Interview mit Jan Listing von Chaosbay

Eine empathische Gesellschaft, die viele Probleme durch gegenseitige Rücksichtnahme und Kommunikation lösen konnte und friedlich zusammenlebt – so stellen sich CHAOSBAY die Welt im Jahr „2222“ vor, um die es im gleichnamigen Album geht. Dystopische Zukunftsvisionen gibt es schließlich genug, findet Sänger, Gitarrist und Songschreiber Jan Listing. Wir sprechen mit ihm über das tiefgehende Konzept, Genregrenzen und Zeitreisen.

Chaosbay Logo

Hallo Jan, vielen Dank dass du dir die Zeit für dieses Interview nimmst. „2222“ ist nun schon einige Wochen draußen. Wie waren die Reaktionen darauf und was hat sich seither bei euch getan?
Hallo und sehr gern! Die Reaktionen waren super und haben uns wirklich sehr gefreut! Wir haben tolle Nachrichten, Rezensionen und Feedback erhalten. Außerdem konnten wir endlich mal eine ordentliche Release-Show feiern, mit den Fans und dem ganzen Team zusammen, das hat uns einen ordentlichen Push gegeben und wir sind unglaublich stolz auf das Ergebnis: das Album. Seit der Veröffentlichung haben wir einige Festivals gespielt und warten nun sehnsüchtig auf unsere Headliner-Tour, die am 30.09. endlich startet (das Interview wurde kurz vor Tourstart geführt, Anm. d. Red.). Wir können es kaum erwarten, das Album endlich live zu präsentieren.

Chaosbay Tour 2022

Eure Zukunftsvision ist sehr optimistisch und zeichnet ein utopisches Bild der Menschheit in 200 Jahren. Wie entstand die Idee zu dieser Art „Anti-Apokalypse“?
Wir sind als Gesellschaft gerade in einer Phase, in der es nicht leichtfällt, an das Gute im Menschen und an eine friedliche Zukunft zu glauben. Die Power, weiter für uns und unsere Nachkommen an einer besseren Welt zu arbeiten, haben wir aber nur, wenn wir auch eine Vision von einer besseren Welt vor Augen haben und darauf hinarbeiten können. Dazu soll dieses Album ein Anreiz sein. Außerdem hatte ich Lust, die Spielfreude, unsere Leidenschaft und die Lebensfreude, die unsere Musik für uns ausmacht, auch einmal textlich auszudrücken. Es gibt meiner Meinung nach schon genug dystopische Metal-Alben, dem wollten wir mal etwas Erfrischendes entgegensetzen.

Kannst du „eure“ Welt im Jahr 2222 umschreiben? Was machen die Menschen in eurer Geschichte in 200 Jahren besser als heute?
Grundsätzlich haben die Menschen der Zukunft mehr Empathie, verstehen die Positionen und Probleme ihres Gegenübers und können sich daher besser in die andere Person hineinversetzen und kommunizieren. Allein das löst einen Großteil aller Konflikte. Außerdem gibt es die Vorstellung von persönlichem Besitz nicht mehr in dem Sinne. In der Zukunft wird mehr Wert auf das Zusammenleben und den Frieden gelegt, das eigene Fortkommen und der eigene Wohlstand stehen nicht im Vordergrund. Zusätzlich tun wissenschaftliche Entwicklungen ihr Übriges. Auch das erleichtert das Lösen vieler Probleme ungemein. Und da glaube ich dran.

Chaosbay 2222Würdest du selbst in dieser perfekten Welt leben wollen oder würde dir etwas Entscheidendes fehlen?
Klar würde ich in dieser Welt leben wollen. Zumindest würde es mich interessieren. Allerdings weiß ich auch, dass dann wiederum andere Probleme auftauchen würden, die damit einhergehen. Das ist ein ewiger Kreislauf und gleichzeitig das Dilemma, in dem wir uns befinden. Wir sollten immer nach Perfektion streben, auch wenn wir wissen, dass wir es wohl nie erreichen werden.

Manche Stellen des Albums deuten darauf hin, dass eine perfekte Welt doch nicht so lebenswert ist, wie man erst denkt, so etwa die Zeilen „When all the big tasks are done / when we have reached eternity / then our will to live has gone“ in „Home“. Liegt es in der menschlichen Natur, immer Herausforderungen und unperfekte, verbesserungswürdige Zustände zu brauchen?
Absolut. Ich denke, es ist die Grundmotivation des Menschen, sich immer weiterzuentwickeln und die Menschheit wird nie an den Punkt kommen, wo sie sagt „So, fertig“. Das macht das Menschsein aber auch so spannend. Anstrengend ja, aber es wird nie langweilig. Man ist eben nie fertig.

Wie geht ihr beim Song und Lyricwriting an ein Konzeptalbum ran? Stehen ganz am Anfang die Grundzüge der Story und kommt dann die Musik?
In unserem Musikstil entsteht meist erst die Musik als Grundstimmung. Während also die ersten Songideen geschrieben wurden, kam mir parallel die Idee zum Text. Das entwickelt sich im Laufe des Prozesses dann weiter und wächst sozusagen dann zusammen. Aber nein, es gab nicht erst ein Gedicht, der dann vertont wurde, sondern die Musik steht erstmal im Zentrum.

Im Vergleich zu „Asylum“ ist „2222“ meiner Meinung nach härter, poppiger als auch Djent-lastiger und weniger progressiv, wenngleich die progressiven Elemente natürlich weiter eine Hauptrolle einnehmen. Ist das eine geplante Entwicklung oder hängt das mit dem Konzept des Albums zusammen?
Das ist eine Entwicklung, die sich mit unserem persönlichen Geschmack entwickelt hat. Ich denke, wir alle haben viel Potenzial in den eher melodie-orientierten Songs gesehen und wollten diese Linie mal komplett weiterfahren und uns darauf fokussieren. Wir haben ja schon zwei recht progressive Alben und einige EPs gemacht, sodass wir mal Lust hatten, die andere Seite des CHAOSBAY-Sounds auszureizen. Aber das ist trotzdem automatisch passiert. Wir haben uns nicht hingesetzt und gesagt: So, beim nächsten Album weniger Prog.

Chaosbay Asylum AlbumcoverWie siehst du selbst eure persönliche und musikalische Entwicklung seit „Asylum“, was hat sich bei euch während der Pandemie getan?
Die Pandemie hatte natürlich den Nachteil – neben den vielen offensichtlichen Nachteilen -, dass wir keine Konzerte spielen und uns organisch als Band auf der Bühne entwickeln konnten. Der Vorteil war allerdings, dass die Welt ein Stück weit stillstand und wir nun fast zwei Jahre Zeit hatten, uns voll auf die Band zu konzentrieren, um ganz in Ruhe Videos, Alben und Content zu erstellen. Insofern haben wir die Zeit genutzt, als Band viel Material zu entwickeln, mit dem wir natürlich jetzt stark in die Welt rausgehen können. Musikalisch haben wir den „Kern“ von CHAOSBAY weiter gefunden und unseren Sound aus brutalen Riffs und eingängigen Hooks geschärft und wollen mehr als je zuvor diese Band groß machen und ziehen noch deutlich mehr als Gruppe an einem Strang als noch vor zwei Jahren.

Im Metalcore – wenn man euch da überhaupt wirklich einordnen kann – seid ihr aktuell eine der spannendsten Newcomerbands, die ich in letzter Zeit hören durfte. Euer Sound hat hohen Wiedererkennungswert und durch die verschiedenen Einflüsse, wie jazzigen Parts im ansonsten chaotisch anmutenden „Catch-22“, spacigen Momenten in „Avalon“ oder dem College-Rock-Vibe bei „Home“ präsentiert ihr euch sehr eigenständig. Ist es euer Ziel, einen einzigartigen und abwechslungsreichen Sound zu kreieren, der sich von anderen Bands abhebt?
Vielen Dank, das freut mich sehr zu hören! Klar, ich denke das ist das Ziel fast jeder Band. Unser Wiedererkennungswert hat sich in den letzten zwei Jahren auch nochmal herausgearbeitet und das finde ich toll! Obwohl ich uns bewusst nicht zu den klassischen „Wir lassen uns in keine Schublade stecken“-Sagern zählen möchte, weil Schubladen, „Szenen“ oder „Genres“ eigentlich immer eine tolle Community erzeugen und andere Bands im gleichen Stil immer eine Inspiration für die eigene Musik sein können. Einflüsse aus anderen Genres gibt es immer, aber ein Label oder eine Community für den Musikstil, zu dem man sich zugehörig gefühlt, hat auch etwas sehr Schönes und Familiäres.

Immer wieder tauchen sich wiederholende Themen und Lyrics auf, vor allem im abschließenden „New Age (Reprise)“, das einen schönen Bogen zum Anfang des Albums schlägt. Entstehen diese wiederkehrenden Themen während den Arbeiten oder sind diese von Beginn an geplant?
Es ist geplant, dass es passieren soll, einfach weil wir und unsere Fans diese Momente lieben. Aber klar, im Prozess entsteht das recht überraschend an einer Stelle, an der man merkt: „Moment, hier könnte dieses Thema mega passen!“

In „Home“ singst du ein wundervolles Duett mit Alexia Rodriguez von Eyes Set To Kill, zudem sind mit Jake Oni (Oni) und Mirza Radonjica (Siamese) zwei weitere tolle Gastsänger auf dem Album. Wie kam es zu den drei Gastbeiträgen und was ist im Allgemeinen das Reizvolle an solchen Features?
Wir hatten über verschiedene Ecken Kontakt zu den Bands und haben sie einfach gefragt. Wir waren sehr happy, überrascht und haben uns geehrt gefühlt, dass alle direkt ja gesagt haben. Das Spannende daran ist, dass man einfach neue Klangfarben im Album hat und die neuen Stimmen die Songs nochmal auf eine neue Ebene heben können. Außerdem macht der Community-Gedanke daran Spaß, man lernt neue Musiker*innen kennen, erreicht dadurch neue Hörer und macht mit neu gewonnenen Freunden tolle Songs. Einfach super!

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Wie wichtig ist es euch, mit eurer Musik bedeutsame Themen anzusprechen und Botschaften zu vermitteln, anstatt es sich mit leichten Themen einfacher zu machen?
Sehr wichtig. Es gibt genug wichtige Dinge zu sagen, die es wert sind, musikalisch ausgedrückt zu werden. Erst das macht Musik dann zeitlos und auch nach vielen Jahren noch bedeutend. Ich kann es mir nicht mehr anders vorstellen, zumindest für unsere Konzeptalben nicht. Die sind einfach dafür gemacht, eine längere und tiefere Geschichte zu erzählen.

Angesichts der aktuellen Probleme mit der Pandemie und ihren Auswirkungen, Krieg, Umweltkrisen, Rohstoffknappheiten und düsteren Aussichten wirkt die Welt von „2222“ erst recht utopisch. Glaubst du, dass sich viele der heutigen Probleme wirklich lösen lassen?
Ja, absolut. Jede neue Generation – und das merkt man jetzt schon – kann sich kognitiv, moralisch und viel schneller an neue Probleme anpassen, besser kommunizieren, verstaubte Werte hinterfragen und damit einfach empathischer sein. Wenn ich mir vorstelle, dass das so weitergeht, mache ich mir keine Sorgen. Es ist eine Frage der Zeit, aber Werte können sich schneller ändern, als man denkt und 200 Jahre sind echt eine lange Zeit, was das angeht. Ich glaube an das Gute im Menschen.

Chaosbay Bandfoto

Wenn du selbst als zeitreisender „Passenger“ eine andere Zeit in der Vergangenheit oder Zukunft bereisen könntest, wohin würde es dich verschlagen und warum?
Ich glaube, aus reinem Interesse würde ich gern mal die 70er und 80er Jahre erleben. Das muss einfach eine echt spaßige Zeit gewesen sein und den Vibe würde ich gern mal aufsaugen. Musikalisch und popkulturell sind da einfach so coole Sachen entstanden, die mich bis heute inspirieren. Aber nur kurz. (lacht) Ansonsten will ich natürlich gern mal 100 oder 200 Jahre in die Zukunft sehen, „ob mein Plan funktioniert hat“. (lacht)

Auf eurer Bandcamp-Seite bietet ihr „2222“ komplett zum Anhören an, es gibt nicht mal eine Kaufoption. Wieso habt ihr euch dafür entschieden und wie wichtig sind für euch physische Releases im Verhältnis zum digitalen Markt?
Es wird bald die Kaufoption geben! Das hat leider bürokratische Gründe, dass wir das für ein paar Wochen ausschalten mussten. Wir sind dran und ganz bald soll es wieder alles zu kaufen geben! Folgt uns am besten auf Bandcamp, dann informieren wir euch, wann es so weit ist!

Kommen wir zum Abschluss zu unserem traditionellen Brainstorming. Was fällt dir zu folgenden Begriffen zuerst ein…
Aktuelles Lieblingsalbum:
I Prevail – True Power.
Parkway Drive: Nicht meine Welt zurzeit, aber großartige Band!
Optimismus: Wichtig! Wir schaffen das!
Bestes Buch-/Film-/Serien-Universum: „Breaking Bad“, nach wie vor!
Etwas, das einen schlechten Tag besser macht: Ein Konzert natürlich!
CHAOSBAY in zehn Jahren: Noch immer zusammen, noch immer Freunde, noch immer großartige Live-Shows vor vielen Menschen auf der ganzen Welt! That’s the dream!

Nochmals vielen Dank für deine Zeit! Die letzten Worte gehören dir.
Ich danke dir und euch für das Interview! Und an alle Leser*innen/Hörer*innen: Danke, dass ihr Musik supportet, auf Konzerte geht, Merch kauft und das ganze Ding am Rollen haltet. Aktuell ist es schwerer als sonst, aber mit euch schaffen wir das. Danke, dass wir mit und durch euch das machen können, was uns am glücklichsten macht! Wir sehen uns auf Tour, wir freuen uns auf euch!

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Dieses Interview wurde per E-Mail geführt.
Zur besseren Lesbarkeit wurden Smilies ersetzt.

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