Review Sylvan – Posthumous Silence

Die Hamburger Artrockformation SYLVAN hat sich in den letzten Jahren bei Szenekennern mit Alben wie „Encounters“, „Artificial Paradise“ und „X-Rayed“ einen hervorragenden Namen erspielt. Ursprünglich als lupenreine Neoprogband mit überdeutlicher Marillion-Schlagseite gestartet – als Beleg höre man nur mal das überaus durchwachsene Debüt „Deliverance“ – entwickelten die fünf Musiker Stück für Stück ihren völlig eigenen Stil. Mit klassischem Neoprog hat die Musik der Band heute nichts mehr zu tun. Ich bevorzuge die Bezeichnung „New Artrock“. Ähnlich wie Riverside verarbeiten SYLVAN in ihrer Musik die unterschiedlichsten Zutaten: Neben symphonischem Prog und metallischen Bestandteilen gibt es auch sehr klassische und alternativ-rockige Momente in den Songs der Band. So haben sich SYLVAN einen einzigartigen Stilcocktail gemixt, der vorallem von der markanten Stimme Marco Glühmanns zusammengehalten wird. Er drückt der Band mit seinem Gesang ihre vollständige Eigenständigkeit auf. Mit dem aktuellen Album „Posthumous Silence“ liegt nun das erste Konzeptalbum der Bandgeschichte vor. Auf ihrem nun schon fünften Album erzählen die Jungs in insgesamt fünfzehn Tracks eine siebzigminütige Geschichte. Nun ist es ja so, dass viele Progbands bei dem Vorsatz, ein Konzeptalbum aufzunehmen, zur Überambitionierung neigen. Wie sieht es damit bei SYLVAN aus?

Zunächst einmal muss gesagt werden, dass „Posthumous Silence“ den vom Vorgänger „X-Rayed“ eingeführten Stil weiterführt. Wer also dieses Werk mochte, wird mit dem neuen Album absolut nichts falsch machen. Es ist damit aber auch das erste Album, auf dem SYLVAN uns zumindest musikalisch nichts grundlegend Neues bieten. Vielmehr hat man sich hier insbesondere auf das textliche Konzept konzentriert und Detailverbesserungen am Sound vorgenommen. So finden wir auf „Posthumous Silence“ zum ersten Mal einen richtigen Chor und ein echtes Cello. Diese beiden neuen Zutaten ergänzen den bestehenden Sound hervorragend, bringen zusätzliche Tiefe in das Material. Insbesondere das Cello setzt ein paar wunderschöne Akzente. Musikhörern, die SYLVAN bisher noch nicht kennen, kann man nicht ohne Weiteres erklären, was sie hier erwartet. Dennoch will ich den Versuch unternehmen, mich der musikalischen Welt der Hamburger ansatzweise zu näheren. Der Sound der Band ist zunächst sehr vielschichtig, dabei aber jederzeit eingängig. Gefühlvolle, beinahe klassische Passagen, die vor allem von dem schönen Piano von Volker Söhl getragen werden, stehen atmosphärischen, innigen Momenten gegenüber, die meist durch leise Gitarrenlicks von Kay Söhl gebildet werden. Daneben gibt es aber auch viele Songs, die eine härtere, eher rohe Grundausrichtung haben und vom Sound her sehr an Alternative Rock erinnern. Wie für Progrock üblich, fehlen natürlich auch nicht die ausführlichen Instrumentalabfahrten. Flotte, treibende Keyboardsoli gibt es ebenso wie traumhaft schöne, sphärische Gitarrensoli, die in der Tat wohl das einzige Überbleibsel aus der Neoprog-Zeit der Band sind. Gelegentlich wird man auch etwas psychedelisch. Auf dem neuen Album findet man zudem zum ersten Mal verstärkt Sprachsamples, die die Story und Atmosphäre des Albums unterstützen. Das eigentliche Aushängeschild der Band ist aber Sänger Marco Glühmann, der durch seinen stets enorm emotionalen Gesang, der ständig zwischen tiefster Trauer, Hoffnung und heftigsten Wutausbrüchen hin und her springt, der Band einen absolut individuellen Sound verpasst. Es ist seine Stimme, sein Klang, der für mich in erster Linie SYLVAN ausmacht. Insgesamt ist der Sound der Band sehr modern, hier wird wirklich noch „progressive“, also fortschrittliche Musik gemacht.

Die Kunst ist jetzt natürlich, all die oben genannten Einflüsse zu einem sinnvollen, mitreißenden Ganzen zusammenzufügen. Und darin ist die Band besonders gut! Insbesondere auf „Posthumous Silence“ geben sich die verschiedenen Elemente und Stile gegenseitig die Hand, da es sich hier im Grunde um ein durchgängiges Stück Musik handelt. In den siebzig Minuten werden etliche musikalische Motive wieder aufgegriffen, Querbezüge in den einzelnen Songs untereinander hergestellt, die den Konzeptcharakter zusätzlich stärken. Den musikalischen Spannungsbogen über einen solch langen Zeitraum aufrecht zu erhalten und keine langweiligen oder überflüssigen Passagen einzubauen ist sehr schwer, aber die fünf Hamburger schaffen es!

Die Lyrics, die komplett von Marco Glühmann stammen, sind erfreulicherweise interpretationsoffen ausgefallen. Zwar kann man die Handlung problemlos nachvollziehen, dennoch bleiben in vielen Momenten schöne Spielräume, die zu Mutmaßungen einladen. Die Texte sind wunderbar metaphorisch und einfühlsam, wirken irgendwie elegant. Das passt hervorragend zum emotionalen Charakter der Musik. Zur Story an sich sei nicht allzu viel verraten: Es geht um einen alten Mann, dessen Tochter vor kurzem Selbstmord begangen hat, weil sie mit ihrem Leben und der Welt nicht mehr klargekommen ist. Ihr Vater sitzt nun niedergeschlagen und tieftrauernd in einem dunklen Zimmer und ließt die einzige Hinterlassenschaft seiner Tochter. Ihr Tagebuch, dass sie eigentlich nur für ihn geschrieben hat. Obwohl in den Texten nicht wirklich viel Handlung abläuft, sind doch eine ganze Menge Gedanken darin wiederzufinden. Die Gedanken der Tochter sind sicherlich alles andere als an der Nase herbeigezogen, ich denke es gibt einige Jugendliche, die ähnliche Probleme mit ihrem Leben haben oder sich die Fragen stellen, die die Tochter beschäftigen. Bei Lesen der Texte und Hören der dazugehörigen Musik wird man jedenfalls sehr zum Nachdenken über unsere Gesellschaft und die moderne Welt gebracht. Jedem Menschen, der sich für diese Thematik interessiert, sei dieses Album allein schon deshalb empfohlen.

Was „Posthumous Silence“ aber letztendlich die Note verleiht, die dort unten steht, ist zum einen die Tatsache, dass hier Text und Musik eine dermaßen eng gewebte Einheit eingehen, wie schon lange nicht mehr – seit Marillions „Brave“ ist mir kein Album bekannt, dass Story, Atmosphäre und Musik so perfekt vereint. Zum anderen wird der Hörer, der sich auf das Album einlässt, zwangsläufig auch auf emotionaler Ebene angesprochen. Man kann diese Musik nicht einfach hören, ohne sich Gedanken zu machen. Die Lyrics, der Gesang, die Gitarrensoli – all das reißt den Hörer wirklich mit, er erlebt während der kompletten Spieldauer am eigenen Leibe das, was auch die Protagonisten der Story erleben und fühlen. Musik zu schreiben, die so nahe geht und den Hörer so gefangen nimmt, ist eine ganz große Leistung. Zudem muss bedacht werden, dass SYLVAN hier alles alleine auf die Beine stellen. Die Produktion von Schlagzeuger Matthias Harder ist hervorragend: Sie ist klar und trotzdem dynamisch, druckvoll und äußerst dicht. Jedes Instrument kann zu jeder Zeit problemlos verfolgt werden, so dass auch die Bassläufe von Sebastian Harnack nicht untergehen. Solch schöne Bassarbeit hört man auch nicht alle Tage! Da auch das 24-seitige (!!!) Booklet in Eigenregie gestaltet wurde und zudem noch absolut fantastisch aussieht, ist „Posthumous Silence“ in der Tat ein ziemlich perfektes Werk. Ein Album, dass den Begriff „Werk“ tatsächlich verdient.

Seit „Encouters“ sind SYLVAN für mich an der Spitze der deutschen Progrock-Bewegung unterwegs. Mit „Posthumous Silence“ haben sie sich nun selbst übertroffen. Ich stelle mir ernsthaft die Frage, wie die Band ein solches Gesamtkunstwerk noch übertreffen will. Dabei wissen Fans der Band doch eigentlich schon, was als Nächstes kommt: Nach dieser Progrock-Vollbedienung wird in diesem Jahr mit „Presets“ gleich noch ein SYLVAN-Album erscheinen. Mit diesem will man dann den Angriff auf die Charts und das Radio wagen. Es wird kompaktere Songs enthalten und den Progrock links liegen lassen. Warten wir also ab, was da auf uns zukommt. Auf jeden Fall haben sich die Jungs jede Menge vorgenommen.

Wer wirklich frischen Artrock hören will, wer nicht davor zurückschreckt, dass Musik nicht nur Spaß macht, sondern auch emotional mitreißt, der sollte sich dieses Meisterwerk unbedingt in den Plattenschrank stellen. Ich habe lange überlegt, ob ich es wirklich tun soll, aber es ist soweit. Neben „The Art Of Navigating By The Stars“ von SIEGES EVEN ist „Posthumous Silence“ nun also das zweite Album, welches von mir die volle Punktzahl bekommt. Auch wenn das Jahr noch jung ist, glaube ich kaum, dass dieses Jahr noch viele Scheiben erscheinen werden, die SYLVAN davon abhalten, mein persönliches Album des Jahres zu stellen. Fantastisch!

Wertung: 10 / 10

Publiziert am von

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert