Review Sieges Even – Sophisticated

Keine mir bekannte Band, mit der Ausnahme von Dream Theater, hat im Laufe ihrer ersten drei Studioalben einen derartigen musikalischen Entwicklungsprozess durchlaufen wie der nicht mehr existente, ewige Geheimtipp des Progressive Metal, Sieges Even aus München.
Während ihr 1988er-Debütalbum „Life Cycle“ ein gelungenes, aber beinahe dreist vorlagentreues Progressive Thrash Metal-Album im Stile der amerikanischen Genreväter Watchtower war, schlug man auf dem zwei Jahre später erschienenen Nachfolgealbum „Steps“ erstmals etwas relaxtere Töne an. Die Thrash-Merkmale blieben erhalten, doch hielten hier die teilweise jazzigen, teilweise mittelalterlich anmutenden Klangmuster, die charakteristisch für Sieges Even werden sollten, Einzug. Diese Entwicklung wurde auf ihrem 91er-Meisterstück „A Sense of Change“ vollendet, die luftigen, soften und bei aller Ohrgefälligkeit immer noch überaus komplexen und verfrickelten Songstrukturen brachten der Band den ein oder anderen Vergleich mit der Prog-Legende Rush ein.
Im Jahre 1995, satte vier Jahre später, stand endlich der Release des vierten Longplayers „Sophisticated“ an.

Vier Jahre sind eine lange Zeit, und im Hause Sieges Even hatte sich einiges getan. Nicht nur von Stammgitarrist Markus Steffen trennte man sich, leider setzte man auch den fantastischen Sänger Jogi Kaiser, der dem Vorgängeralbum mit seiner traumhaften Stimme den letzten Schliff gegeben hatte, an die Luft. Lediglich die kongeniale Rhythmus-Crew, bestehend aus Oliver Holzwarth am Bass (heute Blind Guardian) und seinem Bruder Alex an den Drums (heute Rhapsody), blieb bestehen. Als Neuverpflichtungen holte man sich Wolfgang Zenk (Gitarre) und Greg Keller (Gesang) an Bord, auf einen Keyboarder verzichtete man weiterhin, lediglich kurze Synthieleads und –samples sind gelegentlich zu hören.
Die Veränderung beschränkte sich nicht nur auf den personellen Bereich, auch musikalisch krempelten sich Sieges Even beinahe völlig um, Oliver Holzwarth sprach später von einer „Wiedergeburt“. Nach dem eher ruhigen „A Sense of Change“ findet auf „Sophisticated“ wieder eine Art Rückkehr zu den Wurzeln statt, wenn auch anders als erwartet. Man bekommt keinen Prog-Thrash vorgesetzt, sondern vielmehr eine interessante Mixtur aus kräftigem und sogar recht schnellem Metal und abgefahrenem, verspieltem Jazz!
Die Band spielt wesentlich kompakter auf als zuletzt; die Songs wurden auf durchschnittlich 5 Minuten reduziert, kommen zumeist recht unmittelbar auf den Punkt und folgen größtenteils grob dem Strophe-Refrain-Schema, von den irrsinnig komplexen Melodiewechseln und Strukturen des Vorgängers hat man sich verabschiedet. Das war´s allerdings bereits mit den Zugeständnissen an die Hörerfreundlichkeit, nach wie vor gibt´s heftige Breaks und minutenlanges, völlig beklopptes, aber spaßiges Gefrickel aller Art. Besonders Bassist Oliver lässt so richtig die Sau raus, wobei sich auch Wolfgang Zenk an der Gitarre nicht gerade bedeckt hält. Dies ist allerdings auch mehr oder weniger der Sinn dieser Platte, denn das Songwriting ist wie gesagt nicht sonderlich komplex. Man soll sich einfach an den instrumentalen Eskapaden der Musiker erfreuen.

Dies bringt mich auch bereits zum größten Manko des Albums: Gesang und Lyrics. Während die übrigen Mitglieder alle wirkliche Könner sind, fällt Sänger Greg Keller stark ab. An seiner durchaus charismatischen und ausdrucksstarken Stimme liegt es nicht, vielmehr an seiner Art zu singen, die besonders in den höheren Tonlagen arg überdreht und etwas nervig wirkt. Außerdem sucht sein deutscher Akzent selbst unter Deutschmetallern seinesgleichen, und auch sonst tut ihm der Vergleich mit seinem Vorgänger Jogi Kaiser keinen Gefallen.
Die feinen, anspruchsvollen Texte der älteren Sieges Even-Alben scheinen ebenfalls vom Erdboden verschluckt worden zu sein, da man mit Markus Steffen nicht nur einen großartigen Gitarristen, sondern auch einen noch besseren Texter verloren hat; auf „Sophisticated“ gibt es teilweise ziemlich flache Stücke „deutschen“ Liedguts zu hören, deren Wortwahl und Grammatik vor teutonischem Charme oft nur so sprühen. Ich sage nur „Actuality is my world“…

Doch genug der Kritik, mal sehen, was die Songs, als einzelne Teile betrachtet, hergeben. Leider erweist sich dies als schweres Unterfangen, da die Stücke derart abgefahren (obwohl nachvollziehbar) sind, dass man kaum etwas hervorzuheben vermag, aber man tut, was man kann…
Der flotte Opener „Reporter“ legt gleich ziemlich halsbrecherisch los und kommt auch während seiner Spielzeit von viereinhalb Minuten nicht wirklich zur Ruhe, von der kurzen Bass-Passage abgesehen gibt sich das Stück durch und durch metallisch und geht so genreuntypisch sofort ins Blut.
Nach diesem gelungenen Start geht es mit „Trouble Talker“ in ähnlicher Manier weiter, wobei hier allerdings einige ruhige Passagen das unglaublich tighte Spiel der Band auflockern. Der Refrain ist eher schwach, dafür entschädigt die tolle, zwischen sanft und mitreißend schwankende Solosektion. Achtet übrigens mal auf die ersten Akkorde des Stücks, die werdet Ihr noch des öfteren zu hören bekommen. ;-)
Das gut sechseinhalbminütige, im oberen Midtempo anzusiedelnde „Middle Course“ ist teilweise schön relaxt, teilweise abartig verfrickelt und teilweise unerhört groovy, besonders die Passage ab 4:15 ist richtig gut! Mit Sicherheit einer der stärkeren Songs der Platte.

Das nachfolgende, erstaunlich kurze Titelstück beginnt mit einem ultraschrägen Bassintro und schlägt auch danach gerne äußerst abgefahrene Töne an. Text und Gesang sind erneut etwas überdreht, aber irgendwie witzig und passen zum Appeal der Band wie die Faust auf´s Auge.
Mit „Dreamer“ folgt das meiner Meinung nach klar stärkste Stück des Albums. Ausnahmsweise läuft hier alles in geordneten Bahnen ab, die Melodie ist besonders im Refrain einfach herrlich (auch wenn ich das Gefühl nicht loswerde, sie schon einmal irgendwo gehört zu haben), selbst der Gesang von Greg Keller stimmt. Dazu gibt´s spannend inszenierte Übergänge zwischen abwechslungsreichen Soli. Toll!
„As the World moves on“, das nicht einmal vier Minuten dauert, nach den genial harten Riffs zu Beginn geht´s ähnlich turbulent zur Sache wie im Opener oder im Titelstück, ansonsten lässt sich wenig dazu sagen. Ab hier beginnt das Album, erste Ermüdungserscheinung zu zeigen, ein paar langsamere, weniger hektische Stücke hätten sicherlich Abhilfe geschaffen. Übrigens beschleicht mich der leise Verdacht, den Beginn des Songs zu kennen… ;-)

Das gut siebenminütige „Wintertime“ bildet ein kleines Zwischenhoch. Trotz krasser Tempowechsel und wahnsinnigem Gefrickel überanstrengt der Song nicht, Verdienst vieler Lufthol-Passagen, schöner, sphärischer Keyboardsounds und einiger wirklich toller Melodiebögen. Nicht sehr eingängig, aber sehr gelungen.
Die letzten vier Stücke gehen mehr oder weniger spurlos am Hörer vorbei und bieten leider kaum noch nennenswerte Details. „Water the Barren Tree“ wartet immerhin mit einem starken, schnellen Drumsolo von Alex Holzwarth auf, während das schleppende „War“, dessen erste Riffs fast ein bisschen nach Rage klingen, durch den heftigsten deutschen Akzent aller Zeiten in der gesprochenen Passage zumindest erheitert.
Das sehr kurze „Fatal“ ist leider bis auf Olivers tollen Bass wenig erwähnenswert, der lockere Rausschmeißer „The more the less“ (wieder verweise ich auf den Beginn ;-)) zieht mit seinen witzigen Blechbläser-Keyboards doch noch einen durchaus gelungenen Schlussstrich unter das Album.
Dennoch ist man nach einer knappen Stunde hochverdichtetem Jazz-Fusion Metal, der größtenteils im Midtempo oder oberhalb anzusiedeln ist, recht geplättet…

Fazit: Im Grunde kann man wohlwollend anmerken, dass sich alle Stücke mehr oder weniger auf einem konstant hohen Niveau ohne wirkliche Aussetzer befinden, andererseits ist diese Homogenität der größte Schwachpunkt des Albums, da sich abgesehen vom schönen „Dreamer“ auch keine Ausreißer nach oben ausmachen lassen. Sieges Even setzen sich mit ihrem vierten Longplayer „Sophisticated“ zwischen alle Stühle und fabrizieren Prog der etwas anderen Art, der zwar einerseits enorm eingängig ist und mit einigen schönen Melodien aufwarten kann, aber andererseits aufgrund des haarsträubenden Gefrickels und des hohen Anteils an Instrumentalpassagen größtenteils viel zu sperrig ist, um einen wirklich bleibenden Eindruck hinterlassen zu können. Quasi Prog für zwischendurch, der für wirkliche Proggies zu simpel gestrickt und für Metaller zu abgefahren sein dürfte.

Wertung: 7.5 / 10

Geschrieben am 5. April 2013 von Metal1.info

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert