Review Evanescence – The Open Door

EVANESCENCE danach. Nach dem weltweiten Durchbruch und Erfolg mit „Fallen“, nach grandiosen Chartplatzierungen und höchsten CD-Verkäufen, nach dem großen Hype. Und vor allem nach dem Ausstieg von Gründungsmitglied und Songschreiber Ben Moody sowie einer kompletten durchgewürfelten Bandbesetzung, die man mit der von vor dreieinhalb Jahren beim zweiten Album gar nicht mehr vergleichen kann. Wie es ohne Ben Moody weitergehen soll fragten sich wohl viele Anhänger der Band, Amy Lee und ihre Instrumentalfraktion wollen hier beweisen, dass es sehr wohl geht – und noch besser als bisher. Mit Moody gingen auch nahezu alle New Metal-Elemente in der Musik, dafür bekommt man teils komplexere und experimentellere Stücke geboten. Hört sich nicht nach einem Sicherheitsalbum an, kann es nach den Besetzungswechseln auch kaum sein, und ist es auch nicht.

„The Open Door“ beginnt mit recht typischem Gothic Rock. „Sweet Sacrifice“ leitet die mit 54 Minuten recht großzügig bestückte Scheibe mit einem rockigem Riff und klagendem Gesang Amys ein. Drei Minuten lang geht man hier recht direkt zur Sache, klingt auch noch am ehesten nach dem „Fallen“-Material. Die bereits vorab veröffentlichte Single „Call Me When Your’re Sober“ ist dann erstmal etwas ruhiger, „Weight Of The World“ ist direkt im Anschluss daran aber für Bandverhältnisse überraschend düster und hart geworden. Hier muss nun zum ersten mal darauf hingewiesen werden, dass Amy Lee ihren Gesang und ihre Stimme seit der letzten Veröffentlichung nochmal merklich gebessert hat. Auch variiert sie ihre Stimme nun wesentlich häufiger, singt höher und härter als jemals zuvor. Meiner Meinung nach ist Amy Lee mit „The Open Door“ die aktuell beste Sängerin ihres Fachs. Die ersten drei Lieder zeigen nun auch schon sehr schön, dass die Richtung weg vom neumetallischen hin zum rockigen geht. Auch Rapeinlagen wie noch bei „Bring Me To Life“ sucht man hier zum Glück vergebens.

Eine der großen EVANESCENCE-Stärken waren ja schon immer die Balladen. Mit „Lithium“ liefern sie ihre bisher beste ab, da können weder „Anywhere“ noch „My Immortal“ mithalten. „Lithium“ beginnt schon großartig mit einem tiefen Einatmen und schon beinahe gehauchtem Gesang von Amy (dem man eine gewisse Erotik nicht absprechen kann). Ab dem Zeitpunkt, an dem sich zu den Pianoklängen noch die Gitarren gesellen und Amy auch mal lauter wird, steigert sich dieses Stück immer und immer weiter und wird zu einem Paradebeispiel für traurige und einfühlsame gothisch angehauchte Musik. In die selbe Richtung gehen noch „Like You“ und „The Only One“, zwar immer noch sehr gut, kommen sie aber dennoch nicht an „Lithium“ heran. Letzteres wird auch die zweite Single des Albums werden.

Experimente gibt es dann ja auch noch. Die „Snow White Queen“ beginnt sehr ungewöhnlich mit elektronisch verzerrten Klängen und einer überaus tief singenden Amy, hier schwingt gar ein bisschen Wahnsinn mit, bis nach der Hälfte der Umbruch zum Gothic Rock-Knaller erfolgt. Wieder elektronisch fängt auch „Lacrymosa“ an, das sich mit Streicherklängen, dezent-morbidem Keyboard und geheimnisvoll wirkenden Chören zu einer überaus dramatischen Nummer entwickelt. Beim wiederum recht elektronisch gehaltenem „Lose Control“ kommt auch die akustische Erotik wieder zum Zuge, neben der instrumentalen Kulisse und dem Gesang sorgen im Hintergrund sirenenartige Chöre für Stimmung. Amy meinte übrigens zu diesem Lied, dass sie sich vorstellen kann, das die Hörer dazu Sex haben könnten. Wäre wohl ein recht kurioses Bild bei einer eventuellen Liveumsetzung.

Stilistisch wird hier also ein recht breites Spektrum abgedeckt, das die Einordnung der Scheibe nicht allzu einfach macht. Und auch wenn die Abwechslung hier groß geschrieben wird, verliert man nie einen roten Faden, der alles zu einem Ganzen zusammenfügt. Zwei rockige und „harte“ Stücke finden sich mit „Cloud Nine“ und „All That I’m Living For“ sogar noch, die sich zum Eröffnungstrio gesellen. Am Ende steht mit „Good Enough“ sogar noch ein musikalisches, atmosphärisches Kleinod, das von Streicher- und Pianoklängen dominiert wird. Einzig „Your Star“ will nicht recht überzeugen, scheint es sich doch zwischen Ballade und rockiger Nummer nicht entscheiden zu können und ist für eine Halbballade und auch allgemein irgendwie zu vollgestopft mit Ideen. Schlecht ist es deswegen nicht, aber auch alles andere als ein Höhepunkt.Höhepunkte hat „The Open Door“ dafür jede Menge andere. Mit einer Spielzeit von über 50 Minuten bietet die Scheibe auch eine beachtliche Länge, die dazu auch noch (fast) durchgehend mit hochklassigem Material gefüllt ist. Mit dem vergleichsweise eintönigem „Fallen“ ist das 2006er Werk kaum mehr zu vergleichen, sind EVANESCENCE jetzt wie bereits erwähnt komplexer, härter, düsterer, experimentierfreudiger und wohl auch ein Stück weniger massenkompatibel. Amy vermittelt mit ihrem verbessertem Gesang Trauer, Verbitterung, Wut und viele weitere Gefühle, die man auf „Fallen“ noch angestrengt suchen musste oder gar nicht finden konnte.

„EVANESCENCE danach“ sind erwachsener, vielschichtiger und einfach besser als bisher. Auch wer mit „Fallen“ wenig oder nur teilweise etwas anfangen konnte, darf gerne ein Ohr an die offene Tür halten und diesem neuen Werk lauschen. Umgekehrt könnten Die-Hard-Fans des 2003er Erfolgsalbums möglicherweise Probleme mit dem komplizierter zu hörenden „The Open Door“ bekommen. Wenns beim ersten mal nicht klappt – macht nichts, weiter versuchen. Denn auch ein Einfach-so-nebenbei-Album ist das hier nur noch ganz bedingt.

Wertung: 8.5 / 10

Geschrieben am 6. April 2013 von Metal1.info

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