Too Young to Die – Too Old to Rock ’n‘ Roll?

Wird man irgendwann zu alt, um auf Festivals zu fahren?

Diese Frage dürfte sich jeder schon gestellt haben, der seine Sommer am liebsten in einem Zelt auf einem Stück Weideland irgendwo im Nirgendwo verbringt, nur weil irgendwer die Idee hatte, genau dorthin die angesagtesten Bands der Metal-Szene zu lotsen.

Die Nachbarn mit dem Aggregat und dem Kühlschrank, mit Wohnwagen und Vorzelt, mit dem Profi-Pavillon, bei dem man nicht erst einmal 28 quasi gleich aussehende Stangen nach A, B, C, D, E und F sortieren muss? Waren früher alle Spießer.

Und irgendwann gehört man selbst dazu. Oder fährt eben nicht mehr, weil das Bier daheim auch bei Sonnenschein kalt ist und man bei Regen nicht überlegen muss, ob man die schlammigen Schuhe draußen klamm werden lässt oder sie quasi mit ins Bett nimmt.

Die Idee

Wir waren auch mal eine solche Gang aus, wie wir dachten, ewig jungen Typen, die über die alten Spießer gelacht und sich darauf, dass sie nie so werden wollen, das nächste lauwarme Dosenbier aufgemacht haben. Das ist jetzt zehn Jahre her.

Die Reihen der Festivalfahrer dünnten über die Jahre aus, die einen wurden auf der heimischen Couch-Garnitur zu Festival-Veteranen, die anderen auf den Wiesen dieser Welt zu mit allen Wassern gewaschenen Festival-Haudegen.

Im Winter haben wir uns wiedergetroffen, haben in Erinnerungen geschwelgt und uns gefragt: Sind wir zu alt geworden, um noch Freude daran zu haben, mit warmem Bier und Dosenravioli zwischen Abfall und Kuhfladen zu campen? Sind wir „Too Old to Rock ’n‘ Roll: Too Young to Die“, um mit Jethro Tull zu sprechen?

Noch vor dem ersten (kalten) Bier des Abends (das wäre uns früher auch nicht passiert …) stand die Entscheidung fest: Wir stellen uns der Herausforderung und fahren nochmal zusammen los. Für manche wird es das erste Festival in fast zehn Jahren sein. Für andere das zweite Festival innerhalb von zwei Wochen. Die Kluft könnte kaum größer sein. Die Vorfreude auch nicht.

Die Planung

War die Festivalorganisation früher Thema langer und bierseliger Kneipen-Abende, verläuft die Planung des Revival-Trips heute ausschließlich online … und das überaus schleppend. Man ist eben immer im Stress. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: Während die einen erst zwei Tage vor der Abreise von einem anderen Festival zurückkommen, stecken die anderen über beide Ohren im Berufsstress. Die Zeit der großen Ferien ist schließlich lange schon vorbei. Auch die der Semesterferien.

Das traditionelle gemeinsame Einkaufen von Bier, Dosenravioli, Bier und Bier entfällt deshalb ebenfalls. Stattdessen tigert jeder selbst los, um sich auszurüsten. Der Einkaufskorb füllt sich entsprechend anders – vornehmlich mit Waren, für die man vor zehn Jahren schallendes Gelächter und „a Gnackfotzn“ kassiert hätte. Die, wenn man ehrlich ist, aus kulinarischer Sicht aber durchaus ihre Vorzüge haben.

Couscous-Salat, Gemüse, Obst, Bio-Wurst und Luxus-Konserven der Edel-Metzgerei („Leberspätzlesuppe“ und „Saures Lüngerl“) haben den traditionellen Ravioli-Dosen (immerhin „mit Fleisch in der Sauce“!) geschmacklich ohne Frage etwas voraus. Und eigentlich spricht auch wenig dagegen, sich auf einem Festival nicht auf Harz-IV-Niveau zu ernähren. Auf die Idee gekommen wären wir früher dennoch nicht.

Die Dosenravioli wandern natürlich trotzdem bei allen in den Einkaufskorb. Aus Nostalgie, und – natürlich – ironisch.

Die Anfahrt

Abfahrtstag. Fast pünktlich um 8:00 Uhr fahren drei Autos am Treffpunkt vor. Darin sitzen sechs Leute. Einer kommt nach, „Arbeit, sorry, wisst schon. Ging nicht anders. Ließ sich nichts machen.“ Vier Autos also, für sieben Personen. Früher war man froh, wenn zwei aus der Gruppe ihre Eltern überreden konnten, die Familienkutsche den Risiken, die Fahranfänger und Festival-Urlaub mit sich bringen, auszusetzen. Manchmal blieb nur die unbequeme Anreise mit dem Zug.

Die Vorteile der völlig unverhältnismäßigen Motorisierung liegen auf der Hand: Statt von vorne bis hinten eingebaut und mit Gepäck auf dem Schoß unterwegs zu sein, bietet sich Raum für Luxus. Zwei Pavillons? Klar. Kühltruhe, Tisch, Stühle? Logisch. Und auf die fünf Paletten Dosenbier das Rennrad. Warum denn nicht?

Das Festival

Das Rennrad sorgt zunächst für Verwirrung beim Sicherheitspersonal. Erlaubt? Verboten? Noch nie gesehen. Wofür denn das? „Vielleicht muss ich mal raus hier aus dem ganzen Wahnsinn.“ „Kann ich verstehen.“ Das Rennrad darf passieren.

Manche Dinge verlernt man nicht: Schwimmen, Fahrradfahren, Pavillon aufbauen. Entsprechend fix steht das Camp. Der Strohhut (nicht ironisch) wird aufgesetzt, die Higtech-Isomatte (selbstaufblasend) ausgepackt und auf dem Gaskocher werden sorgsam und auf kleiner Flamme Weißwürste warm gemacht. Dekadent? Vielleicht. Vielleicht, wie vieles, auch nur gelebte Lebenserfahrung. Die Festival-Frischlinge von nebenan sitzen derweil hinter ihrem Auto in der prallen Sonne.

Mit fortschreitendem Bierpegel wird es geselliger – die Themen? Rechtsstreitigkeiten um die vermietete Wohnung (ätzend!), Langzeitbeziehungen und die Zeit danach (ätzend-ätzend) und natürlich: Arbeit (ihr wisst schon). Dieser Stress. Immer. „Sogar mein Chef sagt, ich arbeite zu viel. Apropos – ich muss noch kurz im Büro anrufen – meint ihr, die merken, dass ich betrunken bin?“

Nicht zu vergessen: Hochzeiten. Wer war in diesem Jahr auf wie vielen? „Achja. Ich muss übrigens Samstag schon weg, mein Cousin heiratet am Sonntag.“ Das Rennrad wird derweil schon auf den Hesselberg gefahren. Mal raus hier.

Auf dem Grill liegt die dritte Runde Fleisch (hat was, so ’ne Kühltruhe) – Bands spielen auch. Irgendwo da vorne. Kennt man aber schon. „Hab ich schon zwölfmal gesehen. Für die gehe ich da jetzt sicher nicht vor.“ Es ist schließlich zu kalt / warm / nass. Oder das Bier am Camp ist gerade einmal zufällig mal kalt. Oder: Noch nie von gehört. Können ja die Festival-Frischlinge von nebenan dann berichten, die haben sie sicher alle gesehen.

Irgendwann mittendrin reisen die ersten wieder ab. „Vielleicht wird man eben doch zu alt für den Scheiß“. Der Rest steht schließlich doch noch im Regen vor der Bühne. Es ist nass, kalt und, wenn man ehrlich ist, ziemlich ungemütlich. Wir haben trotzdem Spaß. Nicht zuletzt, weil alles genauso ist wie damals. Und irgendwie hilft das dabei, sich wieder jung zu fühlen: Vielleicht bleibt man eben doch immer der gleiche Verrückte?

Nach der letzten Band geht es dann aber trotzdem noch in der Nacht nach Hause. Länger als nötig will dann doch keiner mehr im Zelt schlafen – und irgendwie ists ja auch vernünftiger. Wegen Stau und Heimreiseverkehr und Regenerationstag. Spießig oder erfahren? Alt oder altersweise? Schwer zu sagen. Man hat halt viel gelernt in zehn Jahren Festival-Urlaub. Aber jünger ist man wohl auch nicht geworden.

Was bleibt …

Die frühzeitig Abgereisten ließen noch während des Festivals via WhatsApp wissen: „Haben uns daheim aus Prinzip erstmal ’ne Dose Ravioli aufgemacht.“ Meine stehen mittlerweile im Küchenschrank. Wie lange sie da stehen werden? Ziemlich genau ein Jahr, nehme ich an. Dann nehme ich sie wohl wieder mit auf ein Stück Weideland, irgendwo im Nirgendwo. Ironisch, versteht sich, damit ich mich wieder wie mit 15 fühlen kann. Denn, Hand aufs Herz: Wer isst denn mit über 30 noch Dosenravioli?

Fotos: Moritz Grütz (außer: „Dosenravioli auf Teller“ (wer isst denn sowas zu Hause?!) – WikiCommons)

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5 Kommentare zu “Too Young to Die – Too Old to Rock ’n‘ Roll?

  1. Aber …. aber…. Ich mag doch die Dosenravioli !
    Meine übrig geblieben Dosen werde ich irgendwann im Laufe des Jahres essen.
    Dabei an all die erlebten Festivals zurückdenken und mich auf das nächste freuen.

    Ansonsten schöner Artikel. ;)
    Ja, wir werden älter und gemütlicher, aber wir haben immernoch unseren Spass.

    Der „Was-mach-ich-hier-eigentlich“-Gedanke gehört doch irgendwie auch zum Festival-Fahren dazu. Und solange er mich nicht permanent auf dem Festival begleitet, wird sicherlich noch ein weiteres folgen!

  2. Sehr schön aufgeschrieben! Und so wahnsinnig treffend. Genau das gleiche erlebe ich auch jedes Jahr – samt morgendlichem Aufwachen mit Kater und voller Blase im kochenden Zelt, zum Dixie-Klo schlurfen, weil dann doch mehr voll ist als nur die Blase, mit anderen ungut riechenden Typen bei 35 Grad im Schatten auf den nächsten Kloplatz warten und sich die Frage stellen: Warum genau fahr ich eigentlich nochmal mit den Jungs auf Festivals wo ich doch genausogut mit meiner gutriechenden Freundin zuhause eine schöne Fahrradtour machen könnte mit Kuchen-Einkehr auf dem Weg?

    Aber spätestens nach acht warmen Dosenbieren und ner Flasche gutem Hamburger Helbing mit den Jungs dann die Erkenntnis bei Mayhems „Funeral Fog“ auf der Bühne: Ach ja, deswegen fahr ich auf Festivals – nächstes Jahr wieder!

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