Review Sylvan – Sceneries

Sowohl Doppelalben als auch Longtracks sind im Progressive Rock nicht gerade eine Seltenheit. Die Hamburger Artrocker SYLVAN treiben diese prototypischen Merkmale des Genres jetzt allerdings auf die Spitze: Ihr neues Album „Sceneries“ ist ein 90-minütiges Mammutwerk und besteht aus fünf langen Epen, von denen das kürzeste knapp unter 15 Minuten ins Ziel läuft. Selbstverständlich ist die Platte bei solchen Ausmaßen konzeptionell angelegt, auch wenn sie keine zusammenhängende Geschichte wie einst „Posthumous Silence“ erzählt. Sie beschäftigt sich – wie so viele Veröffentlichungen im Progrock – mit den Höhen und Tiefen des Lebens und dem menschlichen Streben nach Glück. Haben wir es beim achten Album der Band also mit purem musikalischem Größenwahn, verpackt in lyrisch abgegriffene Themen, zu tun?

Ganz so einfach ist das im Falle von „Sceneries“ nicht zu beantworten. SYLVAN stecken nämlich in einer kleinen Zwickmühle: Nach ihrem Vorzeigewerk „Posthumous Silence“ (2006) leistete sich die Gruppe mit dem ruhig-poppigen „Presets“ (2007) und dem zähen, gekünstelten Nachfolger „Force Of Gravity“ (2009) zwei eher schwache Alben, die zwar keineswegs schlecht waren, aber doch deutlich im Schatten der durchweg sehr guten Vorgänger standen. Insofern hat der neue Doppeldecker ganz klar die Aufgabe, Presse und Fans wieder positiv zu stimmen – ganz sicher auch mit den schon erwähnten äußeren Werten. Selbstbewusst behauptet die Band dazu passend im Promotext, dass „Sceneries“ alle Tugenden in sich vereint, die einen echten SYLVAN-Klassiker ausmachen.

Nun waren die Hamburger nie die experimentellsten Musiker dieser Erde; sie haben ihren Stil immer behutsam erweitert, nur Nuancen verändert oder kleine Schritte zur Seite gewagt, z. B. in Form von klitzekleinen Punk-Einsprengseln auf „Force Of Gravity“. Insofern findet auch auf „Sceneries“ wie erwartet keine musikalische Revolution statt. Die Band tut schlicht, was sie am besten kann: Grandiose, unendlich epische Artrock-Großtaten mit jeder Menge Pathos vortragen. Dafür sorgt in erster Linie wieder einmal der fantastische Gesang von Marco Glühmann, der scheinbar genug davon hat, die Extreme auszuloten und einfach wieder Gänsehaut erregend singt – Schluss ist mit den exaltierten und aufgesetzten Versuchen, unfassbar zu leiden oder untergründig wütend zu klingen, die „Force Of Gravity“ zu einer sehr anstrengenden Scheibe machten.

Gitarrist Jan Petersen schafft es auf seiner zweiten Studio-CD mit der Band endlich, sich aus dem Schatten seines Vorgängers Kay Söhl zu befreien und seinen eigenen Stil zu entfalten. Zu diesem gehören nicht nur unendlich stimmungsvolle, zum Abheben schöne Gitarrensoli (zu hören z. B. in Part II von „Share The World With Me“), sondern auch ein nur gelegentlich grazil im Hintergrund auftauchender erdiger Rock-Sound, der neu im SYLVAN-Klangkosmos ist. Auch sein Akustikgitarren-Spiel im Mittelteil von „The Words You Hide“ weiß zu gefallen. Es macht diesen Part gemeinsam mit dem geschmackvollen Bass-Spiel von Sebastian Harnack und dem unglaublich eingängigen Refrain zu einem absoluten, wenn auch nicht ganz unkitschigen Ohrwurm mit Airplay-Qualitäten.

Im Allgemeinen ist „Sceneries“, vor allem im Vergleich zur bandeigenen Messlate „Posthumous Silence“, nicht ganz so kraftvoll und rockig ausgefallen. Die aggressiven Ausbrüche kommen beim sympathischen Fünfer anno 2012 vielleicht etwas zu kurz; Freunde epischer, getragener Klänge sollten hingegen absolut auf ihre Kosten kommen.

Bei aller absichtlichen Beschränkung auf ruhigere Momente mit viel wunderbar klingendem Piano von Volker Söhl und streichelndem Schlagzeug von Matthias Harder, kann man der Combo dennoch keinen Vorwurf machen: Über die gesamten 90 Minuten fesselt die Platte den Hörer und lässt ihn tief ins SYLVAN-Universum versinken. Gerade das ist es, was alle hervorragenden CDs der Band ausgezeichnet hat. Insofern darf auch „Sceneries“ ohne Wenn und Aber zu den Top-Veröffentlichungen der deutschen Artrocker gezählt werden – auch wenn es nicht ganz die atmosphärische Dichte des Klassikers „Posthumous Silence“ erreicht, weniger spontan klingt als „Artificial Paradise“ und nicht so aufbrausend daherkommt wie „X-Rayed“. Kalkül ist der Todesstoß für viele Bands – SYLVAN hat es gerettet, genauso wie letztes Jahr Dream Theater. Neoprog- und Artrock-Fans notieren sich diese Platte bitte dringend auf ihrem Einkaufszettel, hier liegt ein Kandidat für das Album des Jahres vor!

Anspieltipp: Nur in Gänze hören!

Wertung: 9 / 10

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