Interview mit Corie Emm von Die Plattenbossin

Corie Emm war viele Jahre in der Musikbranche tätig – nun hat sie mit „Die Plattenbossin“ ihren Debütroman veröffentlicht. Im Interview sprachen wir mit der Autorin über bizarre Starallüren, Sexismus in der Branche und die Causa Rammstein.

Du kommst eigentlich aus der Musikwelt – was hat dich bewegt, unter die Autorinnen zu gehen?
Als Autorin tätig zu werden ist tatsächlich ein Kindheitstraum von mir, den ich allerdings im Laufe meines Lebens ins Regal gepackt und vergessen hatte. Irgendwann, da war ich schon über 40, habe ich eine ganz alte Kassette gefunden, auf die ich mal so ein Frage-Antwort-Spiel aufgenommen hatte, das ich mit jemanden gespielt hatte, als ich 14 war oder so. Da wurde mir die Frage gestellt, die allen Kindern gestellt wird: Was willst du mal werden? Bei mir war die Antwort: Ich möchte Autorin werden. Als ich diese Kassette fand, dachte ich: „Wow, das habe ich komplett vergessen“.

Aber da hatte ich dann gleich so einen Mann im Ohr, der sagte, ja komm, du bist jetzt viel zu alt, lass das mal, du bist deinen Weg gegangen, du kannst das nicht, du hast keine Ausbildung in dem Metier, du hast das nicht studiert, du weißt gar nicht, wie das geht. Und das ratterte und ratterte, bis ich mit diesem Mann im Ohr einen kleinen Deal schloss und sagte, lass mich doch mal probieren: Ich schreibe einen Liebesroman. Obwohl ich überhaupt keine Liebesromane lese und das gar nicht mein Ding ist. Aber ich hatte eine etwas blöde und oberflächliche Meinung von Liebesromanen, die ich jetzt nicht mehr habe, weil ich jetzt weiß, was schreiben bedeutet. Jedenfalls dachte ich: Liebesromane, das ist ja so ein seichtes Genre, das schafft man wohl.

Und dann fing ich an, meinen Liebesroman zu schreiben und quälte mich jeden Tag damit herum. Es lief überhaupt nicht und ich kam nicht vorwärts und ich hatte eigentlich jeden Tag eine Krise. Eines Tages hatte ich mal wieder eine Schreibblockade und dachte mir, komm, du stellst dir jetzt den Wecker auf zwei Stunden und schreibst einfach mal runter, worauf du Bock hast, als Schreibübung. Und in dieser Schreibübung habe ich das ganze erste Kapitel der „Plattenbossin“ runtergeschrieben und mich dabei totgelacht … ich hatte so viel Spaß! Als der Wecker dann klingelte, dachte ich: Oh nein, jetzt muss ich zurück zu diesem Liebesroman. Bis mir klar wurde: Ey, du kannst doch machen, was du willst! So ist dann die „Plattenbossin“ geboren worden und so bin ich zu diesem Genre gekommen, in dem ich mich sehr wohl fühle, weil es satirisch, lustig, schräg und schrill ist.

„Ich finde, der macht es ganz, ganz toll, wie er
kritische Themen nimmt 
und in schrägen Humor verpackt.“

Hattest du dann in Sachen Literatur „Vorbilder“ oder gbe es Autor:innen aus diesem Genre, die dich geprägt haben?
Das Buch floss tatsächlich einfach so aus mir heraus, was mir selbst Spaß gemacht hat. Aber wenn du mich nach Vorbildern fragst, und auch, wenn ich meinen Roman jetzt so sehe, dann ist ein großes Vorbild tatsächlich Sacha Baron Cohen. Ich finde, der macht es ganz, ganz toll, wie er sehr kritische Themen nimmt und diese dann in einen so schrägen Humor verpackt. Das gibt mir als Zuschauerin die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob ich auf der reinen Entertainment-Schiene mitfahren und einfach nur krass ablachen will, oder ob ich mich zwischen den Zeilen mit kritischen Themen befassen will. Ich finde – oder ich hoffe –, dass mein Buch auch so angelegt ist, dass man diese Wahl hat zwischen reinem Entertainment oder, wenn man Bock hat, auch kritischen Themen.

Das finde ich das Spannende an deinem Buch, dass es eben einerseits diese „Fun-Ebene“ hat, die völlig ins Groteske abdriftet, man aber auch viel über das Musikbusiness erfährt. Lass uns hier gleich mal ins Buch einsteigen: Es kommen ja sehr viele verrückte Personen vor, die verrückte Dinge tun. Die Protagonistin Finja etwa schneidet bei allen CDs die Gesichter der Künstler aus den Artworks, um dem Personenkult entgegenzuwirken. Ausgedacht – oder praktizierst du das selbst?
So weit geht’s nicht. Das ist komplette Fantasie. Das soll einfach rüberbringen, wie Finja denkt. Finjas Herz schlägt ja wirklich für echte, authentische Musik und für die Kunst. Sie ist da auf einer sehr extremen Seite, auf der ich mich gar nicht sehe. Ich bin liberaler, was Musik angeht. Bei ihr ist ja wirklich Schwarz-Weiß-Denken, entweder gut oder schlecht. Sie steht voll auf die Kunst, Kommerz lehnt sie komplett ab. Das sollte einfach nochmal ihre Haltung verdeutlichen, dass sie das Musikstück und die Kunst dahinter sehen, beziehungsweise hören will – und nicht den Künstler oder den Star, der mit seinem Gesicht dafür steht.

„Wenn es ein Musikstück schafft, auch nur einer Person
eine gute Zeit zu verschaffen, hat es eine Daseinsberechtigung.“

Irgendwann fällt im Buch der Satz: „Wenn man scheiße verkauft, fällt es mit verstopfter Nase bedeutend leichter.“ Du hast selbst lange in der Musikbranche gearbeitet. Wie schwer ist es dir gefallen, ein Album oder einen Künstler zu promoten, mit dem du musikalisch gar nichts anfangen konntest?
Ich selbst bin da meiner anderen Figur Ben sehr ähnlich, der eine eher liberalere Haltung zur Musik einnimmt und auch zu Finja sagt: Hey, ich höre deine Kunstsachen genauso wie Ballermann-Hits. Ich habe ja auch mal bei Universal in der Abteilung „National Pop“ gearbeitet. Das ist die Abteilung, wo du Sachen promotest wie Wildecker Herzbuben, Oli.P oder Janett Biedermann, die jetzt nicht unbedingt meinem persönlichen Geschmack entsprechen. Aber meine Haltung zu Musik ist: Wenn es ein Musikstück schafft, auch nur einer Person eine gute Zeit zu verschaffen, sie rauszuholen aus ihrem Alltagsleben und sie für einen Moment ihre Sorgen vergessen zu lassen, dann hat dieses Musikstück eine Daseinsberechtigung. Ob ich das jetzt persönlich hören würde oder ob ich es gut oder schlecht finde, ist völlig Wurscht.

Alles darüber hinaus ist Geschmack, darüber kann man streiten. Worüber man nicht streiten kann, ist schlecht oder falsch produzierte Musik … schräge Töne oder wenn es mittendrin abgeschnitten ist – das ist dann so, wie wenn jemand ein Buch schreibt, das voller Rechtschreibfehler ist. Aber ansonsten ist alles Geschmackssache und da bin ich echt sehr, sehr liberal. Ich glaube, diese Haltung hat mir geholfen oder möglicherweise überhaupt erst ermöglicht, dass ich da so lange überleben konnte. Ich kann mich daran erinnern, dass Freunden gefragt haben, was ich gerade promote, und dann habe ich dieses oder jenes aufgezählt und sie haben geantwortet: „Um Gottes Willen, wie hältst du das aus?“ (lacht)

Es gibt dieses Stockholm-Syndrom in der Musik, was ich auch in meinem Buch beschreibe, tatsächlich … das ist wirklich so. Ich will jetzt keine Namen nennen, aber ich kann mich an eine Künstlerin erinnern, deren Album ich promoten musste, sollte, durfte. Als ich das Album zum ersten Mal eingelegt hatte, dachte ich: Um Gottes Willen, wie soll ich das drei Monate lang aushalten, das ist grauenhaft! Aber wenn du es oft genug hörst, kommt irgendwann der Moment, in dem du denkst: „Na ja, so schlecht ist es gar nicht“ … und irgendwann erwischst du dich, wie du das Album am Freitagabend mit nach Hause nimmst. Dann weißt du: OK, das Stockholm-Syndrom hat voll zugeschlagen.

„Irgendwie hast du eine andere Illusions-Projektionsfläche gehabt
und die matcht jetzt nicht“

Kommen wir zum anderen extrem: Lieblingskünstler. Du schreibst ja auch über desillusionierende Begegnungen mit Musikern, die einem viel bedeuten, bei denen die Realität gar nicht mit der Erwartungshaltung zusammengeht. Hast du selbst ein Erlebnis gehabt, das dich zu dieser Passage inspiriert hat?
Ja, das persönliche Erlebnis ist tatsächlich auch in dem Buch enthalten, auch wenn ich es extrem überspitzt habe. Ich habe da ja beschrieben, wie Finja als junges Mädchen ein krasser Depeche-Mode-Fan war und das war ich tatsächlich auch. Ich glaube, keiner ist davor gefeit, sich ein Bild von „seinen“ angebeteten Musikern zu machen. Man hat ja eine Illusion, oder eine kleine Leinwand, auf die man Dinge projiziert. Das läuft ganz unbewusst und kann eigentlich immer nur in einer Enttäuschung enden.

So war es bei mir mit Depeche Mode auch: Das sind ganz tolle Jungs, aber ich hatte trotzdem ein anderes Bild von ihnen, als ich sie zum ersten Mal getroffen habe. Das sind halt tatsächlich ganz kleine Männer, genauso groß wie ich, und ich hatte ein anderes Bild im Kopf. Es war jetzt nicht so, dass mir das die Musik kaputt gemacht hätte, aber ich habe schon realisiert: Hey, irgendwie hast du eine andere Illusions-Projektionsfläche gehabt und die matcht jetzt nicht. Es gibt tatsächlich eine ungeschriebene Regel in der Showbranche … Leute, die in der Musikbranche arbeiten als auch im Showbusiness, werden dir das unterschreiben, dass man echt sagt: Wenn du einen Superstar hast, den du wirklich krass anhimmelst, sieh zu, dass du den nie in Persona triffst. Das kann dir alles kaputtmachen.

Hast du diese Regel beherzigt, also gibt es irgendeine Band, von der du dich genau deshalb aktiv bewahrt hast, sie jemals zu treffen?
Nee, ich glaube nicht. Also es gibt immer noch Leute, die ich toll finde, die ich noch nie getroffen habe und es ist auch gut so, dass das so bleibt. Es kann aber auch in die andere Richtung gehen … also man kann ja auch sehr positiv überrascht werden. Aber es ist halt schon so ein kleines Roulette-Spiel.

Was ja auch damit zu tun hat, dass manche Stars abstruse Marotten haben – was du im Buch ja auch thematisierst. Was war das Skurrilste, was du dahingehend erlebt hast?
Also eine skurrile Geschichte, die ich auch in dem Buch verarbeitet habe, ist mein Einstieg bei Mute Records gewesen. Das ist ein kleines Label von Daniel Miller, der Depeche Mode entdeckt hatte, und da waren auch Nick Cave und Goldfrapp, Eurasia … ich war Anfang 20 und ich war gerade drei Tage beim Label oder so und da fand eine Label-Konzertnacht in Berlin statt, bei der fast alle Künstler aufgetreten sind. Meine Aufgabe war es, am Tag der Proben Backstage mit einer Kamera rumzulaufen und ein bisschen zu filmen.

Damals gab es keine Handys oder Digitalkameras, also hatte ich so einen fetten VHS-Schinken auf der Schulter, den ich mit beiden Händen tragen musste. Die Marketingmanagerin nahm mich in die Garderobe von Moby und sagte zu ihm: „Damit du Bescheid weißt, das ist Corie, die läuft hier mit einer Kamera rum – nicht, dass du dich wunderst“. Er würdigte mich keines Blickes, sondern starrte entgeistert auf diese VHS-Kamera … und ich dachte, oh Gott, was guckt er denn so, ich filme noch gar nicht … bis ich realisiert habe: Er starrt nicht auf die Kamera, sondern auf meine Fingernägel! Heute haben ja alle Mädels lange angeklebte Fingernägel, aber vor 20 Jahren hattest du entweder Glück und echt gute Nägel oder du hattest kurze Nägel. Ich hatte richtig lange, rot lackierte Nägel. Dann zog er sich das T-Shirt hoch, drängte mir seine nackte Brust entgegen und forderte „Scratch my breast!“ Ich habe irritiert zur Marketingmanagerin geschaut, und sie zischte nur aus zusammengepressten lächelnden Lippen in meine Richtung: „Mach es einfach!“ So endete mein Einstand oder quasi der Anfang meiner Laufbahn bei Musiklabels damit, dass ich dem halbnackten Moby die Brust kratzen musste, was schon sehr weird war.

„Da sitzen immer noch die gleichen Typen auf den Chefsesseln
und es ist sehr männlich dominiert.

Ja, das kann man so sagen. Aus heutiger Sicht könnte man daran ja schon eine Sexismusfrage aufhängen, was zum nächsten Thema überleitet: Der Sexismus in der ganzen Branche ist ja auch ein Thema, das sich durch das ganze Buch zieht. Ich wollte eigentlich fragen, ob das wirklich so schlimm ist, aber wenn du direkt so eine Geschichte auspackst, wie du als unerfahrene Berufseinsteigerin von deiner Vorgesetzten nicht geschützt, sondern noch gedrängt wirst, dich zu fügen, lautet die Antwort wohl ja. Erzähle doch trotzdem noch ein bisschen etwas dazu, wie du das erlebt hast oder einschätzen würdest!
Die Musikbranche ist, insbesondere hinter den Kulissen, immer noch eine sehr stark von Männern dominierte Branche. Wenn du dir anschaust, welche Leute bei den Major-Labels was zu sagen haben, hat sich in den letzten 20 Jahren nicht viel geändert. Da sitzen immer noch die gleichen Typen auf den Chefsesseln und es ist sehr männlich dominiert. Da passieren dann natürlich auch die entsprechenden Sachen – wie wohl in allen Branchen, die so männlich dominiert sind oder wo sich toxische Männlichkeit über die Jahre so verfestigt hat. Das wird erst jetzt langsam und stetig aufgebrochen … gerade durch junge Mädels, aber auch junge Männer, die in die Branche nachdrängen, die einfach anders aufgewachsen sind. Die haben eine andere Perspektive und auch einen anderen Mut, zu sagen: „Ey, was geht jetzt ab?“ Ich hatte diesen Mut damals nicht, beziehungsweise habe ich damals noch gar nicht realisiert, dass das eigentlich gar nicht geht, was da gerade passiert. Ich fand es einfach nur weird und cringe und peinlich. Aber heute ist halt eine andere Zeit und da verändert sich durch die nachdrängenden jungen Menschen auch einiges. Aber die Chefetagen sind noch relativ ähnlich besetzt.

Es ist erfreulich, wenn sich das wandelt – trotzdem finde ich es erstaunlich, dass es in der ganzen deutschen Medienbranche bislang keine echte Me-Too-Bewegung gab – sei das jetzt im TV-Sektor oder in der Musik. Gibt es da wirklich keine Fälle, oder kommt das noch?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es die Fälle nicht gibt. Ich habe in meiner Zeit in der Branche auch selbst Fälle erlebt, die aber in eine Kategorie fallen wie diese Moby-Geschichte. Es gibt noch einen anderen Vorfall, den ich auch in dem Buch beschreibe: Wo Finja reflektiert, was ihr mal passiert ist. Das ist die Geschichte, wo sie in einem Meetingraum sitzt und ihr Vorgesetzter kommt zu spät rein und legt dann das Handy auf ihr Handy und bewegt es so hin und her und guckt dann rüber. Das ist mir tatsächlich genau so passiert. Das sind halt so grenzwertige Aktionen … w
as ist es jetzt genau gewesen? Ist es jetzt ein Witz, der falsch verstanden wird oder ist es mehr? Wo ordnet man das ein und was macht man eigentlich in so einer Position, wenn man abhängig ist von einem Vorgesetzten und ja auch weiterkommen will – macht man da jetzt einen Elefanten aus so einem Ding, oder sagt man: Na ja, das ist ein Idiot, ich halte mich von dem fern und solange es nicht übergriffiger wird, komme ich damit zurecht? Es ist ein schmaler Grat. Schlimmere Dinge sind mir nicht passiert, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass da nicht Sachen passiert sind und auch immer noch passieren. Die Gründe dafür, dass Leute sich vielleicht nicht trauen, sind natürlich die gleichen, die immer am Start sind … es ist genau diese Überlegung, wie ich sie gerade beschrieben habe: Wie schlimm ist es, wie doll war es, ist es jetzt das oder das, wo ordne ich das ein und was bedeutet das für mich, weil ich ja auch weiterkommen will.

„Das ist genau diese Stardom-Fan-Illusion,
die ich sehr schwierig finde

Im Buch kommt es ja tatsächlich fast noch zu einer Vergewaltigung, und dieser Machtmissbrauch von Leuten, die in Positionen sind, von denen junge Künstler:innen abhängig sind, ist ja leider sehr realistisch. Gerade im Hinblick auf Machtmissbrauch kam ja mit dem Rammstein-Skandal letztes Jahr doch noch etwas auf. Wie hast du den ganzen Skandal erlebt? Hat es dich überrascht?
Es hat mich nicht überrascht. Wobei ich jetzt keine Insiderin von Rammstein bin, ich wusste nichts davon. Aber es hat mich nicht überrascht. Ich glaube diesen Frauen und diesen Mädels, ich bin 100 Prozent der Überzeugung, dass das, was sie beschreiben, so passiert ist. Ich habe das nicht ganz in die Tiefe weiterverfolgt, aber soweit ich informiert bin, ist das trotzdem gerichtlich nicht weiterverfolgt worden beziehungsweise fallen gelassen worden. Das finde ich schade. Was ich außerdem so mitfühle ist … bei dieser Geschichte siehst du sehr sehr deutlich, wie Fans ein Bild von ihrer Band oder von Till haben und nichts auf dieses Bild kommen lassen, sondern ihre Blase so weiter erhalten wollen. Das geht soweit, dass sie dann tatsächlich gegen die Opfer angehen oder so … das finde ich sehr, sehr kritisch. Aber das ist genau diese Stardom-Fan-Illusion, die ich sehr schwierig finde und über die ich ja auch in dem Buch schreibe.

Das war auch das, was mich an der ganzen Sache mit am meisten schockiert hat – die Art und Weise, in der Opfer oder zumindest Frauen, die Vorwürfe geäußert haben, angegangen wurden – und auch Journalisten. Aber es muss ja auch viel weggeschaut worden sein in der Branche: Dass du dir unter der Bühne eine „Suckbox“ einbauen lässt, ohne dass das die ganze Crew mitbekommt, halte ich für unmöglich …
Nein, sorry, also da bin ich 100 Prozent sicher, dass viele Leute davon wussten. Das ist im Prinzip genau das Gleiche, was mit Michael Jackson war, weißt du? Da ist eine Entourage von Leuten um einen Star, die von Dingen wissen, die überhaupt nicht in Ordnung sind. Aber die Profitgier ist so stark, dass man diesen Star – Michael Jackson oder … da kannst du ein diverse Namen einsetzen – weiterhin so erhalten will und dem das so durchgehen lässt und ihm da die Wege baut, das zu leben. Dass man da echt über Leichen geht, finde ich ganz, ganz, ganz kritisch.

Zumindest hat Universal das Lindemann-Solo-Album dann nicht rausgebracht. Aber wie dauerhaft schätzt du jetzt so eine Distanzierung eines Labels von einer Cash-Cow wie Rammstein ein?
Das weiß ich nicht, das kann ich dir nicht sagen.

Was sagt dein Bauchgefühl? Wie tickt die Branche in so einem Fall?
Es ist immer schwierig, die Branche als eine Figur hinzustellen. Letzten Endes besteht die Branche aus verschiedensten Menschen. Es gibt wirklich Leute wie Finja, deren Herz für die Musik schlägt, die das Herz auch am rechten Fleck haben … auch wenn bei Finja viele Dinge auf der Strecke geblieben sind und die auch ein bisschen durchgedreht ist und so weiter. Aber im Endeffekt hat sie das Herz am rechten Fleck und würde bei einem Künstler sogar noch ihr Privatgeld draufzahlen, um eine echt gute Platte zu bekommen. Diese Leute gibt es. Aber es gibt eben auch wirklich das andere Extrem, Leute wie so einen Hannes [Charakter aus „Die Plattenbossin“, A.d.Red.] … und für so ein Hannes zählen nur Verkaufszahlen, Streaming-Hits, Klickzahlen, Charterfolge. Da ist der Mensch total egal. Diesen Personen unterstelle ich, dass ihnen irgendwelche Opfer von einem Till Lindemann, oder Opfer von einem Michael Jackson relativ Wurscht sind. Wenn die Cash-Cow dann wieder Geld abwerfen soll, sind die als Erste wieder am Start. In so einer Branche gibt es viele Konflikte zwischen diesen Fronten, die ich jetzt auch sehr schwarz-weiß gemalt habe. Dazwischen gibt es ja auch Grautöne. Es ist eben nur die Frage, wer sich durchsetzt.

„Was finden wir eigentlich ‚entertaining‘?“

Zumindest kommerziell scheint es Rammstein ja nicht im Geringsten geschadet zu haben, die Verkaufszahlen sind sogar in die Höhe geschnellt. Ich hätte tatsächlich gedacht oder zumindest gehofft, dass der Großteil der Menschen dann eher schockiert Abstand nimmt – und eigentlich war das Gegenteil der Fall. Hat dich das gewundert?
Das ist fast schon so ein philosophisches Thema, in das wir jetzt hineingeraten. Im Endeffekt sollte man da mal so eine Grundfrage an uns Menschen stellen: Was finden wir eigentlich „entertaining“? Im alten Rom fanden wir Menschen es unterhaltsam, irgendwelche armen Gefangenen ins Kolosseum zu stellen und vor unseren Augen abschlachten zu lassen. Im Endeffekt haben wir uns leider nicht viel weiterentwickelt. Du musst nur mal das Fernsehprogramm anschalten, RTL 2 oder whatever, wo Menschen nackig gemacht, ausgelacht, fertig gemacht werden … genauso auf Social Media. Wir finden solche Scheiße scheinbar „entertaining“: andere fertig machen. Wir sind vom Entertainment-Faktor dann alle doch nicht so reine weiße Herzen, die für unsere Ideale einstehen und sagen würden: „Ey, so eine Platte kaufe ich nicht mehr“, oder: „Da gehe ich nicht mehr zur Tour“. Sondern eher: „Mensch, da ist was los, da wird die Kuh durchs Dorf getrieben, da will ich auch dabei sein!“ Das ist vielleicht ein bisschen wie bei einem Autounfall, wo dann die Gaffer daneben stehen und ihr Foto-Handy rausholen.

Leider trifft es dieses Beispiel wohl sehr gut. Lass uns noch ein bisschen über die Branche und auch über dein Buch sprechen: Du hast an einer Stelle auch geschrieben, an der es um den neuen Mitarbeiter geht, dass er irgendwann merken wird, dass er mit vier Stunden Schlaf pro Nacht keine 90 Stundenwoche durchstehen wird. Das klingt auch nach einem sehr realen Konflikt. Wie hast du das erlebt?
Also ich habe das tatsächlich so erlebt, dass die Arbeitszeiten wirklich brutal sind … immer so ein bisschen unter dem Deckmantel „Wir sind alle Freunde und wir haben hier alle Spaß miteinander“ und so weiter. Aber ich habe am eigenen Leib erlebt, dass ich mich mal um halb sieben oder so mit einer Yogamatte unterm Arm aus dem Office stehlen wollte und meine Kollegen echt gesagt haben: „Wir wussten gar nicht, dass du halbtags arbeitest!“. Für einen jungen Menschen ist das alles unheimlich aufregend und toll und da verschwimmen die Grenzen zwischen beruflichem und Privatleben auch total: Du bist so viel mit den Kollegen zusammen, dass es am Ende des Tages dann auch deine Freunde werden. Du hast eigentlich fast nur noch diese Kontakte und du hältst dich außerhalb der Büroarbeitszeiten dann tatsächlich auch auf Konzerten, Studio-Listening-Sessions, Partys, Galas, Events und so weiter auf.

Das ist alles ganz toll, aber im Endeffekt, wenn du dir das genau anguckst, ist es ja auch Arbeit. Also bist du eigentlich die ganze Zeit auf Arbeit. Und es geht auch nicht, dass du nicht immer auf dem Konzert oder auf der Studio-Session erscheinst … dann sagt dir nach dreimal Nichterscheinen der Chef, und auch das ist mir passiert: „Ey, du kannst dich hier nicht entziehen und nicht auftauchen, das geht nicht, du musst hier auch Präsenz zeigen!“ Und wenn du das zusammenrechnest, da kommt dann schon eine ganz schöne Wochenstundenzahl raus.

„Ich rate den jungen Mädels: Bildet Vetterinnenwirtschaften!“

Das glaube ich gerne. Würdest du trotzdem sagen, dass es ein Traumjob ist? Oder bist du nach der Zeit und in Anbetracht all der Dinge, die wir jetzt besprochen haben, so desillusioniert, dass du niemandem guten Gewissens raten könntest, in diese Branche zu gehen?
Also ich persönlich würde es nicht wieder tun. Das liegt aber auch daran, dass ich mich mit dem, was ich jetzt mache, sehr wohl fühle und dass ich mir unter anderem nicht mehr vorstellen kann, in einem Angestelltenverhältnis zu arbeiten. Aber jungen Menschen würde ich auf jeden Fall raten: Geht da rein! All ihr jungen, coolen Menschen … geht genau in diese Branchen, die frischen Wind brauchen! Wie soll sich sonst was verändern? Im Endeffekt ist ja das Medium, mit dem die Branche zu tun hat – Musik! –, wirklich was ganz Tolles und etwas, was viele Menschen berührt und das viele Menschen lieben. Und dieses Medium, diese Kunst braucht gute, neue Leute! Deswegen: Geht da rein, verändert was! Gerade den jungen Mädels rate ich: Geh mit deiner ganzen Bandbreite da rein! Ich bin fest davon überzeugt, dass wir als Menschen immer beide Energien in uns vereinen – einmal diese männliche Energie, die ganz straight und aktiv vorwärts geht, aber eben auch die weibliche Energie. Und von der braucht es in der Branche was – dieses Verbindende, dieses Kommunikative, dieses eher Breite. Ich rate den jungen Mädels: Bildet Vetterinnenwirtschaften! Denn die Jungs machen das schon seit hunderten von Jahren und fahren sehr gut damit. Da können wir echt nachziehen und uns was abgucken.

Das klingt auf jeden Fall nach einem flammenden und dann auch ernst gemeinten Appell, das kann man so glaube ich nur stehen lassen. Du bist aber trotzdem raus aus der Branche. In deinem Steckbrief im Buch steht, dass du jetzt im Camper lebst und durch Europa reist. Wie genau darf man sich das vorstellen?
Das kannst du dir wirklich genau so vorstellen. Ich habe meine Kreuzberger Wohnung untervermietet und bin mit meinem Mann in einen Camper gezogen, in dem wir tatsächlich leben und mit dem wir durch Europa fahren. Das ist eine der wenigen Sachen, die Corona gebracht hat, die wirklich positiv sind. Ich meine, auch wir beide treffen uns jetzt am Computer. Es ist etabliert und gelernt und möglich, nur mit einem Internetanschluss und einem Computer zu arbeiten. Warum soll der Computer dann nicht in Portugal am Strand stehen?

„Hätte ich das mit einem Verlag gemacht,
wäre 100-prozentig ein Rotstift angesetzt worden“

Auch sonst bist du sehr selbstständig – du hast dein Buch im Selbstverlag rausgebracht, was ja schon auch ein großer Kraftaufwand ist. Wie schwierig war es für dich, diesen Debüt-Roman so umzusetzen?
Also aus inhaltlicher Sicht bin ich froh, dass ich es im Selbstverlag gemacht habe. Es gab Vorgespräche mit Leuten, die interessiert waren, die aber sehr, sehr vorsichtig waren und nicht so ganz mutig. Hätte ich das mit einem Verlag gemacht, wäre 100-prozentig ein Rotstift angesetzt worden, der die Spitzen und Schrägen und skurrilen Passagen eventuell etwas weichgespült hätte. Und da hatte ich keine Lust drauf. Deswegen finde ich, ist es gut, dass ich das so gemacht habe. Was ich nicht erwartet hätte, ist, wie viel Scheißarbeit das ist … jenseits des Schreibens. Das ganze Marketing frisst so viel Zeit und ist so viel Arbeit, dass ich mir für einen Fortsetzungsband wünschen würde, mit einem Verlag zusammenzuarbeiten, der sagt: Genau diese Arbeit nehmen wir dir ab. Ich habe ja jetzt unter Beweis gestellt, dass es funktioniert. Also gerade auch dieses Schräge, Skurrile und auch Kritische … dass man das so machen kann. Für Band zwei hätte ich echt Bock, mich mehr aufs Kreative und aufs Schreiben zu konzentrieren, anstatt auf die Vertriebs- und Marketingarbeit.

Ich verstehe. Aber das heißt, ein zweiter Teil ist geplant?
Unbedingt! Band 1 endet ja schon mit so einem ganz kleinen Cliffhanger, sage ich mal. Und da würde Band 2 genau weitergehen.

Wunderbar – dafür viel Erfolg beim Schreiben, und jetzt erstmal noch einen schönen Tag dir!
Danke für die Zeit und mach’s gut. Ciao!

Publiziert am von

Dieses Interview wurde per Telefon/Videocall geführt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert