Review Dream Theater – Awake

Es gibt Platten, da beginnt der Genuss schon, bevor die Stereoanlage mit der CD gefüttert wird. Der dritte Longplayer von Dream Theater, dem Genie-Quintett aus Long Island, NY, ist eins dieser seltenen Exemplare. Bereits beim Betrachten des Coverartworks ist man sich der Qualität des neuen Outputs gewiss. Nicht nur ist das Bild unglaublich gut gezeichnet und das Motiv absolut faszinierend, obendrein finden sich dort auch noch einige geschickte Hinweise auf die Songtitel. Form und Inhalt auf höchstem Niveau. Ein echtes Kunstwerk eben.
Da dies hier aber keine Bildinterpretation, sondern ein Review eines Metal-Albums werden soll und der Inhalt an sich der Verpackung qualitativ in nichts nachsteht, wende ich mich nun den gleichermaßen großartigen Songs zu.

Insgesamt ist dieses Werk unter allen Dream Theater-Alben (von denen ja praktisch jedes Einzelne mehr oder weniger ein Meisterwerk ist…) für mich das Beste. Nach dem extrem geschliffenen und glatten 92er-Album „Images and Words“, mit dem sich die Band einem breiten Publikum eröffnete, werden hier wieder etwas kompliziertere und experimentellere und vor allem härtere Saiten aufgezogen. Der Sound ist, bedingt durch härteres und tieferes Riffing von Gitarren-Maestro John Petrucci (der hier zum ersten Mal seine berühmte siebensaitige Gitarre einsetzt) und dominantere Keyboards von Kevin Moore etwas „technischer“ als zuletzt, was allerdings der dichten Atmosphäre, die „Images and Words“ so auszeichnete, kaum einen Abbruch tut. Mike Portnoy bearbeitet sein Drumset so virtuos wie eh und je, und vor allem James LaBrie, der im Jahre 1994 meiner Meinung nach den Höhepunkt seines Schaffens erreichte, trägt mit seinen leicht jazzig angehauchten Vocals, die etwas aggressiver und weniger Falsett-lastig als auf dem Vorgänger daherkommen, viel zur Stimmung bei. Natürlich kommt auch hier wieder das beliebte Stilmittel „Sprach- und Film-Samples“ zum Einsatz, unter anderem sind diesmal Jon Voight, Meryl Streep und Jeremy Irons vertreten.
Die Songs, die in der Länge zwischen dreieinhalb und elf Minuten variieren, überzeugen den geneigten Hörer durch äußerst transparente, starke Produktion, hundertprozentige technische Perfektion und Vielseitigkeit, komplexe Strukturen und abartig geile Soli (ich verweise bei dieser Gelegenheit mal dezent auf „Voices“). Zur beeindruckenden Qualität kommt die für Dream Theater später übliche Quantität, denn das Album kann mit einer Spieldauer von mächtigen 75 Minuten aufwarten, während denen ein kritisches Ohr jedoch vergeblich nach Durchhängern jeder Art sucht.

Ein Album dieses Kalibers hat er selbstverständlich verdient, Song für Song durchgekaut zu werden. „6:00“ eröffnet das musikalische Erlebnis standesgemäß, zuerst zaghaft mit einer kleinen Schlagzeug- und Keyboard-Session. Überhaupt wird hier viel soliert, was dem Song eine interessante Jamsession-Note verleiht. Der Track verkommt jedoch nicht zur puren Zurschaustellung der Fertigkeiten der Bandmitglieder, sondern groovt dank kraftvollem Riffing, spärlich eingesetztem, treibendem Doppelbass und einiger ruhiger Intermezzi geradezu höllisch. Ein toller Opener!
Weiter geht es mit „Caught in a Web“, einem für DT-Verhältnisse schon fast schnörkellosen Stück Metal, das jedoch durch Kevin Moores sphärische Keyboard-Untermalung einiges an Stimmung gewinnt.
Der nächste Track, „Innocence Faded“, ist eine schöne, relaxte Dream Theater-Style-Rock-Halbballade mit leichten Anleihen an die Prog Rock-Hymnen der späten Siebziger. Der Song gefällt mir allerdings deutlich besser als „Another Day“ oder „Surrounded“ vom letzten Album, da er am Ende an Härte gewinnt und dadurch nicht ganz so halbgar wirkt wie besagte Tracks.

Nach diesen drei gemäßigten Tracks (Länge durchgehend unter 6 Minuten) sollte sich der Hörer auf das erste Hammer-Hörerlebnis vorbereiten, denn der „A Mind beside itself“-Zyklus, bestehend aus „Erotomania“, „Voices“ und der Singleauskopplung „The Silent Man“, steht nun an. Ersterer Teil ist ein reines Instrumental, und zwar nicht irgendeines, sondern das beste und facettenreichste seiner Art! Eingebunden in ein Riff, das sozusagen als Leitmotiv fungiert und zu dem im Laufe der 6 Minuten und 45 Sekunden immer wieder zurückgekehrt wird, enthält dieser Song so ziemlich alles, was Herz und Ohr des DT-Süchtigen begehren: Rasende Doppelbass-Attacken, gruftig tiefe bis schwindelerregend hohe Gitarrenläufe, und immer wieder eingestreute Akustik-Passagen zum Luftholen. Der darauffolgende Mittelteil der Trilogie, „Voices“, steht dem in nichts nach. Eingeleitet von einem sehr ruhigen Intro, wird kurze Zeit später durch scharfes Riffing der Grundtenor des Songs angegeben. Zusätzlich wurde selten so scharf und dennoch gekonnt zwischen aggressiven und sehr relaxten Passagen umgeschaltet, passend dazu wechselt James LaBrie zwischen wütendem Gekreische und geradezu zärtlichem Flüsterton. Außerdem beherbergt das Stück etwa bei 8:00 mit das extremste Gitarrensolo, das ich je gehört habe. Hören und staunen! Das nachfolgende, gefühlvolle Akustik-Stück „The Silent Man“ beendet den Zyklus etwas unspektakulär, aber gelungen.

Als ob die Ohren des Hörers nicht schon genug verwöhnt worden wären, wartet als nächstes noch „The Mirror / Lie“, ein Doppeltrack (ein Song, aufgeteilt in 2 CD-Tracks), der extrem düster und hart daherkommt und vielleicht gerade deswegen mein Lieblingsstück von Dream Theater darstellt. Auf jeden Fall erwarten den Hörer hier 13 Minuten voll von Thrash-artigem Riffing, jedoch fehlen auch hier die für „Awake“ so typischen Drum / Keyboard / Bass only-Zwischenspiele nicht. Frontmann James LaBrie überzeugt besonders bei „Lie“ durch ständige Wechsel zwischen harten Metal-Vocals und relaxteren Tönen, fast schon Sprechgesang.
Nach dieser halben Stunde Ansturm auf das Trommelfell bekommt selbiges während „Lifting Shadows off a Dream“ Gelegenheit, sich zu erholen. Wie zuvor schon bei „Innocence Faded“ handelt es sich hierbei um eine Ballade, ist allerdings noch etwas softer als Erstere. James LaBrie bringt den sehr verträumten Text äußerst gefühlvoll rüber, und insgesamt erinnert mich der Song aus irgendeinem Grund etwas an die früheren Genesis.
Nach diesem kleinen Boxenstopp geht der Klangsturm mit „Scarred“ in die Endphase über. Wie schon zuvor bei „Voices“ gibt es bei diesem überlangen Werk eine musikalische Schatzkiste voll von atmosphärischen, groovy Sounds, perfekt zurechtgeschnittenen Tempowechseln und abwechslungsreichem Gesang, wobei bei „Scarred“ zusätzlich noch der unsagbar coole Jazz-Anfang besonders hervorzuheben wäre.

Das Album wird in etwas ungewöhnlicher Weise abgeschlossen durch das recht bekannte Stück „Space-Dye Vest“. Kevin Moore zelebriert hier unglücklicherweise seinen Abschied, da er sich sofort nach den Aufnahmen vom Rest der Band trennte. Ein Jammer, da die Jungs bis dato keinen Keyboarder finden konnten, der auch nur ansatzweise einen Stich gegen Kevin machen konnte. Wie auch immer, Kevin selbst ist der Star in seinem eigenen Abgesang, da dieses Lied bis gut zur Hälfte ausschließlich von sehr schwermütigen Klavierklängen getragen wird. Erst danach hebt sich die Stimmung etwas durch eine zurückhaltende Instrumentierung von John Petrucci und Mike Portnoy, die jedoch Kevin Moore nicht dabei stören, sich seinen eigenen Nachruf zusammenzuspielen. Insgesamt ein etwas unorthodoxes, wenn auch geniales letztes Stück, das einen ganz eigenen Schlussstrich unter ein nicht minder gelungenes Album setzt.

Fazit: Genau wie Metallicas „…and Justice for all“ ist Dream Theaters „Awake“ ein wenig zwischen den bekannteren Werken der jeweiligen Bands untergegangen. Beide Alben stellen vielleicht die vorläufigen technischen und musikalischen Höhepunkte ihrer Macher dar, was in gesteigertem Anspruch resultierte, der wiederum nicht beim ganzen Publikum wohlwollend aufgenommen wurde. Anders kann man sich den „Randgruppen“-Status, den beide Alben heute inne haben, kaum erklären.
Gerade bei Dream Theaters „Awake“ kann man schon fast von „verkannt“ sprechen, da dieses Album einige Perlen aufweist, die sich vor Krachern wie „Pull me under“ oder „Metropolis Pt.1“ nicht zu verstecken brauchen, allerdings unter Fans höchstens einen Bruchteil der Popularität besagter Stücke genießen und auch nur äußerst selten ihren Weg in die Live-Setlist der Band finden. Doch sei´s drum, dies schmälert nicht die Genialität dieses Albums, welches einige Klassiker für die Ewigkeit bietet und gänzlich ohne Ausfallerscheinungen auskommt. Als Abschluss dieses Liebesbriefes von einem Review gibt es nur eine logische Konsequenz…

Wertung: 10 / 10

Geschrieben am 31. März 2013 von Metal1.info

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