange währt, wird endlich gut – oder vielleicht auch nicht?

Der neue Longplayer hört auf den Namen „Fear Inoculum“ und kann – wenig überraschend – mit einigen Superlativen aufwarten: rund 80 Minuten Musik, verteilt auf sieben Songs (von denen der Kürzeste knapp über 10 Minuten lang ist – wenn man vom fünfminütigen Instrumental „Chocolate Chip Trip“, mehr virtuos-schräge Noise-Eskapade als ein klassischer TOOL-Song, einmal absieht). Auch das Packaging der bis auf weiteres nur als CD (oder Download) erhältlichen Platte will neue Maßstäbe setzen: eine Art Digibook mit einem integrierten, wiederaufladbaren 4“-HD-Bildschirm (der exklusives Video-Footage wiedergibt) inklusive 2-Watt-Lautsprecher und einem 36-seitigen Booklet.

Und die Musik? In einem Wort: Komplex. Man kann davon ausgehen, dass TOOL auf „Fear Inoculum“ nichts, aber auch gar nichts dem Zufall überlassen haben. Die Band ist ihrem Perfektionismus treu geblieben und hat sich auch nicht neu erfunden. Im Gegensatz zu A Perfect Circle mit ihrem letztjährigen „Eat The Elephant“, welches sich nicht zuletzt durch den vermehrten Einsatz von Tasteninstrumenten massiv von den beiden ersten Longplayern der Band unterscheidet.

Der Opener und Titeltrack „Fear Inoculum“ bietet im wesentlichen alle Merkmale, die einen TOOL-Song auszeichnen – wirkt allerdings auf den ersten Blick ein wenig unspektakulär, was aber auch am fehlenden Zusammenhang liegt. Wie auch schon bei den letzten beiden Platten „Lateralus“ und „10.000 Days“ entfalten die Stücke ihre Magie vor allem im Albumkontext. So ist der erste Track dramaturgisch betrachtet auch eine Art Einleitung für das Album. „Pneuma“ zeigt sich da schon vielseitiger, startet verhalten und gipfelt in einem klassischen TOOL-Gitarrenriffgewitter höchster Güte – und unterstreicht so eine der großen Stärken der Band: die wenig vorhersehbare und quasi immer spannende sowie äußerst dynamische Arrangementarbeit. Ohne Frage einer der Höhepunkte der Platte.

Mit „Invincible“ und „Descending“ folgen zwei Nummern, die die Band bereits mehrfach live präsentiert hat. Und in denen sich TOOL selbst zitieren, was der Qualität allerdings keinen Abbruch tut: Der Moog-artige Synthesizer im letzten Drittel von letztgenanntem Song erinnert ohne Frage an „Reflection“ („Lateralus“), während der Schlusspart von „Invincible“ auf einer Rhythmusfigur aufbaut, die den ersten Takten von „Jambi“ auf „10.000 Days“ ähnelt. Trotzdem beides großartige Songs. Das eher balladeske „Culling Voices“ stellt so etwas wie eine Atempause für den Zuhörer dar, gefolgt von eingangs erwähntem, tendenziell etwas anstrengenderem „Chocolate Chip Trip“. Mit dem beinahe 16 Minuten langem Mammutsong „7empest“, definitiv eines der Highlights (sowohl der Platte, als auch im musikalischen Schaffen von Adam Jones bzw. Tool insgesamt – der Song ist wirklich Wahnsinn!), endet „Fear Inoculum“ schließlich.

Man hört im Prinzip ab der ersten Sekunde, wer hier am Werke ist, so charakteristisch ist der Sound der Band: sei es das mit Delay und Reverb versetzte Bassspiel von Justin Chancellor, das ausufernde, akzentuierte Drumming von Danny Carey oder Adam Jones‘ facettenreiche Gitarrenriffs und effektbeladenen Gitarrensoli. Dazu kommt der wohldosierte Einsatz von Percussionelementen oder elektronischen Spielereien in Form von Synthesizern oder sogar einem Vocoder („Invincible“). Jedes Detail, jede Note, befindet sich exakt an der Stelle im Arrangement, wo es oder sie hingehört. Über allem thront Maynard James Keenans charismatische und unnachahmliche Stimme, hochemotional und gesangstechnisch perfekt umgesetzt – auch wenn Ausbrüche in Form von geschrieenen Passagen wohl endgültig der Vergangenheit angehören. Die Aggression der ersten Alben ist zunehmend atmosphärischen und progressiven Strukturen gewichen – was aber sehr cool ist und nicht zu Lasten der zum Teil wirklich großartigen Melodien geht.

Was bleibt unterm Strich? TOOL knüpfen schon irgendwie an die Entwicklung, die spätestens auf „Lateralus“ begann und mit „10.000 Days“ fortgesetzt wurde, an – beinahe so, als ob keine 13, sondern nur drei oder vier Jahre vergangen wären. Verantwortlich hierfür ist neben dem Songwriting sicherlich auch die charakteristische tontechnische Arbeit von Joe Barresi, der auch „10.000 Days“ aufgenommen und gemischt hat. Das Klangbild ist ausgesprochen ausgewogen und transparent, sprichwörtlich kristallklar: Man hört jedes noch so leise Detail. Es gibt aber auch merkliche Parallelen zu einer weiteren Arbeit Barresis: Isis‘ letzter Output „Wavering Radiant“ (auf dem Adam Jones als Gastmusiker vertreten war) ist in Sachen Atmosphäre, Spielweise, Produktion und Arrangements über weite Strecken mehr als vergleichbar, zumal Jeff Caxides Basssound mit Sicherheit massiv von Chancellor beeinflusst ist. Kein Wunder, waren beide Bands doch schon gemeinsam auf Tour.

Wie es mit dem Langzeitspaßfaktor aussieht, wird sich zeigen: TOOL-Alben sind tendenziell „Grower“ und werden mit jedem Durchlauf besser. Es braucht Zeit, die komplexen Strukturen und Details vollständig zu verarbeiten und „Fear Inoculum“ in seiner Gänze zu erfassen (das gilt übrigens auch für die gewohnt kryptischen Lyrics) – vielleicht wird deshalb die Bewertung in diesem Review in einigen Monaten noch minimal nach oben oder unten korrigiert werden. Was aber fehlt, ist dieser eine Übersong, der bisher auf jeder TOOL-Platte zu finden war – „Forty Six & 2“, „Schism“ oder „Vicarious“ lassen grüßen. Trotzdem ist „Fear Inoculum“ um Längen besser als ein Großteil der Veröffentlichungen der Alternative-Metal-Szene in den letzten 13 Jahren und wird in den Bestenlisten des Jahres 2019 sicherlich seinen (verdienten) Platz finden – zumal man auch berücksichtigen sollte, dass die Erwartungshaltung von Seiten der Fans an das Album nach der langen Zeit so unendlich groß ist, dass es verdammt schwierig sein dürfte, ihr gerecht zu werden. Und auch die Frage offen ist, wie sehr man sich selbst in den vielen Jahren als musikhörender Mensch verändert hat.

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Wertung: 9 / 10

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